Blits

Luciusoderso

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Mein Herz schlägt. Schwer. Langsam. Es erinnert mich daran, dass ich noch lebe - obwohl ich eigentlich nur auf mein Ende warte. Im Hospiz ist es so still. Ein Ort voller Menschen, die sterben werden. Einige werden besucht. Andere nicht. Selbst die Pfleger meiden mein Zimmer. Ich höre ihre Schritte vor meinem Zimmer verstummen. Fast so, als hielte sie ein unsichtbarer Schleier davon ab, einzutreten. Manchmal höre ich sie über die Kälte in meinem Zimmer flüstern und wie sie langsam durch die Wände kriecht. Ich fühle keine Kälte mehr, nicht einmal meinen Körper. Ich bin gefangen in diesem Käfig aus Fleisch.

Ein Körper, der stirbt. Fleisch, das schwach ist.

Mein Name lautet Erik Krüger. Ich bin zwanzig Jahre alt und habe die letzten drei Jahre damit verbracht, gegen Krebs zu kämpfen. Ich verliere. Wenn ich ehrlich bin, habe ich schon nach ein paar Monaten aufgehört, an meine Heilung zu glauben. Als ich diagnostiziert wurde, klang mein Arzt zuversichtlich. Er war einer dieser Menschen, die in allem immer das Positive sehen, dabei gab es nichts Positives in dieser Situation.

Mein Herz schlägt. Ich lebe. Nein. Ich habe gelebt. Wenn man meine Vergangenheit überhaupt als Leben bezeichnen kann. Väter verpissen sich oft. Meiner hat mich nie wirklich gekannt. Meine Mutter war eine einfache Frau, mit simplen Ambitionen. Schule machen. Studieren. Haus am See. Leider dachte sie nach jeder Flasche, dass sie das Leben überholen und so unsterblich werden könnte. Hat es dann mit 150 Kilometern pro Stunde versucht – und gemerkt, dass nichts schneller ist als eine Leitplanke. Ihre Ambitionen hat sie nie verwirklichen können. Jetzt mache ich schon Witze darüber. Meine Mutter habe ich geliebt. Ich wünschte, sie hätte mich auf der Bühne mit dem Zeugnis gesehen. Wie sie wohl reagiert hätte?

Als ich damals die meisten Punkte bei Antolin erreichte, sah sie mich mit diesen Augen an. Ihre Augen sind wie Sterne gewesen. Sie hat mir die Haare gestreichelt und meine Stirn geküsst. Ihr Lächeln war so warm, so schön, dass ich glaubte, alles erreichen zu können, solange sie bei mir war.

Das Leben fährt immer wieder wie ein Film vor meinen Augen vorbei. Es waren die Pfleger, die diese Illusion beendeten. Sie kommen, fragen mich wie es mir geht. Überprüfen meine Werte und gehen dann, bevor ich die Kraft aufbringe, ihnen zu antworten. Ich bin allein. Einsam bin ich dennoch nicht. So wie jetzt habe ich ja immerhin mein ganzes Leben verbracht. Die Spitze ist einsam.

Scheiße.

Ich wäre gut genug für jeden Studiengang gewesen. Wäre schön gewesen ein Arzt zu sein. Ärzte machen Kohle ohne Ende. Damals hat Doktor Petersen gesagt, dass er jeden einzelnen Fall persönlich nimmt und immer alles gibt, um seinen Patienten zu helfen. Das ist schön und gut, aber wofür, wenn sie am Ende zu Gott beten, statt sich bei dem Menschen zu bedanken, der sie gerettet hat? Wenn Gott existiert, dann hat er uns alle in die Schuhe gesetzt und uns auf den Weg geschickt, der unser Leben ist. Gott hat mir Krebs gegeben. Er hat mir meine Zukunft nicht genommen – er hat mir nie eine gegeben.

Langsam wird das Atmen schwer. Er stockt. Fällt davon. Kommt wieder. Ich schwimme zwischen Panik und Frieden. Die Maschinen summen langsam und der Herzmonitor piept ab und zu. Der Hintergrund wurde leiser. Langsam. Ganz langsam. Noch langsamer wurde alles schwer. Mein Kopf zuerst, dann wanderte es in meine Arme und Beine. Meine müden Augen wollten nicht mehr ankämpfen, schlossen sich langsam. Ich bleibe wach. Mein Körper beginnt langsam in den Schlaf zu gehen, ich selbst bleibe wach. Gefangen in diesem Käfig. Nicht mehr lange. Nicht mehr lange, bis ich frei bin. Jeder Atemzug ist ein Sog, der mich tiefer zieht. Bis die Maschinen verblassen und ich Gras unter meinen Fingern spüre.

Ich öffne meine Augen und finde denselben Himmel wieder. Es ist ein wolkenloser Himmel. Ich befinde mich in einer weichen Graslandschaft. Es ist ein Gefühl von feiner Seide. Das Gras besitzt einen frischen Duft, wie Regen im Sommer. Ich liege in ihm, meine Gedanken sind leer. Ich fühle den Wind. In meinen Haaren. Meiner Haut. Es ist friedlich. Derselbe Traum. Gestern. Heute. Morgen. Ich muss daran zweifeln und doch genieße ich es. In diesem Traum habe ich keinen Krebs. Ich sterbe hier nicht. Alles, was ich tue, ist es zu genießen. Manchmal spaziere ich durch die endlosen Weiten. An anderen Tagen beobachte ich den Himmel.

Es regnet. Mein persönliches Paradies wurde zerstört. Die dicken Tropfen fielen auf mein Gesicht und flossen dann meine Wangen herab. Ich schloss meine Augen und blieb im feuchten Regen liegen. “Das gehört auch mal dazu, nehme ich an.” Plötzlich fühlte ich keinen Regen mehr auf meinem Gesicht und als ich meine Augen öffnete, begann ich zu verstehen warum. Ein Mann hielt einen transparenten Regenschirm über mich. Ich wollte überrascht sein, doch dieses Gefühl von Ruhe in mir wollte nicht schwinden. Dann war es das wohl. Ich bin friedlich eingeschlafen und dann…

“Erik Krüger?”

“Ich sterbe gerade, kannst du mir nicht meine letzten Momente lassen? Du Engel des Todes.”

Sein Gesicht wurde mehr und mehr von einem Ausdruck der Verwirrung gezeichnet, er zog den Regenschirm weg und starrte auf mich herab.

Der Regen prasselte weiter auf mein Gesicht, nur war ich viel zu sehr von diesem Mann überrascht, der in mein Paradies eingedrungen war. Sein verzerrter Gesichtsausdruck irritierte mich, doch als gesamtes Wesen war er noch verwirrender. Er trug einen Anzug, der makellos und lila war. Keine einzige Falte, nicht einmal der Regen schien ihn zu beschmutzen. So, als wäre er kein Teil dieser Welt. Ich erkenne Teile einer Kette, die von seiner Brust in seine linke Hosentasche führt. Seine Augen waren wie Nadeln, die sich in meine Gedanken bohrten, bevor ich sie vollständig formuliert hatte. Er griff in seine Seitentasche und zog eine Taschenuhr hervor, sah sie sich an und hielt sie mir dann ins Gesicht.

“In 5 Minuten wird dein Herz stehenbleiben. Die Pfleger werden kommen und von deinem Tod erleichtert sein, denn jetzt müssen sie auf einen Patienten weniger achten. Trotzdem werden einige von ihnen genervt sein. Tote Patienten bedeuten viel Papierkram. Wie lässt dich das fühlen?”

“Mein Leben ist eine große Baustelle gewesen, die von schlechter Planung geplagt war. Alles fängt mit einem Rohrbruch an, dann müssen die Wände abgerissen und neu gezogen werden. Es endet damit, dass Asbest entdeckt wird. Dann wird die ganze Baustelle dem Erdboden gleichgemacht. Manchmal fängt man von vorne an, oft geht das Geld aber aus und die Baustelle bleibt eben genau das. Eine Baustelle.”

“Das beantwortet meine Frage nicht Erik Krüger. Hör auf meiner Frage auszuweichen. Das hier ist nicht der richtige Moment für irgendwelche schlechten Metaphern. Wie fühlt es sich an, vor dem Ende zu stehen und zu wissen, dass es nichts gab, um ihm auszuweichen.”

Ich seufzte.

“Deine Seele ist eine starke, das sehe ich. Ich fühle es. Dieses Feuer, das mal in deinen Augen gebrannt hat, existiert noch tief in deiner Seele. Suchst du nach Bestimmung? Nach jemandem, der dir sagt, was du tun sollst? Erik, was ist denn dein Schicksal?”

“Mein Schicksal?”

“Was denn? Verlierst beide Eltern, gehst zur Schule und stirbst dann an Krebs? Hältst du dich für jemanden, dem so etwas widerfahren sollte?”

Er wandte seinen Blick von mir ab und kehrte mir den Rücken zu.

“Das Jenseits wird gut für dich sein.”

Ich sprang auf.

“Nein!”

Darf meine Geschichte so enden?

Er geht langsam davon.

Ich folge ihm.

“Mein Leben lang war ich nie mehr als das Opfer meiner Umstände gewesen. Nen verdammten Vater, der abhaut, und eine Mutter, die tragisch stirbt. Immer hieß es, ich solle dennoch glücklich sein und das habe ich versucht! Verdammte scheiße, ich war der Jahrgangsbeste! Nach all diesem tragischen Müll hätte ich ein steigender Stern werden müssen! Jemand wie ich sollte zu einem Leben bestimmt sein, das alle anderen beneiden. Ich sollte verehrt werden. Was erhalte ich stattdessen? Eine Krankheit, die mich langsam tötet. Rechnungen, die ich nicht bezahlen kann, und Pfleger, die jeden Tag darauf hoffen, dass ich sterbe. Wenn ich reicher oder berühmter gewesen wäre, dann hätte ich mir die besten Ärzte und Medikamente leisten können. Die ganze Welt hätte auf meine Heilung gehofft und ich wäre wieder gesund geworden.”

Ich rutsche aus und fühle das erste Mal in einer langen Zeit echten Schmerz.

“Du meinst du verdienst eine bessere Geschichte Erik Krüger? Du ertrinkst in einem See aus Mitleid. Du verdienst eine bessere Geschichte? Du warst in deiner eigenen nie die handelnde Figur. Das ist traurig. So eine Macht die verloren geht, weil ein Mensch seine Seele nicht zu begreifen vermag. Wahrlich eine Schande.”

Er sah zurück auf seine Taschenuhr.

“Wie dem auch sei, gibt es noch etwas, das du in deinen letzten 32 Sekunden sagen möchtest?”

Ich sah in den Himmel und wie sich die Wolken langsam lösten.

“Du bist nicht ohne Grund hier richtig? Lass mich zurück! Lass mich leben und ich schwöre, du wirst es nicht bereuen!”

Er fing an zu lachen.

“Du willst also zurück ins Leben, ja?"

Im nächsten Moment stand er nur wenige Meter von mir entfernt.

“Um jeden Preis?”

“Ja. Um jeden Preis.”

Er streckte seine Hand über mich. Alles hielt inne. Regentropfen standen in der Luft und fielen langsam in den Himmel zurück.

“Eine Seele für jeden Tag Erik.”

“Was?”

“Rette eine Seele für jeden Tag, den du leben willst.”
 

ahorn

Foren-Redakteur
Teammitglied
Moin Luciusoderso,

herzlich willkommen in der Leselupe.

Gruß
Ahorn

 

marcm200

Mitglied
Sauber und fehlerfrei geschrieben, aber sehr düster. Viele kurze Sätze als Stilmittel unterstreichen das. Eriks Restlebenszeit verkürzt sich, so auch die Länge seiner Gedanken.

Keine leichte Lektüre und eigentlich eher etwas, um danach eine Analyse darüber zu verfassen, bspw. im Schulunterricht. Aber kein Text, den man zur Unterhaltung liest.

Das Happy-End kann für mich die Düsternis des Textes nicht aufheben.

Mit welcher Intention hast du die Geschichte geschrieben?

Sind "verpissen", "Scheiße" und "Kohle" absichtlich gewählt worden? M.E. passen diese Wörter nicht zu der sonstigen Wortwahl des Textes.

"Langsam wird das Atmen schwer. Er stockt. Fällt davon. Kommt wieder." - "er" bezieht sich wohl auf "Atem", passt aber nicht zum "Atmen", ich würde es umformulieren, vielleicht "es". oder "Stockend. Dann nichts mehr. Doch ich kämpfe."

- Sinnkomma fehlt: "Du bist nicht ohne Grund hier [ , ] richtig?"
 



 
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