BLIMPER (12) Der Verlust der "London"

Michael Kempa

Mitglied
Der Verlust der „London“





„Ich hatte Rosen nie gemocht, er war immer der Starke und hatte keine Kompromisse gemacht.“ Marcel nagte an seinem Gemüse.
Ricarda und Sabrina hatten Angst. „Was ist im Dorf los? Wohin können wir zurück? Was ist mit unseren Freunden?“ Ricarda war besorgt. Sabrina brachte keinen Bissen herunter und zog sich wortlos zurück.
„Wir sollten zurück zum Dorf.“ Das war Marcels Vorschlag. Mit diesen Gedanken gingen sie in ihre Zelte.

Das Wetter wurde schlechter, ein Sturm zog auf, die Anker mussten kontrolliert werden. Die Blimps standen nun fest verankert da, dann wurde das Lager sturmfest gemacht, das Leben fand nun in den Zelten statt. Der Sturm rüttelte bald an den Aufbauten und ein Gang vor das Zelt wurde schnell zu einer Herausforderung. Die Verbindung zum Dorf stand. Rosen wollte die genauen Koordinaten der Blimper und erkundigte sich genau über den Stand der Dinge. Die Bilder, die Rosen bekam, waren genau das was er brauchte: Wackelnde Zeltwände, schlimme Wetterprognosen und unscharfe Bilder der Besatzung. Rosen gab das Bildmaterial weiter und ließ einen Bericht für die Bewohner der Zitadelle anfertigen. Ein Bericht, den nur noch 1900 Menschen sehen konnten. Fast stündlich schwand ein Teil der Einwohner. Die Zitadelle wurde systematisch entvölkert. Nur wohin? Wie? Warum? Rosen war ratlos. Er fühlte wie seine Möglichkeiten schwanden, wie die Felle davonschwammen. Nun war jede Option gefragt, Rosen gab den Luftfahrern den Befehl zur Rückkehr.

„Wie soll ich das verstehen?“, fragte Paul in die Runde.
„So wie es gesagt wurde.“, schlug Eve vor. „Nimm es wörtlich, lege einen neuen Kurs an, der zurück zur Basis führt, es wird Wochen dauern, doch dann wissen wir alle mehr.“
„Das ist doch Quatsch!“ Marcel war aufgeregt. „Wir wissen doch alle, dass wir nur noch ein paar tausend Kilometer von der Zitadelle entfernt sind, die Erde ist nun mal rund und wir sind fast schon auf der anderen Seite, in etwa 10 Tagen könnten wir am Stützpunkt sein!“
Eve wurde bestimmt. „Nimm den Befehl wörtlich, das ist mein Wunsch!“
Marcel knirschte dieses mal mit den Zähnen, Ricarda und Sabrina blieben stumm.
Paul bemerkte trocken, dass es ein langer Flug werden würde, eine lange Reise.

Am nächsten Morgen bauten sie die Zelte ab und verstauten die Ausrüstung in die Blimps. Der Lagerplatz war leer, keine Spur eines Aufenthalts war zu sehen. In der Nacht wollten sie nicht starten, so blieben die Blimps am Boden, doch geschlafen wurde schon in den Luftschiffen.

Im Morgengrauen flog die kleine Flotte auf den offenen Pazifik.

Wieder offenbarte sich die unendliche Weite des Ozeans. Die Motoren surrten und Kilometer für Kilometer wurde abgespult. Ein Sonnenuntergang ging, ein Sonnenaufgang kam. Die Crew wechselte sich ab. Schlafen, steuern, miteinander sprechen und schlafen. Die Philippinen wurden überflogen, Malaysia ohne Stopp in Richtung Sumatra überquert. Vor der Flotte lag der schier unendliche Indische Ozean.
„Sollen wir wirklich den weiten Weg nehmen?“, fragte Marcel über Funk.
„Die Entscheidung ist doch längst gefallen! Wo sollen wir sonst hin? Das ganze Unternehmen ist sowieso sinnlos, von Anfang an. Dann lass uns das einfach hinter uns bringen, eine Umkehr wäre auch sinnlos!“ Ricarda meldete sich so von der „Kiew“ und wirkte reichlich gereizt.
Die Flotte bewegte sich auf den Indischen Ozean zu und stoppte die Fahrt nicht. Tage über dem Wasser lagen vor ihnen.
Eve legte einen neuen Kurs an, quer über die Malediven und alle sahen die Inseln und die Spuren der Schiffe.
„Schiffe?“, fragte Paul.
„Ja, was soll es denn sonst sein?“ Sabrina wirkte wieder gereizt am Funk.

Nach Tagen erreichten sie den Rand von Jemen, flogen über die Wüste von Saudi Arabien, streiften das Rote Meer und stoppten die Fahrt an einem späten Abend über Ägypten. Die Pyramiden waren deutlich zu sehen und wurden von Scheinwerfern angestrahlt. Die Cheops-Pyramide hatte keine Spitze, der weiße Mantel fehlte. Eve war beruhigt. „So soll es sein!“ Das war ihr Kommentar. Die Energiereserven wurden angebraucht, die Anzeigen belegten einen Schwund, der bisher noch nicht so da war. „Wir sollten weiter...“ Eve wurde etwas unruhig. „Was ist los?“, fragte Marcel.
Eve achtete darauf, dass das Com ausgeschaltet war. „Wie du siehst, ist die Gegend bewohnt, unter uns liegt Cairo und wenn die Ägypter uns bemerken, gibt es Ärger, deshalb läuft viel Energie in die Tarnung. Selbst die Energieversorgung unserer Blimps hält das nicht lange aus. Wir müssen unsere Reise fortsetzen.“

Es war sicherer, knapp über Libyen und Algerien zu fliegen, das Mittelmeer wurde stark überwacht, die Tarnung hätte zu viel Energie gekostet. Das endlose Meer wurde von endloser Wüste abgelöst, immer wieder gab es den Lichtschein einer Stadt oder die Spur einer Straße. Allen an Bord war es klar, dass der Planet bewohnt war. Es gab Menschen, doch es gab keinen Kontakt und darauf legte Eve wert.
Nach Marokko wartete der Atlantik auf die Crew, dann gab Paul Alarm. Die Energiereserven waren aufgebraucht, nach seinen Berechnungen war eine Reise über den Atlantik riskant, es drohte ein Absturz und die Strömungsverhältnisse waren nicht günstig und sehr schlecht berechenbar.
Es gab eine Notlandung auf Porto Santo, einer vorgelagerten Insel von Madeira. Ein großer Vorteil war die geringe Bevölkerung. Der Aufenthalt wurde nicht bemerkt. In großer Eile wurde die „London“ evakuiert. Alles was brauchbar war, schafften die Luftfahrer auf die „Cairo“ oder die „Kiew“. Zurück blieb eine leere Hülle, die sie in Schlepp nehmen konnten. Alaska verstärkte die Besatzung auf der „Kiew“ und Paul packte seine Sachen auf die „Cairo“. Die Aktion hatte sie zwei Tage gekostet. Konzentrierte Arbeit ohne ein Blick auf die Schönheiten der Insel. So schnell es ging, wurde die Reise fortgesetzt. Vom Stützpunkt kamen verstörende Nachrichten. Rosen fragte nach dem Standort der Flotte, dann kamen Nachrichten aus dem Sendezentrum, Rosen hatte das nicht unterzeichnet. Scheinbar nahm die Bevölkerungszahl des Stützpunkts rasant ab. Eine sichere Verbindung war nicht mehr möglich. Der Schleppflug gestaltete sich auch recht schwierig. Die leere Hülle der „London“ pendelte in den Schleppseilen und reduzierte die Geschwindigkeit enorm. Nur Eve war dagegen die „London“ von den Seilen zu kappen. „Wir werden sie noch brauchen!“, sagte sie.

Auf hoher See empfing Marcel Funkanfragen von fremder Herkunft. Er wusste das nicht einzuordnen und rief Eve zu sich. Eve setzte sich in den Copilotensitz und murmelte was von „spannend“.

„Jetzt ist es Zeit sich von der „London“ zu trennen!“ Eve war erregt und schaute Marcel hilfesuchend an. Blimper verstand die Situation und machte sich auf, die Leinen zur „London“ zu kappen. Das war nicht einfach. Die Leinen waren außen angebracht, eine einfache Art sich zu lösen, gab es nicht. Im Laufschritt rannte Blimper zum Heck der „Cairo“. Die Luke wurde vom Fahrtwind zugedrückt. Über das Com bat sie Marcel das Tempo zu senken. Zum Glück hörte Marcel die Bitte und nahm das Tempo deutlich herunter. Die Leinen lockerten sich. Blimper hakte sich in die Sicherheitsleinen ein, stieß die Luke auf und hangelte sich an der Hülle zum Heck der „Cairo“. Unter Hannah stand der Atlantik, ohne doppelten Boden. Viertausend Meter bis zum Aufschlag, gesichert durch einen Haken der in einem dünnen Stahlseil hing. Der Wind war heftig und eisig, lange konnte das nicht gut gehen. Hannahs Hände zogen sich am Stahlseil lang. Handschuhe hatte sie in der Eile vergessen. Noch 100 Meter bis zum Heck! Der Fahrtwind zog sie am Seil lang. Eigene Anstrengung war nicht nötig, nur Entschlossenheit und Widerstand gegen die Kälte und dem Fahrtwind. Nach einer Weile hatte sie die Stelle erreicht, an der das Tau befestigt war, stramm zog das Tau die „London“. Blimper zögerte nicht lange, sie hatte ein stabiles Messer dabei, eher so etwas wie eine Machete. Blimper schlug auf das Tau ein. Es regte sich nichts. Das Tau war zu dick. Sie erinnerte sich an ihr Training. Viele kleine Schläge sind wirkungsvoller wie ein gewaltiger Hieb. Viele kleine Schläge...

Blimper konnte kaum noch denken, der Fahrtwind dröhnte in ihren Ohren, die Hände waren eisblau, das Denken fiel schwer. Doch sie hämmerte mit der Machete auf das Seil. Immer kleine Schläge... Viele Schläge... Nicht aufhören. Wie ein Specht. Sie hämmerte weiter. Es war das einzige an das sie noch dachte, weiter hämmern, wie ein Specht. Sie sah noch, wie sich das Seil drehte, wie es sich aufrollte, wie Teile davon wegdrehten und nur noch ein kleiner Teil stabil blieb. Hannah klopfte weiter. In Gedanken. Hauen und teilen, die Fasern zerteilen, draufhauen. Das war ihr letzter Gedanke.
Blimper merkte nicht mehr, dass das Seil zerriss und die „London“ nun steuerlos trieb.
Eve hangelte sich zu Hannah, sie nahm das gleiche Stahlseil als Sicherung und hatte zwei Decken und Handschuhe dabei. Vom Wind ließ sie sich zu Hannah treiben. Marcel steuerte den Blimp steil zur Meeresoberfläche, die Luft wurde atembarer, der Luftdruck stieg ebenso wie die Temperaturen. Kurz vor der Meeresoberfläche fing er die „Cairo“ ab. Der Blimp stand fast still und fünf Kilometer höher trieb die abgeschnittene „London“ weiter in hinauf in den Himmel.
Fast direkt über der Wasseroberfläche trieben nun nur noch die „Cairo“ und die „Kiew“, die Aufzeichnungen waren aufregend. 50 Kilometer weiter wurden Schiffe angezeigt, die Radaraufnahmen waren eindeutig. Es mussten mehrere große Schiffe sein, mindestens fünf. Die leere Hülle der „London“ trieb direkt auf die fremde Flotte zu.

„Da ist noch mehr!“, rief Marcel in das Com. „Ich sehe mindestens sieben Signale! Alle sehr schnell! Sie steuern direkt auf uns zu! Ich schätze die Geschwindigkeit auf etwa 800 km/h! Die sind in in ein paar Minuten hier!“
Eve war bereits wieder am Steuerpult und beruhigte Marcel. Blimper lag ein paar Meter hinter ihnen in Decken gehüllt am Boden der „Cairo“.
Die Kameras erfassten die Flugkörper. Es waren schnelle, kleine Jäger mit Strahlantrieb. Die Jäger zogen hoch über den Blimps dahin, wendeten und hielten eine Höhe von gut 8000 Metern.
Eve beruhigte alle über das Com. „Sie können uns nicht sehen. Die „London“ haben sie aber voll im Blick! Es kommt nun darauf an, was sie tun, wie sie reagieren...“

Ricarda und Sabrina fingen die Funksignale der Fremden Flieger und der Schiffe auf. Es waren aufgeregte Gespräche, Befehle und Statusmeldungen. Alles in altertümlichen Englisch. Was daraus zu erkennen war, wurde rasch dramatisch. Die „London“ wurde mehrfach überflogen und angefunkt. Es war von Abdrehen die Rede, von Identifizieren und Kapitulation. Die „London“ trieb weiter auf die fremde Flotte von Schiffen zu. Dann gab es Explosionen in der Nähe des treibenden Blimps. Leuchtspuren zogen unter und über der „London“. Der Abstand zur fremden Seeflotte wurde kleiner. Marcel schätzte, dass der Blimp direkt über die Flotte ziehen würde. Der Abstand betrug noch gut 20 Kilometer. Die Funksprüche wurden heftiger, häufiger und aufgeregter. Nicht alles war zu verstehen.
Die erste Rakete wurde von einem Flieger abgefeuert, die leuchtende Spur traf die „London“ voll, durchschlug die Hülle und explodierte gut 500 Meter nach ihrem Ziel. Die zweite Rakete wurde von einem der Schiffe gestartet, flog nicht in einer geraden Linie, doch durchschlug die Hülle von unten und explodierte wieder in der Luft. Unzählige Leuchtspuren trafen das Luftschiff. Die „London“ bäumte sich auf wie ein verletztes Tier.

Eve handelte schnell, sie brach das Siegel am Steuerpult der „Cairo“ und klappte die Sicherung hoch. Laut sprach sie in das Com: „London, Selbstzerstörung. Code MA701!“
Sie sah Paul herausfordernd an. „Du!“
Paul schwieg.
Eve nicht.
„London, Selbstzerstörung. Code PAU888!“
Eve sprach direkt Ricarda auf der „Kiew“ an. „Nun du!“
Ricarda schwieg.
Eve nicht.
„London, Selbstzerstörung. Code RI401!“
Eine Sekunde Schweigen.
Dann ein Lichtblitz, in dem alles verschwand. Eine Sekunde später komplette Schwärze. Dann rieselte ein gigantischer Lichtvorhang auf die See. Wie tausend funkelnde Sterne löste sich die Hülle der „London“ auf, feste Teile stürzten glühend in die See. Es blieb nichts übrig, was nicht sofort verglühte, versank.

Blimper und Marcel sahen schweigend zu, sagten kein Wort und klammerten sich an den Haltegriffen fest. Der Funk blieb still, die restlichen zwei Blimps verließen in Schleichfahrt den Ort. Nach Stunden begann die Dämmerung. An Schlaf war für niemanden zu denken. 200 Kilometer hatten sie zurückgelegt. Still, leise, von niemandem gesehen. Die Sonne stand knapp über dem Horizont und war noch blutrot. Die zwei Blimps beschleunigten knapp unter die Kavitationsgrenze und legten so viele Kilometer zurück, wie es nur möglich war. Weit hinaus auf den offenen Atlantik. Erst in der folgenden Dämmerung fielen sie auf normale Marschgeschwindigkeit zurück. Sie stiegen wieder auf 4000 Meter Höhe. Marcel fand als erster das Wort. „Auf unseren Anzeigen haben wir noch etwa 50 % Energie. Die Batterien sind deutlich erschöpft.“
„Wir schaffen es bis Alberton.“ Eve beruhigte.
„Alberton?“, fragte Sabrina. „Wo ist Alberton? Und was, zum Teufel sollen wir dort? Unser Ziel ist das Dorf!“
„Woher weißt du unsere Sicherheitscodes und was fällt dir ein, die „London“ zu sprengen?“ Sabrina war wütend und zu manchem entschlossen.
Eve blieb ruhig. „Ich weiß vieles, von dem ihr nichts wisst... Ich bin seit einigen Tagen bei euch und ihr solltet mittlerweile wissen, dass ich nichts böses will. Allerdings habe ich Macht. Ich habe die Möglichkeit einiges möglich zu machen. Ich weiß mehr, als euch gut tut. Ich lenke und ich steuere, solange ich das für richtig halte. Es steht viel auf dem Spiel und was mit der „London“ passiert ist, war ein Test. Ich weiß nun mehr und werde danach handeln. Viel Zeit bleibt uns nicht mehr. Es wird keine Insel mehr geben, es wird keinen Stopp mehr geben. Mein Ziel ist nur noch, euch sicher zurück zu bringen. Ich muss euch ehrlich sagen: Das Dorf werden wir zusammen nicht mehr erreichen, unser neuer Zielpunkt heißt Alberton. Von dort aus wird weiter entschieden.“

Nach zwei Tagen Schweigen war der Kontinent in Sicht. Die Leitungen zu den Tarnvorrichtungen brummten und die zwei Luftschiffe überquerten den Bundesstaat Georgia. In der „Cairo“ und in der „Kiew“ roch es süßlich, die Crew fiel in einen tiefen Schlaf mit wilden Träumen. Alberton war erreicht.



 



 
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