11.11.2009
Es war nicht so schlimm wie ich befürchtet hatte.
Sicher, man konnte schon deutlich erkennen, dass die Band in die Gothic Szene gehörte, nicht nur aber auch an der Kleidung der Besucher, die sich mit mir zusammen an diesem Mittwochabend im Musikzentrum Hannover versammelt hatten, um Samsas Traum zu sehen. Mit Caro und mir, um genau zu sein.
Ich war in Alltagskleidung da, das waren zwar nicht Anzug und Krawatte, aber immerhin herrschte bei mir ein auffälliger Mangel an Nietenarmbändern und Ähnlichem. Glücklicherweise hatte ich das Gefühl, nicht unangenehm aufzufallen. Ich bin in der Hinsicht zwar nicht sonderlich empfindlich, aber ich freue mich wenn ich keine abfälligen Bemerkungen ignorieren muss.
Caro hingegen war ganz und gar passend gekleidet. Von den erwähnten, großzügig mit Nieten versehen Accessoires mal abgesehen trug sie unter ihrem Ledermantel ein langes schwarzes Kleid und ewig viele kleine Glocken überall am Körper, weshalb sie den passenden Spitznamen „Glöckchen“ trägt.
Wenn ich mit ihr durch die Stadt ging fühlte ich in mir jedes Mal die Zerrissenheit, den Kampf zwischen dem Drang nicht unangenehm aufzufallen (und man fällt auf wenn jeder Schritt laut klimpert) und dem Wunsch, mit selbstbewusster Ignoranz gegenüber den gesellschaftlichen Konventionen durch die Reihen dieser angepassten Schafe zu wandeln.
Kennen gelernt habe ich sie bei einem Onlinespiel. Was meine Bekanntschaften mit Frauen angeht, zeichnet das Internet für einen nicht unwesentlichen Anteil meiner Trophäensammlung verantwortlich. Gemerkt habe ich das ziemlich früh, ich schreibe gerne und im Netz hat man eine riesige Auswahl an Gesprächspartnern. Ich werde nicht gleich auf Grund meines Alters oder Aussehens eingeschätzt, stattdessen sind die Menschen gezwungen sich näher mit mir auseinander zu setzen. Außerdem fühle ich mich wohl, während ich ansonsten absolut kein Party- oder Discogänger bin und während der Schulzeit außerdem ziemlich viel soziale Ablehnung erfahren habe. Kurzum, alleine schon aus Tradition fällt es mir leicht, Kontakt zu Netzbesuchern zu knüpfen und ganz erfolglos bin ich auch nicht wenn es darum geht, weibliches Interesse zu wecken. Caro war eine dieser weiblichen Interessenten.
Es war unser zweites Treffen, wir hatten einige Male telefoniert und beim letzten Mal miteinander geschlafen, wir küssten uns öfter und insgesamt war das Verhältnis recht innig und auch der Teil der Nacht nach dem Konzert versprach, interessant zu werden. Über Gefühle hatte bisher keiner gesprochen, und das war auch besser so. Ich fand sie nett, ganz ohne Frage, aber ich war nicht verliebt. Würde das Thema aufkommen oder sie den Eindruck erwecken mehr zu wollen, würde ich ihr das ganz klar auch so sagen müssen.
Bisher war sie allerdings diesen Fragen fern geblieben. Sie hatte eine ziemlich kaputte, und in ihrer Nachbereitung immer noch anstrengende Beziehung hinter sich, und ich merkte dass ich ihr gut tat. Dass es ihr gut tat Aufmerksamkeit zu bekommen, etwas zu unternehmen… Aber ich konnte nicht genau Einschätzen, ob sie auch nur das wollte, etwas Ablenkung, ein wenig Leben, oder ob ich ihr irgendwie mehr bedeutete. Ich traute ihr durchaus zu, zu spüren wie ich die Sache sah, und deshalb ihre wahren Gefühle zu verbergen. Irgendwann hatte mich mal ihr Ex angerufen, hat wohl meine Nummer aus ihrem Handy gesammelt und er dachte offensichtlich, ich wäre ihr neuer Freund. Ich habe mir das Gespräch nicht lange angetan, aber es schien als wäre er gekränkt weil sie dauernd von mir schwärmte.
Jetzt tratschte sie gerade mit einer guten Freundin, die ihr durch Zufall über den Weg gelaufen war. Wir standen etwas abseits, für die Musik konnte ich mich durchaus begeistern, dafür sich in einem wild springenden Pulk schwere Verletzungen durch Ellenbogen und Nietenarmbänder zuzuziehen allerdings nicht.
Die junge Dame war mit ihrem Verlobten hier, der gütiger weise gerade losgegangen war, um für alle Bier zu holen. Sie fröstelte und sagte, dass ihr ziemlich kalt sei. Ich reichte ihr meine Jacke, Caro stellte sich mit geschlossenen Augen und ausgestreckten Armen vor sie hin und begann, etwas zu murmeln. Sie war nach eigener Aussage eine Hexe, was ich ganz interessant fand. Der Naturwissenschaftler in mir hielt den größten Anteil meiner Weltsicht fest in der Hand, weshalb ich mit reichlich Skepsis gegenüber ihren Ausführungen bedacht war. Aber ich war auch neugierig und sah keinen Grund, ihre Ansichten in Frage zu stellen, also hörte ich mir gelegentlich aufmerksam ihre Schilderungen an.
Nachdem wir mit vereinten Kräften die Kälte bekämpft hatten und außerdem mit neuem Bier versorgt waren wurde ich mit einem besonderen Lied belohnt. Schon während der Ankündigung, die die klare Aufforderung erhielt, sich auf der Tanzfläche mal ordentlich auf die Schnauze zu hauen, ahnte ich, was kommen würde. Und dann spielten sie ihn, den ersten Samsas Traum Song den ich kennen gelernt hatte. Die Band spielte sich in Ekstase, das Publikum rastete völlig aus, und mich durchfuhr eine Woge der Erregung und Erinnerung.
Der Gesang setzte ein.
Mein Herz auf 180 stundenkilogramme Speed
Ein Puls der seinesgleichen sucht und Blut das vor den Adern flieht
Ich wünscht‘ ich wär‘ im Wunderland
Mit ‘ner dicken Wumme in der Hand
Und Alice lutschte meinen Schwanz
Komm schluck es Baby und dann tanz
Sofort fühlte ich mich wie von einem Strudel in meine Erinnerung gesaugt. Und ich dachte daran, dass ich jetzt viel lieber mit ihr hier wäre. Vor zwei Tagen hatte sie mir eine sms geschrieben, nach langer Zeit. Ihr ging es nicht gut, ihr neuer Freund hatte Schluss gemacht. Und sie hatte gefragt, ob sie zu mir kommen darf. Oh wie sehnlich ich mir gewünscht hatte, sie endlich einmal wieder zu sehen.
Ich weiß nicht ob ich je glücklichere Momente erlebt hatte als mit Nadine. Und dieses lange Wochenende bei ihr, als sie noch in Wien wohnte, es war fest in meine Erinnerung gebrannt. Wir hatten den einen oder anderen Joint geraucht, hörten den Song der jetzt gerade wie durch Watte an meine Ohren drang in einer Endlosschleife und erinnerten uns, aneinander gekuschelt, an andere gemeinsame Momente des puren Glücks.
Sie konnte mich so verdammt glücklich und so verdammt traurig machen. Sie selbst schien als Gemütszustand nur diese beiden Extreme zu kennen. Und nun sollte ich sie endlich wieder treffen. Ich hatte ihr geantwortet, dass sie solange sie wollte bei mir unterschlüpfen konnte. Nadine würde ich wirklich ewig beherbergen. Ich würde sie durchfüttern und umsorgen und nichts als Gegenleistung verlangen, als dass ich ihre unbeschreibliche Gesellschaft genießen durfte. Ich hatte ihr auch geschrieben, dass Samsas Traum in Hannover spielen würde, hatte gefragt ob sie schon wisse, wann sie käme, aber noch keine Antwort bekommen.
Während das Lied langsam verklang kehrte ich aus meinen Gedanken zurück. Caro zog mich an sich, doch ich erwiderte ihren Kuss mechanisch, wie aus einem Reflex heraus. Es fühlte sich seltsam an, ich kam mir wie ein Verräter vor. Noch tobte in mir der emotionale Sturm von Erinnerungen an Nadine, da küsste ich jemanden den ich im besten Fall als gute Bekannte und im schlechtesten als One-Night-Stand bezeichnen könnte.
Als die letzten Abschiedsworte verklungen waren machten wir uns auf den Weg. Ein junger Kerl, der vor dem Musikzentrum mit anderen darüber sprach, bei McDonalds zu übernachten schlug mein Angebot aus, bei mir zu schlafen und so zogen wir alleine los. Sie merkte wohl, dass ich in seltsamer Stimmung war, aber ich behauptete müde und erschöpft zu sein und sie fragte nicht weiter nach. In meiner Wohnung vollzog sie noch irgendein Abendritual, während ich im Bad verschwand. Bald darauf schliefen wir ein.
Irgendwann in der Nacht wachte ich auf. Sie lag wach und hatte mich anscheinend beobachtet. Ich wusste nicht mehr, was ich geträumt hatte, aber in mir brannte ein unglaubliches Bedürfnis nach Nähe. Wir küssten uns. Mein Kopf fühlte sich taub an, von innen. Wir schliefen wortlos miteinander, danach spürte ich wie die Taubheit sich in meinem Körper ausbreitete. Sie schmiegte sich an mich, es tat mir irgendwie leid nicht so richtig da zu sein, aber nach ganz kurzer Zeit schlief ich wieder ein.
Nachdem ich Caro am nächsten Morgen zum Bahnhof begleitet hatte kramte ich in der Schublade mit Sachen von Nadine, die ich hatte. Mir fiel das Buch in die Hände, das sie mir geschenkt hatte. Durch den Besitz des Guten sind die Glückseligen glückselig. Darin das Magnetlesezeichen mit dem süßen Kätzchen drauf, an der Stelle „Sokrates‘ philosophischer Beitrag über die Liebe“. Sie hatte mir das Buch nach einer Unterhaltung über Kugelmenschen geschenkt. Ich hatte im wundervollen Roman „Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht“ von den platonschen Kugeln gelesen. Früher waren die Menschen Kugeln, mit 4 Armen und 4 Beinen. Zeus aber hat sie durchgeschnitten, und seitdem irren wir umher wie wir sind, auf der Suche nach der anderen Hälfte, die zu uns gehört. Ich hatte das einmal Nadine gegenüber erwähnt und die Vermutung geäußert, dass wir die beiden Hälften der gleichen Kugel seien, weil ich mich mit ihr so vollständig fühlen würde. Was ich nicht wusste war, dass sie sich in der Thematik viel besser auskannte als ich und mir dann auch gleich die Basisliteratur zukommen ließ.
Ich freute mich so sehr auf sie, malte mir aus wie es werden würde sie zu sehen, versank in Träumereien über eine gemeinsame Zukunft, schwelgte in Erinnerungen. Ich versuchte, sie anzurufen um zu fragen, ob sie schon konkrete Pläne hat, aber sie ging nicht ans Handy. Das war nicht weiter verwunderlich, Nadine neigte nie allzu sehr zum Telefonieren. Und so träumte ich weiter, füllte mich mit Melancholie, Vorfreude und Dankbarkeit für die Möglichkeit, endlich so viel Ungesagtes zwischen uns zu besprechen.
Im Nachhinein weiß ich nicht, ob es mich dankbar oder traurig stimmen sollte, dass ich zu dem Zeitpunkt noch nicht wusste, dass all meine Pläne, Träume und Hoffnungen nichts als Staub im Wind waren, dass Nadine längst tot war.
Es war nicht so schlimm wie ich befürchtet hatte.
Sicher, man konnte schon deutlich erkennen, dass die Band in die Gothic Szene gehörte, nicht nur aber auch an der Kleidung der Besucher, die sich mit mir zusammen an diesem Mittwochabend im Musikzentrum Hannover versammelt hatten, um Samsas Traum zu sehen. Mit Caro und mir, um genau zu sein.
Ich war in Alltagskleidung da, das waren zwar nicht Anzug und Krawatte, aber immerhin herrschte bei mir ein auffälliger Mangel an Nietenarmbändern und Ähnlichem. Glücklicherweise hatte ich das Gefühl, nicht unangenehm aufzufallen. Ich bin in der Hinsicht zwar nicht sonderlich empfindlich, aber ich freue mich wenn ich keine abfälligen Bemerkungen ignorieren muss.
Caro hingegen war ganz und gar passend gekleidet. Von den erwähnten, großzügig mit Nieten versehen Accessoires mal abgesehen trug sie unter ihrem Ledermantel ein langes schwarzes Kleid und ewig viele kleine Glocken überall am Körper, weshalb sie den passenden Spitznamen „Glöckchen“ trägt.
Wenn ich mit ihr durch die Stadt ging fühlte ich in mir jedes Mal die Zerrissenheit, den Kampf zwischen dem Drang nicht unangenehm aufzufallen (und man fällt auf wenn jeder Schritt laut klimpert) und dem Wunsch, mit selbstbewusster Ignoranz gegenüber den gesellschaftlichen Konventionen durch die Reihen dieser angepassten Schafe zu wandeln.
Kennen gelernt habe ich sie bei einem Onlinespiel. Was meine Bekanntschaften mit Frauen angeht, zeichnet das Internet für einen nicht unwesentlichen Anteil meiner Trophäensammlung verantwortlich. Gemerkt habe ich das ziemlich früh, ich schreibe gerne und im Netz hat man eine riesige Auswahl an Gesprächspartnern. Ich werde nicht gleich auf Grund meines Alters oder Aussehens eingeschätzt, stattdessen sind die Menschen gezwungen sich näher mit mir auseinander zu setzen. Außerdem fühle ich mich wohl, während ich ansonsten absolut kein Party- oder Discogänger bin und während der Schulzeit außerdem ziemlich viel soziale Ablehnung erfahren habe. Kurzum, alleine schon aus Tradition fällt es mir leicht, Kontakt zu Netzbesuchern zu knüpfen und ganz erfolglos bin ich auch nicht wenn es darum geht, weibliches Interesse zu wecken. Caro war eine dieser weiblichen Interessenten.
Es war unser zweites Treffen, wir hatten einige Male telefoniert und beim letzten Mal miteinander geschlafen, wir küssten uns öfter und insgesamt war das Verhältnis recht innig und auch der Teil der Nacht nach dem Konzert versprach, interessant zu werden. Über Gefühle hatte bisher keiner gesprochen, und das war auch besser so. Ich fand sie nett, ganz ohne Frage, aber ich war nicht verliebt. Würde das Thema aufkommen oder sie den Eindruck erwecken mehr zu wollen, würde ich ihr das ganz klar auch so sagen müssen.
Bisher war sie allerdings diesen Fragen fern geblieben. Sie hatte eine ziemlich kaputte, und in ihrer Nachbereitung immer noch anstrengende Beziehung hinter sich, und ich merkte dass ich ihr gut tat. Dass es ihr gut tat Aufmerksamkeit zu bekommen, etwas zu unternehmen… Aber ich konnte nicht genau Einschätzen, ob sie auch nur das wollte, etwas Ablenkung, ein wenig Leben, oder ob ich ihr irgendwie mehr bedeutete. Ich traute ihr durchaus zu, zu spüren wie ich die Sache sah, und deshalb ihre wahren Gefühle zu verbergen. Irgendwann hatte mich mal ihr Ex angerufen, hat wohl meine Nummer aus ihrem Handy gesammelt und er dachte offensichtlich, ich wäre ihr neuer Freund. Ich habe mir das Gespräch nicht lange angetan, aber es schien als wäre er gekränkt weil sie dauernd von mir schwärmte.
Jetzt tratschte sie gerade mit einer guten Freundin, die ihr durch Zufall über den Weg gelaufen war. Wir standen etwas abseits, für die Musik konnte ich mich durchaus begeistern, dafür sich in einem wild springenden Pulk schwere Verletzungen durch Ellenbogen und Nietenarmbänder zuzuziehen allerdings nicht.
Die junge Dame war mit ihrem Verlobten hier, der gütiger weise gerade losgegangen war, um für alle Bier zu holen. Sie fröstelte und sagte, dass ihr ziemlich kalt sei. Ich reichte ihr meine Jacke, Caro stellte sich mit geschlossenen Augen und ausgestreckten Armen vor sie hin und begann, etwas zu murmeln. Sie war nach eigener Aussage eine Hexe, was ich ganz interessant fand. Der Naturwissenschaftler in mir hielt den größten Anteil meiner Weltsicht fest in der Hand, weshalb ich mit reichlich Skepsis gegenüber ihren Ausführungen bedacht war. Aber ich war auch neugierig und sah keinen Grund, ihre Ansichten in Frage zu stellen, also hörte ich mir gelegentlich aufmerksam ihre Schilderungen an.
Nachdem wir mit vereinten Kräften die Kälte bekämpft hatten und außerdem mit neuem Bier versorgt waren wurde ich mit einem besonderen Lied belohnt. Schon während der Ankündigung, die die klare Aufforderung erhielt, sich auf der Tanzfläche mal ordentlich auf die Schnauze zu hauen, ahnte ich, was kommen würde. Und dann spielten sie ihn, den ersten Samsas Traum Song den ich kennen gelernt hatte. Die Band spielte sich in Ekstase, das Publikum rastete völlig aus, und mich durchfuhr eine Woge der Erregung und Erinnerung.
Der Gesang setzte ein.
Mein Herz auf 180 stundenkilogramme Speed
Ein Puls der seinesgleichen sucht und Blut das vor den Adern flieht
Ich wünscht‘ ich wär‘ im Wunderland
Mit ‘ner dicken Wumme in der Hand
Und Alice lutschte meinen Schwanz
Komm schluck es Baby und dann tanz
Sofort fühlte ich mich wie von einem Strudel in meine Erinnerung gesaugt. Und ich dachte daran, dass ich jetzt viel lieber mit ihr hier wäre. Vor zwei Tagen hatte sie mir eine sms geschrieben, nach langer Zeit. Ihr ging es nicht gut, ihr neuer Freund hatte Schluss gemacht. Und sie hatte gefragt, ob sie zu mir kommen darf. Oh wie sehnlich ich mir gewünscht hatte, sie endlich einmal wieder zu sehen.
Ich weiß nicht ob ich je glücklichere Momente erlebt hatte als mit Nadine. Und dieses lange Wochenende bei ihr, als sie noch in Wien wohnte, es war fest in meine Erinnerung gebrannt. Wir hatten den einen oder anderen Joint geraucht, hörten den Song der jetzt gerade wie durch Watte an meine Ohren drang in einer Endlosschleife und erinnerten uns, aneinander gekuschelt, an andere gemeinsame Momente des puren Glücks.
Sie konnte mich so verdammt glücklich und so verdammt traurig machen. Sie selbst schien als Gemütszustand nur diese beiden Extreme zu kennen. Und nun sollte ich sie endlich wieder treffen. Ich hatte ihr geantwortet, dass sie solange sie wollte bei mir unterschlüpfen konnte. Nadine würde ich wirklich ewig beherbergen. Ich würde sie durchfüttern und umsorgen und nichts als Gegenleistung verlangen, als dass ich ihre unbeschreibliche Gesellschaft genießen durfte. Ich hatte ihr auch geschrieben, dass Samsas Traum in Hannover spielen würde, hatte gefragt ob sie schon wisse, wann sie käme, aber noch keine Antwort bekommen.
Während das Lied langsam verklang kehrte ich aus meinen Gedanken zurück. Caro zog mich an sich, doch ich erwiderte ihren Kuss mechanisch, wie aus einem Reflex heraus. Es fühlte sich seltsam an, ich kam mir wie ein Verräter vor. Noch tobte in mir der emotionale Sturm von Erinnerungen an Nadine, da küsste ich jemanden den ich im besten Fall als gute Bekannte und im schlechtesten als One-Night-Stand bezeichnen könnte.
Als die letzten Abschiedsworte verklungen waren machten wir uns auf den Weg. Ein junger Kerl, der vor dem Musikzentrum mit anderen darüber sprach, bei McDonalds zu übernachten schlug mein Angebot aus, bei mir zu schlafen und so zogen wir alleine los. Sie merkte wohl, dass ich in seltsamer Stimmung war, aber ich behauptete müde und erschöpft zu sein und sie fragte nicht weiter nach. In meiner Wohnung vollzog sie noch irgendein Abendritual, während ich im Bad verschwand. Bald darauf schliefen wir ein.
Irgendwann in der Nacht wachte ich auf. Sie lag wach und hatte mich anscheinend beobachtet. Ich wusste nicht mehr, was ich geträumt hatte, aber in mir brannte ein unglaubliches Bedürfnis nach Nähe. Wir küssten uns. Mein Kopf fühlte sich taub an, von innen. Wir schliefen wortlos miteinander, danach spürte ich wie die Taubheit sich in meinem Körper ausbreitete. Sie schmiegte sich an mich, es tat mir irgendwie leid nicht so richtig da zu sein, aber nach ganz kurzer Zeit schlief ich wieder ein.
Nachdem ich Caro am nächsten Morgen zum Bahnhof begleitet hatte kramte ich in der Schublade mit Sachen von Nadine, die ich hatte. Mir fiel das Buch in die Hände, das sie mir geschenkt hatte. Durch den Besitz des Guten sind die Glückseligen glückselig. Darin das Magnetlesezeichen mit dem süßen Kätzchen drauf, an der Stelle „Sokrates‘ philosophischer Beitrag über die Liebe“. Sie hatte mir das Buch nach einer Unterhaltung über Kugelmenschen geschenkt. Ich hatte im wundervollen Roman „Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht“ von den platonschen Kugeln gelesen. Früher waren die Menschen Kugeln, mit 4 Armen und 4 Beinen. Zeus aber hat sie durchgeschnitten, und seitdem irren wir umher wie wir sind, auf der Suche nach der anderen Hälfte, die zu uns gehört. Ich hatte das einmal Nadine gegenüber erwähnt und die Vermutung geäußert, dass wir die beiden Hälften der gleichen Kugel seien, weil ich mich mit ihr so vollständig fühlen würde. Was ich nicht wusste war, dass sie sich in der Thematik viel besser auskannte als ich und mir dann auch gleich die Basisliteratur zukommen ließ.
Ich freute mich so sehr auf sie, malte mir aus wie es werden würde sie zu sehen, versank in Träumereien über eine gemeinsame Zukunft, schwelgte in Erinnerungen. Ich versuchte, sie anzurufen um zu fragen, ob sie schon konkrete Pläne hat, aber sie ging nicht ans Handy. Das war nicht weiter verwunderlich, Nadine neigte nie allzu sehr zum Telefonieren. Und so träumte ich weiter, füllte mich mit Melancholie, Vorfreude und Dankbarkeit für die Möglichkeit, endlich so viel Ungesagtes zwischen uns zu besprechen.
Im Nachhinein weiß ich nicht, ob es mich dankbar oder traurig stimmen sollte, dass ich zu dem Zeitpunkt noch nicht wusste, dass all meine Pläne, Träume und Hoffnungen nichts als Staub im Wind waren, dass Nadine längst tot war.