Blue Blues

Aus ihrem Rucksack nimmt sie Alberts leere Pillendose und seine verschrumpelte Kastanie, legt beide Gegenstände auf die Ablage und sich selbst aufs Bett. Vom Bett aus betrachtet sie nun die kleine, runde Herbstfrucht, die Albert vor seinem Verschwinden stets in seinem Portemonnaie aus schwarzem Rindsleder getragen hatte.

„Du alberner Albert“, hatte sie lächelnd zu ihm gesagt, an jenem ersten Abend in dem kleinen Café und seine Hand ergriffen, als er ihr gestand, dass die Kastanie sein Glücksbringer sei.

„Ist es eine besondere Kastanie?“, hatte sie ihn gefragt, interessiert und zugleich belustigt.

„Nein, es ist eine gewöhnliche Rosskastanie“, war seine Antwort. „Man muss das Glück im Gewöhnlichen finden“.

Diese Aussage war ihr damals sehr philosophisch und tiefgründig erschienen.

Mit den Jahren war sein blondes Haar dünn geworden, dann irgendwann grau, die engen Jeans wichen ockerbraunen Cordhosen, doch die gewöhnliche Kastanie, sein treuer Begleiter, blieb.

Sie richtet ihr Augenmerk auf die braune Baumfrucht. Einst muss sie frisch ausgesehen haben. Sie kann das Laub riechen, mit dem der Baum bedeckt gewesen sein muss, bevor er kahl geworden war und alle Früchte abgestoßen hatte. Verschrumpelt ist sie, die Kastanie, jetzt in diesem Augenblick, wahrscheinlich schon seit vielen Jahren. Nie hatte sie der Kastanie Bedeutung beigemessen. Die Oberfläche der Kastanie muss einst glatt gewesen sein, nun weist sie deutliche Falten auf, ihre Haut ist so runzelig wie die einer Frau, die zu lange unter dem Solarium gelegen hat.

„Zu viel Sonne ist schlecht für die Haut“, denkt sie und schließt die Augen.

Sie kann Albert vor sich sehen, als jungen Mann, seine kräftigen, dunklen, blauen Augen, die sie vom ersten Moment an die Farbe des Meeres vor Helgoland erinnert hatten. Nie hätte sie geglaubt, dass jemand so blaue Augen haben könne.

Sie öffnet die Augen, nimmt Alberts Pillendose von der Ablage, jongliert sie von der linken Hand in die Rechte und wieder zurück. Sie erinnert sich an Alberts Geruch, an den Klang seines Herzschlages, wenn sie ihr Ohr an seine Brust legte, an das Geräusch, das seine Brusthaare hervorbrachten, wenn sie mit ihren Fingern darüber strich, an den Geschmack seiner Haut. Er hat die leere Pillendose zurückgelassen. Sie fühlt das kalte Porzellan unter ihren Fingern, mit denen sie gestern noch Alberts warme Lippen berührt hatte.

Wo ist Albert? Wie geht es ihm? Wenn es ihm gut geht – wie lange noch? Sie gestattet sich nicht, sich die schmerzhafte Frage nach dem Warum zu stellen, dem Grund seines Verschwindens, denn dann müsste sie sich der Antwort stellen. Und doch lauert die Frage irgendwo tief drin in ihr, wie eine listige Klapperschlange und wartet nur darauf, sie anzugreifen, sie zu vergiften, zu töten.

Sie betrachtet die kitschige Abbildung auf der Pillendose. Eine blaue Kornblume. Blau. Die Farbe verfolgt sie. Blau, wie das Wasser vor Helgoland. Sie erinnert sich an das Meer, an das Rauschen der Wellen, manchmal sanft und manchmal aufbrausend wie eine verärgerte Mutter.

Sie geht ins Bad, putzt sich die Zähne, doch der schale Geschmack in ihrem Mund bleibt, er lässt sich nicht mit Zahnpasta vertreiben. Trocken fühlen sich ihr Mund und ihre Kehle an. Das Gurgeln, der Laut, der aus ihrer Kehle dringt, hört sich wie ein rostiger Motor an. Er ist ihr fremd, dieser Laut. Ihr ist, als gehöre er nicht zu ihr, nicht zu ihrem Mund, nicht zu ihrer Kehle, ihrem Rachen, ihrem Körper. Sie spuckt das farblose Wasser ins Emaille-Waschbecken.

Aus dem Spiegel sieht sie ein nichtssagendes Gesicht aus kühlen grauen Augen an. Schmutzig, das sind ihre Augen. Ihre Farbe gleicht der der Elbe. Grau, schlammig, schmutzig, tot, begraben.

Langsam kehrt sie ins Schlafzimmer zurück, kraftlos und schlaff ihr Schritt. Sie fühlt sich wie ein Läufer, dem schon kurz nach dem Start die Puste ausgegangen ist.

Sie legt ihren Körper wieder auf das Bett. In diesem Moment ist ihr, als habe sie sich selbst abgelegt, sich selbst entsorgt, aussortiert.

Die Kastanie kommt ihr wieder in den Sinn. Sie will es sich nicht eingestehen, doch sie WEIß, was Albert ihr mit dieser Geste hatte sagen wollen. Er hatte nicht nur ein albernes, kleines, unscheinbares, braunes Etwas zurückgelassen – er hatte sein Glück zurückgelassen. Da, wo er hingegangen war, brauchte er es nicht mehr.
 



 
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