Black Pearl
Mitglied
Black Pearl – Königin der Nacht
Ein dunkler Ort. Eine dunkle Nacht.
Das Blut rast durch meine Adern wie ein Sturm.
Perlt von meinen Lippen wie dunkle Regentropfen.
Sammelt sich in der Kuhle meines Halses.
Explodiert hinter meinen Augen.
Es regnet. Es brennt.
Liebe erhellt die Nacht, zuckende Blitze am Himmel, zuckende Blitze auf meiner Haut.
Es regnet. Es brennt.
Meine Augen sind dunkel, glänzende Opale in einer regnerischen Nacht.
Black Pearl.
Mein Name ist Black Pearl.
I. Black Pearl
Dunkle Tropfen explodierten auf dem regennassen Asphalt. Rannen ineinander. Bildeten eine Form. Niemand bemerkte sie. Passanten beugten ihr Haupt tief unter Schirme und Kapuzen, während sie schutzsuchend an ihr vorbeihasteten, in Hauseingänge sprangen, unter Vordächer und Markisen flüchteten.
Der Platzregen war völlig überraschend über sie gekommen. Aus heiterem Himmel – wenn es Tag wäre. Aber es war Nacht. Genaugenommen Mitternacht. Eine dieser schwülen Nächte in Dark Town, wie es sie im Hochsommer häufig gab. Der Regen könnte ein Segen sein, würde er erfrischen. Doch er war heiß und klebrig wie Teer.
Die meisten Menschen wussten das, mit Glück nicht aus eigener Erfahrung. Niemand reckte ihm sein Gesicht entgegen - und sie war dankbar dafür. Dankbar – nein, das war das falsche Wort. Aber es vereinfachte das Leben in Dark Town enorm.
Man hatte sich daran gewöhnt. Es aufgegeben, nach der Ursache zu forschen. Sich damit arrangiert. Die Markisen waren nicht etwa aus Schutz vor der Sonne angebracht worden, nein, aus Schutz vor dem Regen. Diesem speziellen Regen.
Der der Stadt den neuen Namen eingebracht hatte.
Der schlichte Urlaubstouristen fernhielt und neugierige Forscher und sonstige Fremde, die das Ungewöhnliche faszinierte, anzog.
Doch das Gesicht reckten auch diese dem Regen in Dark Town nur einmal entgegen. Mit Glück überlebten sie es.
Der Platzregen kam überraschend, man wusste nie, an welchem Tag – besser, in welcher Nacht er kam - in diesem Sinne war er überraschend. Doch man wusste, wenn er kam, dann um Mitternacht herum. Pullover, Jacken und Mäntel mit Kapuzen, sogar T-Shirts mit Kapuze waren in den letzten Jahren nicht nur ein Modetrend, sondern zur unabdingbaren Grundausstattung in Dark Town geworden, wenn man nachts das Haus verließ. Dasselbe galt für Regenschirme.
Sie schniefte laut durch die Nase und wischte sich quer über die Augen. Sie betrachtete das dunkle Zeug an ihren Fingerspitzen, es glänzte wie flüssiger Opal. Nur eine Nuance dunkler als ihr schwarzer Lederhandschuh. Hob sich kaum ab. Aber sie sah es im Licht der Laterne, an die sie sich immer noch mit einer Hand klammerte. Das Zittern hörte langsam auf. Sie bemühte sich, ruhig und entspannt zu atmen.
Der Platzregen verwandelte sich langsam in ein feines Nieseln. Sie richtete sich vorsichtig auf.
Im gleichen Moment stieß ein vorbei eilender Mann sie heftig an, sie verlor das Gleichgewicht und fiel auf die Knie. Kein Schmerz.
„Oh, entschuldigen Sss...“ Sie sah zu ihm hoch. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen.
Dunkle – SIEH NICHT HIN, VERDAMMT !! Der Mund! Schau auf seinen Mund!! Sein aufgerissener Mund entblößte schöne weiße Zähne... Weiße Zähne... Weiß... Ja. Konzentrier dich auf die Zähne. Schau ihm nicht in die Augen. Sammle Kraft. Jetzt schau auf seine Schuhe. Los. Konzentrier dich. Schau – auf – seine – Schuhe! Du schaffst es! Sie hörte ihre Halswirbel laut knacken, als sie angestrengt den Kopf senkte.
Laut schlugen Zähne aufeinander, sie spürte den Luftzug, hörte das platschende Trommeln von Absätzen auf dem nassen Asphalt, als er sich abrupt umdrehte und weglief. Sie wartete mit zusammen gekniffenen Augen bis sie ihn nicht mehr hören konnte. Es schien eine Ewigkeit zu dauern. Sie zählte rückwärts von Tausend herunter, hielt ihren Geist leer. Nicht denken. Nicht denken. Nur zählen. Zählen.
Sechshundertvierunddreißig, sechshundertdreiunddreißig, sechshundertzweiunddreißig... Stille. Nunja, nicht wirklich. Aber er war außer Hörweite. Sie atmete erleichtert auf. Auch der Regen hatte völlig aufgehört. Noch einmal gut gegangen. Hätte auch anders ausgehen können. Verdammte Reflexe! Normalerweise hatte sie es gut unter Kontrolle. Doch ein Moment der Unaufmerksamkeit... Sie musste noch mehr aufpassen. Aber niemand ist perfekt, oder?
Doch sie arbeitete daran... Sie war noch jung.
Niemand hatte sie darauf vorbereitet.
Und auf diese Art Folgen schon gar nicht. Aber sie lernte schnell. Sie hatte sich schon immer gut anpassen können. Und Anpassungsfähigkeit war bei dieser Art Veränderung dringend vonnöten gewesen – mehr als alles andere.
„Du stirbst, wenn du dich dagegen wehrst. Lass es geschehen.“ Eine tiefe, sonore Stimme. Das erste, was sie danach wahrgenommen hatte. Seitdem hörte sie sie jeden Tag. Jeden Tag... Sie hatte sich gewehrt, anfangs.
Doch ihr Überlebensinstinkt war stärker als die Panik in ihrem Kopf gewesen. Dazu dann diese Stimme - in einem Moment des Aufgebens, einem Moment der Stille. Mit einem Schlag wurde sie völlig entspannt. Ließ es geschehen. Fühlte, wie es mit dumpfem Pochen durch ihre Adern kroch, sich in jede Faser ihres Körpers ausbreitete. Zärtlich knisternd in ihre Haare fuhr. Für einen kurzen Moment fühlte sie nichts. Dann Kälte. Unglaubliche Kälte. Sie krampfte sich mit einem einzigen lautlosen Schrei zusammen – dann fiel sie. Raste der Schwärze entgegen durch einen blitzenden Wirbel weißer Funken. Hart wölbte sich die Finsternis ihr entgegen, ein glänzender schwarzer Opal. So glatt, dass sich ihre Augen darin spiegelten, die immer größer wurden, je mehr sie auf ihn zu raste, riesige, tiefschwarze Pupillen, in denen stummes Entsetzten stand... sie fiel in sie hinein, kein Widerstand. Kein Schmerz. Nichts.
Als sie erwachte, hörte sie jemanden laut schluchzen, sah verschwommen ein bleiches, schmales Gesicht über sich – dann registrierte sie, dass sie selbst es war, die so schluchzte. Sie wurde von heftigen Weinkrämpfen geschüttelt, die kein Ende nehmen wollten. Traurigkeit. Tiefe, entsetzliche Traurigkeit, wie sie sie noch nie in ihrem Leben empfunden hatte. Einfach so. Ohne Grund. In ihrem Kopf war nichts außer – Finsternis.
Doch ihr Herz schien zu bersten vor Traurigkeit, es tat weh. Schrecklich weh. Der Schmerz entlud sich in heftigen Schluchzern, der Druck auf ihre Augen war fast unerträglich. Sie blinzelte und blinzelte, doch es nutzte nichts, immer wieder schossen ihr die Tränen explosionsartig in die Augen. Dann irgendwann hörte es plötzlich auf. Sie fühlte – nichts. Ihr Körper entspannte sich, ein Seufzen entfuhr ihren Lippen, das sie hörte, aber nicht spürte.
Ruhig starrte sie in das Gesicht über ihr. Dunkle Augen blickten nachdenklich auf sie hinab.
„Merkwürdig. Sehr merkwürdig“, murmelten die schmalen, schön geschwungenen Lippen.
Dann drehte er sich um und ging. Sie folgte ihm mit den Augen. Groß. Sehniger, schlanker Körper. Breiter Rücken, auf den lang und glatt pechschwarzes Haar niederfiel. Schlanke Finger. Sie mochte schlanke Finger. Der Gedanke löste kein Gefühl in ihr aus. Dann schloss sich die Tür leise hinter ihm.
Sie stützte sich auf die Ellenbogen und sah sich um. Aus dem dämmrigen Mondlicht schälten sich ein Schrank, Zweitürer, ein kleiner, viereckiger Holztisch mit einem wackligen Bein, ein schlichter Stuhl, ein alter Holzfußboden, mit Ochsenblut lackiert, eine nackte, kaputte Glühbirne hing von der Decke, die rissige Sprünge aufwies aus denen der Putz rieselte, Spinnweben in den Ecken, die dazu gehörige Spinne krabbelte laut trippelnd über die schimmlige Tapete, ein Fenster mit Isolierglas, an dem von außen Regentropfen verdunsteten, schmierige dunkle Schlieren hinterlassend - der Regen musste erst vor kurzem aufgehört haben - modriger Fensterrahmen, verrosteter Drehknauf, verschlossen, keine Gardinen. Die Tür aus verwittertem Holz, abgeschlossen, verrostete Metallklinke, neue Lippendichtung aus schwarzem Gummi, neues Schloss alter Bauart, der Schlüssel steckte von außen.
Ihr Blick flog auf ihre Hand- und Fußgelenke, die Handgelenke waren mit schwarzem Gafaband eng an ihren eigenen Ledergürtel gefesselt, die Fußgelenke mit dem gleichen Gafaband aneinandergebunden, aber nicht an den metallenen Stäben vom Rahmen des Bettes befestigt, auf dem sie lag, eine alte Schaumgummi-Matratze ohne Laken unter sich, die die verschiedensten Flecken von Flüssigkeiten zierte, die sie in den letzten Jahren in sich hatte aufnehmen müssen.
Sie zog die Beine ruckartig an und streckte sie kraftvoll, das Gafaband riss mit lautem Knall. Dann spannte sie ihre Arme an und riss sie heftig auseinander, rechts riss das Band, links peitschte die Hand zusammen mit dem Gürtel zur Seite, ihr Körper flog dabei in einer Rechtsdrehung herum, so dass sie nun fast auf dem Bauch lag. Sie drehte sich blitzartig wieder um und sprang vom quietschenden Bett auf, mit einem schmatzenden Knall fuhr der Gürtel mit der kaputten Schnalle nun vollends aus ihrem Hosenbund. Mit schräg gelegtem Kopf betrachtete sie ruhig, wie er von ihrem Handgelenk baumelte. Dann riss sie ihn mit einem Ruck ab und nahm ihn wie eine Peitsche in die rechte Hand.
Geräuschlos schlich sie zur Tür. Horchte. Nichts. Zumindest nichts im Haus außer knackendem Holz, das sich aufgrund der Feuchtigkeit verzog. Und einer Maus im Keller. Ihr Blick flog kurz zum Fenster. Dritter Stock. Ein Betrunkener torkelte den Bürgersteig entlang in ihre Richtung, älterer Herr. Sie ließ den Gürtel fallen. Wartete. Horchte. Nichts.
Sie beugte sich zum Schloss hinunter und blies einmal kräftig ins Schlüsselloch. Der Schlüssel fiel laut klirrend zu Boden. Sie horchte wieder. Nichts. Sie zog aus ihrer hinteren Hosentasche ihren Personalausweis. Etwas verbogen. Sie bog ihn in die andere Richtung, bis er halbwegs gerade war. Kurz verharrte ihr Blick auf ihm.
Ein langhaariges blondes Mädchen mit schmalen blauen Augen lächelte sie schief an. Vanessa Müller, las sie. So heiße ich, erinnerte sie sich.
Sie blickte auf die Haarsträhnen, die ihr ins Gesicht hingen. Lang und – schwarz. Sie konnte sich nicht erinnern, ihr Haar gefärbt zu haben. Seltsam. Sonst schien alles wie immer. Sie hatte noch dieselben Klamotten an. Nur ihr schwarzer Ledermantel fehlte.
War sie überfallen worden? Von dem Typen, der sie anscheinend gefesselt und eingeschlossen hatte? Sie war unverletzt, das wusste sie. Höchstens ein paar Druckstellen unter dem restlichen Gafaband, die aber nicht schmerzten. Sie erinnerte sich, ihren Geldbeutel in der rechten Manteltasche gehabt zu haben. Viel Geld dürfte nicht mehr darin gewesen sein. Dürfte sich nicht für ihn gelohnt haben. Und der Ledermantel dürfte ihm kaum passen. Was hatte er also gewollt? Vergewaltigung? Nein. Er hatte sie nicht angerührt, nicht sexuell. Das wusste sie.
Wieso eigentlich nicht? Sie wusste, dass sie attraktiv war. Verdammt attraktiv sogar. Sie fühlte fast so etwas wie – verletzte Eitelkeit. Seltsam. Ein fremdes Gefühl – und vertraut zugleich.
Sie sah sein Gesicht wieder vor sich. Feine, aber doch markante Züge, aristokratisch. Tiefdunkle Augen, die eine ungewöhnlich gelassene Stärke ausstrahlten. Helle, zarte Haut, auf die so manche Frau neidisch wäre, von den langen schwarzen Wimpern, die die Augen sanft beschatteten, und dem pechschwarzen langen Haar ganz zu schweigen. Länger als ihres. Sie fühlte – Faszination. Erregende Anziehungskraft.
Sie sah seinen sehnigen, starken Körper vor sich, sah sich seine schlanke Taille umfassen, ihn begehrlich an sich ziehen, während sie in seinen magnetischen Augen versank, die ihr plötzlich vertraut vorkamen, sah, wie ihre bebenden Lippen sich seinen näherten, während seine schlanken Finger ihr zärtlich durch das dunkle Haar strichen und er sie fest mit der anderen Hand an seine harte Brust drückte – Worauf wartest du dann noch? hörte sie ihn sagen.
Das Bild verlosch. Sie hielt immer noch den Personalausweis in ihrer Hand. „Ich komme“, flüsterte sie.
Sie schob den Ausweis langsam unter der Tür durch, bis er gegen den Schlüssel stieß. Mit einem leichten Ruck schob sie ihn unter den Schlüssel und zog ihn langsam zu sich heran. Am Gewicht merkte sie, dass er unter der Tür durch passen würde. Sie horchte noch einmal, als sie ihn bereits in der Hand hatte. Immer noch Stille. Sie schloss auf und öffnete die Tür. Eine Treppe führte nach unten. Und weiter nach oben. Ruhig stieg sie hinauf ins Dachgeschoss. Die Wohnungstür stand sperrangelweit offen. Sie trat hinein.
Die Wohnung war noch im Rohbauzustand, ein einziger Schutthaufen. Der Besitzer schien seit Jahren nichts an diesem Zustand geändert zu haben. Sie öffnete eines der immerhin vorhandenen Fenster und stieg hindurch aufs Dach.
Ein großer, heller Vollmond stand am sternklaren Nachthimmel, davor eine dunkle Silhouette, seine Silhouette. Sein langes Haar wehte im Wind. Wieder verspürte sie – Erregung. Starke Erregung. Fast wie in Trance schritt sie auf ihn zu. Er kam ihr lächelnd entgegen.
„Den ersten, zugegebenermaßen leichten Test hast du bestanden. Willkommen, Königin der Nacht.“
Er breitete die Arme aus. Das Mondlicht fiel jetzt auf sein schönes Gesicht. Die dunklen Augen sprühten rote Funken. Sie registrierte, auch er war erregt. Einen halben Meter voneinander entfernt blieben sie stehen.
Er trug ihren Mantel auf seinem Arm, breitete ihn auf einer flachen Stelle des Daches aus, ohne den Blick von ihr zu wenden. Wie gebannt starrte sie in seine Augen. Sie glühten förmlich vor Erregung. Die Luft um sie herum knisterte elektrisiert.
Langsam richtete er sich wieder auf. Sie trat ganz dicht an ihn heran. Millimeter trennten ihre Gesichter von einander. Langsam hob sie ihre Hände zu seiner Taille. Ganz langsam. Seine Augen brannten tiefrot. Sie wusste, dass auch er seine Hände langsam nach ihr ausstreckte. Wusste, dass eine Hand sie um ihre Taille greifen würde, während die andere sich ihrem Gesicht näherte.
Langsam umfassten sie sich, eine heiße Welle durchschoss ihren Körper, als seine Hand sie berührte, ihre Lippen bebten, immer noch wenige Millimeter von den seinen entfernt. Sanft zogen sie sich an sich, beiden entfuhr ein raues, tierisches Stöhnen, als ihre Körper sich berührten, der Stoff zerfiel über der brennenden Haut zu feiner Asche, verflog im Wind. Ihre Wange glühte auf, als seine Fingerspitzen sie berührten, ihr zärtlich ein paar Strähnen hinter das Ohr strichen.
Sie fuhr sich mit der Zunge erregt über die Lippen, schloss die Augen, als seine Finger langsam in ihren Nacken fuhren und er sie unendlich sanft an seine Lippen hob. Der erste Kuss war zart, doch sie durchfuhr es wie ein Blitz bis ins Mark, rotes Feuer glühte hinter ihren Augen auf, dann pressten sie sich heftig aneinander und küssten sich mit explodierender Leidenschaft, tranken voneinander, sie schmeckte metallisches Blut auf ihren Lippen, auf ihrer Zunge, seiner Zunge, die sich gierig um ihre schlang wie die ihre um seine, sie sanken auf dem weichen Leder in die Knie. Wild riss er ihr mit seinen Zähnen das verbliebene Gafaband von den Handgelenken, das rasende Blut hämmerte überlaut in ihren Ohren.
Ein rötliches Flimmern umgab sie, von beiden unbemerkt - sie wurden durchzuckt von wahren Stichflammen, während dunkles Blut auf dem Leder gerann.
Ihr wurde schwarz vor Augen. Sie raste wieder auf den dunkel glänzenden Opal zu, fiel durch ihre – nein, durch seine riesigen Pupillen, die kurz vor ihrem Fall durch sie hindurch blutrot aufleuchteten, sie fühlte versengenden Schmerz und - unglaubliche Ekstase. Meine Königin... flüsterte er. Dann Finsternis.
Als sie die Augen aufschlug, war er fort.
Sie richtete sich langsam auf. Sie registrierte, sie war nicht mehr auf dem Dach. Sie war im Keller. Sie erkannte das Trippeln der Maus. Sie kam schnuppernd näher. Sie schaute der Maus in die Augen. Die Maus wurde starr. Ihr Blick wanderte zu ihren kleinen zitternden Ohren, hauchdünn, von feinen Blutäderchen durchzogen... Etwas regte sich in ihr. Doch auch die Maus regte sich und flitzte kläglich fiepsend davon. Und irgendetwas in ihr erstarb wieder.
Sie wusste nicht, ob Tag oder Nacht war, es war schummrig in dem großen Kellerraum, keine Fenster, das einzige Licht kam von einer großen rote Kerze in einer Ecke, deren Flamme einen riesigen zuckenden Schatten von ihr an die Wand warf. Sie lag auf weicher Wolle. Darunter Beton. Sie hatte ihren Ledermantel an, darunter – nichts. In der rechten Ecke des Kellerraums lagen ihre schwarzen Lederstiefel. Sie erinnerte sich. Asche, vom Winde verweht.
Seltsam. Sie empfand nichts. Sie erinnerte sich an alles. Doch nichts regte sich in ihr.
Etwas zittrig kramte sie in ihrer Manteltasche.
Der Geldbeutel war noch da. Sie schüttelte ihn schwach. Hörte die klimpernden Münzen. Gut, ihr war auch so klar, dass er kein kleiner Taschendieb war. Er wollte etwas anderes als Geld. Er wollte sie. Er war auch nicht nur auf Sex aus. Soviel war auch klar. Das war kein üblicher Sex gewesen. Das war – sie wusste es nicht. Konnte es nicht einordnen. Es war – seltsam.
Seltsamer Fremdling... Was willst du? Ich werde es herausfinden.
Sie kramte wieder in ihrer Tasche. Schlüssel, Kippen. Alles noch da. Sie zog die Schachtel heraus, ziemlich zerdrückt. Vorsichtig nestelte sie eine Zigarette heraus, strich sie glatt. Suchte nach dem Feuerzeug. Fand es. Zündete sich die Zigarette an und inhalierte tief. Nichts. Ihre Lungen fühlten nichts. Kein Ziehen. Sie sah den Rauch, den sie auspustete, schmeckte ihn, sogar stärker als sonst – aber kein Ziehen. Nicht, dass das zu beklagen wäre. Aber interessant, festzustellen.
Ebenso interessant, sie fühlte auch keine Befriedigung, während sie den Rauch ausstieß. Sie betrachtete den Rauch, der sich langsam von der Zigarette hinaufschwang, in grazilen Spiralen sich von der Luft tragen ließ. Dann fiel ihr Blick auf ihr Handgelenk. Keine Druckstellen. Keine blauen Flecken oder Aufschürfungen. Aber mehrere kleine gleichförmige Punkte, dunkel wie Sommersprossen. Dasselbe am anderen Handgelenk. Und ihr Haar war immer noch schwarz. Und immer noch wusste sie nicht, warum.
Sie drückte die Zigarette aus und knöpfte umständlich den Mantel zu, ihre Finger zitterten immer noch. Nicht das sie fror. Sie schloss den Mantel nur, weil sie nicht wollte, dass er sie halb nackt vorfand, wenn er zurück kam. Immerhin war er doch trotz allem ein Fremder. Und Fremden begegnete man nicht nackt. Vor allem, wenn sie nicht neben einem lagen, wenn man wach wurde. Soviel wusste sie. Aber würde er zurückkommen? Meine Königin...
Er würde zurückkommen. Es war nur die Frage, wann. Und was sie bis dahin tat. Sie stand auf – und fiel auf die Knie. Es tat nicht weh. Aber sie kam nicht hoch. Zumindest nicht so. Sie kroch langsam zur Wand. Zog sich mühsam an einem Rohr hoch. Tastete sich schwankend an der Wand entlang bis zur Tür. Stahl. Dick. Von außen verschlossen mit einem Riegel. Rostig. Aber hart. Zu hart für sie. Zumindest in ihrem jetzigen Zustand.
Was hast du mit mir gemacht, seltsamer Fremdling? Warum sperrst du mich ein? Behandelt man so eine Königin?
Sie sank an der Tür herunter. Kroch langsam zurück zu der weichen, dunklen Decke, auf die er sie gebettet hatte. Streckte sich aus. Und wartete.
Der schwarze Opal wölbte sich ihr entgegen. Sie fiel hindurch. Schluchzen. Sie weinte hemmungslos. Traurigkeit zerriss ihr Herz. Endlose Traurigkeit. Endloser Schmerz. Plötzlich im Nichts endend. Sie schaute in seine nachdenklichen Augen.
„Sehr merkwürdig“, murmelte er, während er sie an sich drückte, in ihren Augen forschte.
„Aber du bist meine Königin“, flüsterte er.
„Ja“, antwortete sie ruhig.
Seltsamer Fremdling. Seltsam vertrauter Fremdling.„Ja“, antwortete er ruhig.
„Es regnet“, fügte er hinzu.
„Ja“, antwortete sie.
Merkwürdig.
„Ja“, antwortete sie.
Er lächelte.
„Aber du bist meine Königin.“
Ja.
Gehen wir.
So?
Ich habe dir etwas zum Anziehen mitgebracht.
Sie wischte sich über die Augen. Betrachtete das schwarze Zeug an ihren Händen.
War ich so stark geschminkt?
Nein.
Was ist das dann?
Du weißt es.
Sie hielt einen Moment inne.
Schwarz? Ich weine schwarze Tränen?
Ja.
Seltsam.
Ja.
Er griff hinter sich, schlug ein schwarzes Tuch auseinander. Eine schwarze Lederhose, hauteng. Dazu ein neuer Gürtel. Ein schwarzes Top. Schwarze halterlose Seidenstrümpfe, schwarzer Slip. Er schaute ihr zu, wie sie flink in die Sachen schlüpfte. Alles passte wie angegossen. Dann die Stiefel, der Mantel, die Handschuhe.
Wie sehe ich aus?
Wie eine Königin.
Er lächelte. Er trug jetzt ebenfalls eine Lederhose, Stiefel, ein schwarzes, hautenges T-Shirt. Und einen blutroten Ledermantel.
Etwas auffällig. Aber ich kann es mir erlauben. Und heute ist ein besonderer Tag. Wie nennt man das – Flitterwochen! Genau. Flitterwochen mit meiner Königin.
Er griff in seine Tasche, sie wusste schon, er würde ein Holzkästchen hervorholen, dunkel, mit rotem Samt ausgeschlagen. Darin ein silberner Ring. Mit einem kleinen schwarzen Opal.
Ein Opal für meine dunkle Königin, die schwarze Perlen weint. Meine Königin. Black Pearl. Dein Name ist Black Pearl.
Sie zog einen Handschuh aus. Er streifte ihr langsam den Ring über. Dann küsste er sie. Etwas in ihr reagierte darauf. Sie betrachtete ihn ruhig.
“Black Pearl. Ja, so heiße ich.”
Er lächelte.
Sie sollte ihn nicht mehr oft lächeln sehen.
~~~
Ein dunkler Ort. Eine dunkle Nacht.
Das Blut rast durch meine Adern wie ein Sturm.
Perlt von meinen Lippen wie dunkle Regentropfen.
Sammelt sich in der Kuhle meines Halses.
Explodiert hinter meinen Augen.
Es regnet. Es brennt.
Liebe erhellt die Nacht, zuckende Blitze am Himmel, zuckende Blitze auf meiner Haut.
Es regnet. Es brennt.
Meine Augen sind dunkel, glänzende Opale in einer regnerischen Nacht.
Black Pearl.
Mein Name ist Black Pearl.
I. Black Pearl
Dunkle Tropfen explodierten auf dem regennassen Asphalt. Rannen ineinander. Bildeten eine Form. Niemand bemerkte sie. Passanten beugten ihr Haupt tief unter Schirme und Kapuzen, während sie schutzsuchend an ihr vorbeihasteten, in Hauseingänge sprangen, unter Vordächer und Markisen flüchteten.
Der Platzregen war völlig überraschend über sie gekommen. Aus heiterem Himmel – wenn es Tag wäre. Aber es war Nacht. Genaugenommen Mitternacht. Eine dieser schwülen Nächte in Dark Town, wie es sie im Hochsommer häufig gab. Der Regen könnte ein Segen sein, würde er erfrischen. Doch er war heiß und klebrig wie Teer.
Die meisten Menschen wussten das, mit Glück nicht aus eigener Erfahrung. Niemand reckte ihm sein Gesicht entgegen - und sie war dankbar dafür. Dankbar – nein, das war das falsche Wort. Aber es vereinfachte das Leben in Dark Town enorm.
Man hatte sich daran gewöhnt. Es aufgegeben, nach der Ursache zu forschen. Sich damit arrangiert. Die Markisen waren nicht etwa aus Schutz vor der Sonne angebracht worden, nein, aus Schutz vor dem Regen. Diesem speziellen Regen.
Der der Stadt den neuen Namen eingebracht hatte.
Der schlichte Urlaubstouristen fernhielt und neugierige Forscher und sonstige Fremde, die das Ungewöhnliche faszinierte, anzog.
Doch das Gesicht reckten auch diese dem Regen in Dark Town nur einmal entgegen. Mit Glück überlebten sie es.
Der Platzregen kam überraschend, man wusste nie, an welchem Tag – besser, in welcher Nacht er kam - in diesem Sinne war er überraschend. Doch man wusste, wenn er kam, dann um Mitternacht herum. Pullover, Jacken und Mäntel mit Kapuzen, sogar T-Shirts mit Kapuze waren in den letzten Jahren nicht nur ein Modetrend, sondern zur unabdingbaren Grundausstattung in Dark Town geworden, wenn man nachts das Haus verließ. Dasselbe galt für Regenschirme.
Sie schniefte laut durch die Nase und wischte sich quer über die Augen. Sie betrachtete das dunkle Zeug an ihren Fingerspitzen, es glänzte wie flüssiger Opal. Nur eine Nuance dunkler als ihr schwarzer Lederhandschuh. Hob sich kaum ab. Aber sie sah es im Licht der Laterne, an die sie sich immer noch mit einer Hand klammerte. Das Zittern hörte langsam auf. Sie bemühte sich, ruhig und entspannt zu atmen.
Der Platzregen verwandelte sich langsam in ein feines Nieseln. Sie richtete sich vorsichtig auf.
Im gleichen Moment stieß ein vorbei eilender Mann sie heftig an, sie verlor das Gleichgewicht und fiel auf die Knie. Kein Schmerz.
„Oh, entschuldigen Sss...“ Sie sah zu ihm hoch. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen.
Dunkle – SIEH NICHT HIN, VERDAMMT !! Der Mund! Schau auf seinen Mund!! Sein aufgerissener Mund entblößte schöne weiße Zähne... Weiße Zähne... Weiß... Ja. Konzentrier dich auf die Zähne. Schau ihm nicht in die Augen. Sammle Kraft. Jetzt schau auf seine Schuhe. Los. Konzentrier dich. Schau – auf – seine – Schuhe! Du schaffst es! Sie hörte ihre Halswirbel laut knacken, als sie angestrengt den Kopf senkte.
Laut schlugen Zähne aufeinander, sie spürte den Luftzug, hörte das platschende Trommeln von Absätzen auf dem nassen Asphalt, als er sich abrupt umdrehte und weglief. Sie wartete mit zusammen gekniffenen Augen bis sie ihn nicht mehr hören konnte. Es schien eine Ewigkeit zu dauern. Sie zählte rückwärts von Tausend herunter, hielt ihren Geist leer. Nicht denken. Nicht denken. Nur zählen. Zählen.
Sechshundertvierunddreißig, sechshundertdreiunddreißig, sechshundertzweiunddreißig... Stille. Nunja, nicht wirklich. Aber er war außer Hörweite. Sie atmete erleichtert auf. Auch der Regen hatte völlig aufgehört. Noch einmal gut gegangen. Hätte auch anders ausgehen können. Verdammte Reflexe! Normalerweise hatte sie es gut unter Kontrolle. Doch ein Moment der Unaufmerksamkeit... Sie musste noch mehr aufpassen. Aber niemand ist perfekt, oder?
Doch sie arbeitete daran... Sie war noch jung.
Niemand hatte sie darauf vorbereitet.
Und auf diese Art Folgen schon gar nicht. Aber sie lernte schnell. Sie hatte sich schon immer gut anpassen können. Und Anpassungsfähigkeit war bei dieser Art Veränderung dringend vonnöten gewesen – mehr als alles andere.
„Du stirbst, wenn du dich dagegen wehrst. Lass es geschehen.“ Eine tiefe, sonore Stimme. Das erste, was sie danach wahrgenommen hatte. Seitdem hörte sie sie jeden Tag. Jeden Tag... Sie hatte sich gewehrt, anfangs.
Doch ihr Überlebensinstinkt war stärker als die Panik in ihrem Kopf gewesen. Dazu dann diese Stimme - in einem Moment des Aufgebens, einem Moment der Stille. Mit einem Schlag wurde sie völlig entspannt. Ließ es geschehen. Fühlte, wie es mit dumpfem Pochen durch ihre Adern kroch, sich in jede Faser ihres Körpers ausbreitete. Zärtlich knisternd in ihre Haare fuhr. Für einen kurzen Moment fühlte sie nichts. Dann Kälte. Unglaubliche Kälte. Sie krampfte sich mit einem einzigen lautlosen Schrei zusammen – dann fiel sie. Raste der Schwärze entgegen durch einen blitzenden Wirbel weißer Funken. Hart wölbte sich die Finsternis ihr entgegen, ein glänzender schwarzer Opal. So glatt, dass sich ihre Augen darin spiegelten, die immer größer wurden, je mehr sie auf ihn zu raste, riesige, tiefschwarze Pupillen, in denen stummes Entsetzten stand... sie fiel in sie hinein, kein Widerstand. Kein Schmerz. Nichts.
Als sie erwachte, hörte sie jemanden laut schluchzen, sah verschwommen ein bleiches, schmales Gesicht über sich – dann registrierte sie, dass sie selbst es war, die so schluchzte. Sie wurde von heftigen Weinkrämpfen geschüttelt, die kein Ende nehmen wollten. Traurigkeit. Tiefe, entsetzliche Traurigkeit, wie sie sie noch nie in ihrem Leben empfunden hatte. Einfach so. Ohne Grund. In ihrem Kopf war nichts außer – Finsternis.
Doch ihr Herz schien zu bersten vor Traurigkeit, es tat weh. Schrecklich weh. Der Schmerz entlud sich in heftigen Schluchzern, der Druck auf ihre Augen war fast unerträglich. Sie blinzelte und blinzelte, doch es nutzte nichts, immer wieder schossen ihr die Tränen explosionsartig in die Augen. Dann irgendwann hörte es plötzlich auf. Sie fühlte – nichts. Ihr Körper entspannte sich, ein Seufzen entfuhr ihren Lippen, das sie hörte, aber nicht spürte.
Ruhig starrte sie in das Gesicht über ihr. Dunkle Augen blickten nachdenklich auf sie hinab.
„Merkwürdig. Sehr merkwürdig“, murmelten die schmalen, schön geschwungenen Lippen.
Dann drehte er sich um und ging. Sie folgte ihm mit den Augen. Groß. Sehniger, schlanker Körper. Breiter Rücken, auf den lang und glatt pechschwarzes Haar niederfiel. Schlanke Finger. Sie mochte schlanke Finger. Der Gedanke löste kein Gefühl in ihr aus. Dann schloss sich die Tür leise hinter ihm.
Sie stützte sich auf die Ellenbogen und sah sich um. Aus dem dämmrigen Mondlicht schälten sich ein Schrank, Zweitürer, ein kleiner, viereckiger Holztisch mit einem wackligen Bein, ein schlichter Stuhl, ein alter Holzfußboden, mit Ochsenblut lackiert, eine nackte, kaputte Glühbirne hing von der Decke, die rissige Sprünge aufwies aus denen der Putz rieselte, Spinnweben in den Ecken, die dazu gehörige Spinne krabbelte laut trippelnd über die schimmlige Tapete, ein Fenster mit Isolierglas, an dem von außen Regentropfen verdunsteten, schmierige dunkle Schlieren hinterlassend - der Regen musste erst vor kurzem aufgehört haben - modriger Fensterrahmen, verrosteter Drehknauf, verschlossen, keine Gardinen. Die Tür aus verwittertem Holz, abgeschlossen, verrostete Metallklinke, neue Lippendichtung aus schwarzem Gummi, neues Schloss alter Bauart, der Schlüssel steckte von außen.
Ihr Blick flog auf ihre Hand- und Fußgelenke, die Handgelenke waren mit schwarzem Gafaband eng an ihren eigenen Ledergürtel gefesselt, die Fußgelenke mit dem gleichen Gafaband aneinandergebunden, aber nicht an den metallenen Stäben vom Rahmen des Bettes befestigt, auf dem sie lag, eine alte Schaumgummi-Matratze ohne Laken unter sich, die die verschiedensten Flecken von Flüssigkeiten zierte, die sie in den letzten Jahren in sich hatte aufnehmen müssen.
Sie zog die Beine ruckartig an und streckte sie kraftvoll, das Gafaband riss mit lautem Knall. Dann spannte sie ihre Arme an und riss sie heftig auseinander, rechts riss das Band, links peitschte die Hand zusammen mit dem Gürtel zur Seite, ihr Körper flog dabei in einer Rechtsdrehung herum, so dass sie nun fast auf dem Bauch lag. Sie drehte sich blitzartig wieder um und sprang vom quietschenden Bett auf, mit einem schmatzenden Knall fuhr der Gürtel mit der kaputten Schnalle nun vollends aus ihrem Hosenbund. Mit schräg gelegtem Kopf betrachtete sie ruhig, wie er von ihrem Handgelenk baumelte. Dann riss sie ihn mit einem Ruck ab und nahm ihn wie eine Peitsche in die rechte Hand.
Geräuschlos schlich sie zur Tür. Horchte. Nichts. Zumindest nichts im Haus außer knackendem Holz, das sich aufgrund der Feuchtigkeit verzog. Und einer Maus im Keller. Ihr Blick flog kurz zum Fenster. Dritter Stock. Ein Betrunkener torkelte den Bürgersteig entlang in ihre Richtung, älterer Herr. Sie ließ den Gürtel fallen. Wartete. Horchte. Nichts.
Sie beugte sich zum Schloss hinunter und blies einmal kräftig ins Schlüsselloch. Der Schlüssel fiel laut klirrend zu Boden. Sie horchte wieder. Nichts. Sie zog aus ihrer hinteren Hosentasche ihren Personalausweis. Etwas verbogen. Sie bog ihn in die andere Richtung, bis er halbwegs gerade war. Kurz verharrte ihr Blick auf ihm.
Ein langhaariges blondes Mädchen mit schmalen blauen Augen lächelte sie schief an. Vanessa Müller, las sie. So heiße ich, erinnerte sie sich.
Sie blickte auf die Haarsträhnen, die ihr ins Gesicht hingen. Lang und – schwarz. Sie konnte sich nicht erinnern, ihr Haar gefärbt zu haben. Seltsam. Sonst schien alles wie immer. Sie hatte noch dieselben Klamotten an. Nur ihr schwarzer Ledermantel fehlte.
War sie überfallen worden? Von dem Typen, der sie anscheinend gefesselt und eingeschlossen hatte? Sie war unverletzt, das wusste sie. Höchstens ein paar Druckstellen unter dem restlichen Gafaband, die aber nicht schmerzten. Sie erinnerte sich, ihren Geldbeutel in der rechten Manteltasche gehabt zu haben. Viel Geld dürfte nicht mehr darin gewesen sein. Dürfte sich nicht für ihn gelohnt haben. Und der Ledermantel dürfte ihm kaum passen. Was hatte er also gewollt? Vergewaltigung? Nein. Er hatte sie nicht angerührt, nicht sexuell. Das wusste sie.
Wieso eigentlich nicht? Sie wusste, dass sie attraktiv war. Verdammt attraktiv sogar. Sie fühlte fast so etwas wie – verletzte Eitelkeit. Seltsam. Ein fremdes Gefühl – und vertraut zugleich.
Sie sah sein Gesicht wieder vor sich. Feine, aber doch markante Züge, aristokratisch. Tiefdunkle Augen, die eine ungewöhnlich gelassene Stärke ausstrahlten. Helle, zarte Haut, auf die so manche Frau neidisch wäre, von den langen schwarzen Wimpern, die die Augen sanft beschatteten, und dem pechschwarzen langen Haar ganz zu schweigen. Länger als ihres. Sie fühlte – Faszination. Erregende Anziehungskraft.
Sie sah seinen sehnigen, starken Körper vor sich, sah sich seine schlanke Taille umfassen, ihn begehrlich an sich ziehen, während sie in seinen magnetischen Augen versank, die ihr plötzlich vertraut vorkamen, sah, wie ihre bebenden Lippen sich seinen näherten, während seine schlanken Finger ihr zärtlich durch das dunkle Haar strichen und er sie fest mit der anderen Hand an seine harte Brust drückte – Worauf wartest du dann noch? hörte sie ihn sagen.
Das Bild verlosch. Sie hielt immer noch den Personalausweis in ihrer Hand. „Ich komme“, flüsterte sie.
Sie schob den Ausweis langsam unter der Tür durch, bis er gegen den Schlüssel stieß. Mit einem leichten Ruck schob sie ihn unter den Schlüssel und zog ihn langsam zu sich heran. Am Gewicht merkte sie, dass er unter der Tür durch passen würde. Sie horchte noch einmal, als sie ihn bereits in der Hand hatte. Immer noch Stille. Sie schloss auf und öffnete die Tür. Eine Treppe führte nach unten. Und weiter nach oben. Ruhig stieg sie hinauf ins Dachgeschoss. Die Wohnungstür stand sperrangelweit offen. Sie trat hinein.
Die Wohnung war noch im Rohbauzustand, ein einziger Schutthaufen. Der Besitzer schien seit Jahren nichts an diesem Zustand geändert zu haben. Sie öffnete eines der immerhin vorhandenen Fenster und stieg hindurch aufs Dach.
Ein großer, heller Vollmond stand am sternklaren Nachthimmel, davor eine dunkle Silhouette, seine Silhouette. Sein langes Haar wehte im Wind. Wieder verspürte sie – Erregung. Starke Erregung. Fast wie in Trance schritt sie auf ihn zu. Er kam ihr lächelnd entgegen.
„Den ersten, zugegebenermaßen leichten Test hast du bestanden. Willkommen, Königin der Nacht.“
Er breitete die Arme aus. Das Mondlicht fiel jetzt auf sein schönes Gesicht. Die dunklen Augen sprühten rote Funken. Sie registrierte, auch er war erregt. Einen halben Meter voneinander entfernt blieben sie stehen.
Er trug ihren Mantel auf seinem Arm, breitete ihn auf einer flachen Stelle des Daches aus, ohne den Blick von ihr zu wenden. Wie gebannt starrte sie in seine Augen. Sie glühten förmlich vor Erregung. Die Luft um sie herum knisterte elektrisiert.
Langsam richtete er sich wieder auf. Sie trat ganz dicht an ihn heran. Millimeter trennten ihre Gesichter von einander. Langsam hob sie ihre Hände zu seiner Taille. Ganz langsam. Seine Augen brannten tiefrot. Sie wusste, dass auch er seine Hände langsam nach ihr ausstreckte. Wusste, dass eine Hand sie um ihre Taille greifen würde, während die andere sich ihrem Gesicht näherte.
Langsam umfassten sie sich, eine heiße Welle durchschoss ihren Körper, als seine Hand sie berührte, ihre Lippen bebten, immer noch wenige Millimeter von den seinen entfernt. Sanft zogen sie sich an sich, beiden entfuhr ein raues, tierisches Stöhnen, als ihre Körper sich berührten, der Stoff zerfiel über der brennenden Haut zu feiner Asche, verflog im Wind. Ihre Wange glühte auf, als seine Fingerspitzen sie berührten, ihr zärtlich ein paar Strähnen hinter das Ohr strichen.
Sie fuhr sich mit der Zunge erregt über die Lippen, schloss die Augen, als seine Finger langsam in ihren Nacken fuhren und er sie unendlich sanft an seine Lippen hob. Der erste Kuss war zart, doch sie durchfuhr es wie ein Blitz bis ins Mark, rotes Feuer glühte hinter ihren Augen auf, dann pressten sie sich heftig aneinander und küssten sich mit explodierender Leidenschaft, tranken voneinander, sie schmeckte metallisches Blut auf ihren Lippen, auf ihrer Zunge, seiner Zunge, die sich gierig um ihre schlang wie die ihre um seine, sie sanken auf dem weichen Leder in die Knie. Wild riss er ihr mit seinen Zähnen das verbliebene Gafaband von den Handgelenken, das rasende Blut hämmerte überlaut in ihren Ohren.
Ein rötliches Flimmern umgab sie, von beiden unbemerkt - sie wurden durchzuckt von wahren Stichflammen, während dunkles Blut auf dem Leder gerann.
Ihr wurde schwarz vor Augen. Sie raste wieder auf den dunkel glänzenden Opal zu, fiel durch ihre – nein, durch seine riesigen Pupillen, die kurz vor ihrem Fall durch sie hindurch blutrot aufleuchteten, sie fühlte versengenden Schmerz und - unglaubliche Ekstase. Meine Königin... flüsterte er. Dann Finsternis.
Als sie die Augen aufschlug, war er fort.
Sie richtete sich langsam auf. Sie registrierte, sie war nicht mehr auf dem Dach. Sie war im Keller. Sie erkannte das Trippeln der Maus. Sie kam schnuppernd näher. Sie schaute der Maus in die Augen. Die Maus wurde starr. Ihr Blick wanderte zu ihren kleinen zitternden Ohren, hauchdünn, von feinen Blutäderchen durchzogen... Etwas regte sich in ihr. Doch auch die Maus regte sich und flitzte kläglich fiepsend davon. Und irgendetwas in ihr erstarb wieder.
Sie wusste nicht, ob Tag oder Nacht war, es war schummrig in dem großen Kellerraum, keine Fenster, das einzige Licht kam von einer großen rote Kerze in einer Ecke, deren Flamme einen riesigen zuckenden Schatten von ihr an die Wand warf. Sie lag auf weicher Wolle. Darunter Beton. Sie hatte ihren Ledermantel an, darunter – nichts. In der rechten Ecke des Kellerraums lagen ihre schwarzen Lederstiefel. Sie erinnerte sich. Asche, vom Winde verweht.
Seltsam. Sie empfand nichts. Sie erinnerte sich an alles. Doch nichts regte sich in ihr.
Etwas zittrig kramte sie in ihrer Manteltasche.
Der Geldbeutel war noch da. Sie schüttelte ihn schwach. Hörte die klimpernden Münzen. Gut, ihr war auch so klar, dass er kein kleiner Taschendieb war. Er wollte etwas anderes als Geld. Er wollte sie. Er war auch nicht nur auf Sex aus. Soviel war auch klar. Das war kein üblicher Sex gewesen. Das war – sie wusste es nicht. Konnte es nicht einordnen. Es war – seltsam.
Seltsamer Fremdling... Was willst du? Ich werde es herausfinden.
Sie kramte wieder in ihrer Tasche. Schlüssel, Kippen. Alles noch da. Sie zog die Schachtel heraus, ziemlich zerdrückt. Vorsichtig nestelte sie eine Zigarette heraus, strich sie glatt. Suchte nach dem Feuerzeug. Fand es. Zündete sich die Zigarette an und inhalierte tief. Nichts. Ihre Lungen fühlten nichts. Kein Ziehen. Sie sah den Rauch, den sie auspustete, schmeckte ihn, sogar stärker als sonst – aber kein Ziehen. Nicht, dass das zu beklagen wäre. Aber interessant, festzustellen.
Ebenso interessant, sie fühlte auch keine Befriedigung, während sie den Rauch ausstieß. Sie betrachtete den Rauch, der sich langsam von der Zigarette hinaufschwang, in grazilen Spiralen sich von der Luft tragen ließ. Dann fiel ihr Blick auf ihr Handgelenk. Keine Druckstellen. Keine blauen Flecken oder Aufschürfungen. Aber mehrere kleine gleichförmige Punkte, dunkel wie Sommersprossen. Dasselbe am anderen Handgelenk. Und ihr Haar war immer noch schwarz. Und immer noch wusste sie nicht, warum.
Sie drückte die Zigarette aus und knöpfte umständlich den Mantel zu, ihre Finger zitterten immer noch. Nicht das sie fror. Sie schloss den Mantel nur, weil sie nicht wollte, dass er sie halb nackt vorfand, wenn er zurück kam. Immerhin war er doch trotz allem ein Fremder. Und Fremden begegnete man nicht nackt. Vor allem, wenn sie nicht neben einem lagen, wenn man wach wurde. Soviel wusste sie. Aber würde er zurückkommen? Meine Königin...
Er würde zurückkommen. Es war nur die Frage, wann. Und was sie bis dahin tat. Sie stand auf – und fiel auf die Knie. Es tat nicht weh. Aber sie kam nicht hoch. Zumindest nicht so. Sie kroch langsam zur Wand. Zog sich mühsam an einem Rohr hoch. Tastete sich schwankend an der Wand entlang bis zur Tür. Stahl. Dick. Von außen verschlossen mit einem Riegel. Rostig. Aber hart. Zu hart für sie. Zumindest in ihrem jetzigen Zustand.
Was hast du mit mir gemacht, seltsamer Fremdling? Warum sperrst du mich ein? Behandelt man so eine Königin?
Sie sank an der Tür herunter. Kroch langsam zurück zu der weichen, dunklen Decke, auf die er sie gebettet hatte. Streckte sich aus. Und wartete.
Der schwarze Opal wölbte sich ihr entgegen. Sie fiel hindurch. Schluchzen. Sie weinte hemmungslos. Traurigkeit zerriss ihr Herz. Endlose Traurigkeit. Endloser Schmerz. Plötzlich im Nichts endend. Sie schaute in seine nachdenklichen Augen.
„Sehr merkwürdig“, murmelte er, während er sie an sich drückte, in ihren Augen forschte.
„Aber du bist meine Königin“, flüsterte er.
„Ja“, antwortete sie ruhig.
Seltsamer Fremdling. Seltsam vertrauter Fremdling.„Ja“, antwortete er ruhig.
„Es regnet“, fügte er hinzu.
„Ja“, antwortete sie.
Merkwürdig.
„Ja“, antwortete sie.
Er lächelte.
„Aber du bist meine Königin.“
Ja.
Gehen wir.
So?
Ich habe dir etwas zum Anziehen mitgebracht.
Sie wischte sich über die Augen. Betrachtete das schwarze Zeug an ihren Händen.
War ich so stark geschminkt?
Nein.
Was ist das dann?
Du weißt es.
Sie hielt einen Moment inne.
Schwarz? Ich weine schwarze Tränen?
Ja.
Seltsam.
Ja.
Er griff hinter sich, schlug ein schwarzes Tuch auseinander. Eine schwarze Lederhose, hauteng. Dazu ein neuer Gürtel. Ein schwarzes Top. Schwarze halterlose Seidenstrümpfe, schwarzer Slip. Er schaute ihr zu, wie sie flink in die Sachen schlüpfte. Alles passte wie angegossen. Dann die Stiefel, der Mantel, die Handschuhe.
Wie sehe ich aus?
Wie eine Königin.
Er lächelte. Er trug jetzt ebenfalls eine Lederhose, Stiefel, ein schwarzes, hautenges T-Shirt. Und einen blutroten Ledermantel.
Etwas auffällig. Aber ich kann es mir erlauben. Und heute ist ein besonderer Tag. Wie nennt man das – Flitterwochen! Genau. Flitterwochen mit meiner Königin.
Er griff in seine Tasche, sie wusste schon, er würde ein Holzkästchen hervorholen, dunkel, mit rotem Samt ausgeschlagen. Darin ein silberner Ring. Mit einem kleinen schwarzen Opal.
Ein Opal für meine dunkle Königin, die schwarze Perlen weint. Meine Königin. Black Pearl. Dein Name ist Black Pearl.
Sie zog einen Handschuh aus. Er streifte ihr langsam den Ring über. Dann küsste er sie. Etwas in ihr reagierte darauf. Sie betrachtete ihn ruhig.
“Black Pearl. Ja, so heiße ich.”
Er lächelte.
Sie sollte ihn nicht mehr oft lächeln sehen.
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