Blutmond

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ChinoNF

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„Hast du den Mond gesehen, Jonas? Rot und riesig ist er heute Nacht. Weißt du, wie man das nennt?“
Papa begeisterte sich immer für die komischsten Dinge.
„Nee, keine Ahnung.“ Ich zuckte mit den Schultern.
„Egal, ich erkläre es dir. Komm, das müssen wir uns anschauen.“
Schon hatte er die Terrassentüre aufgeschoben. Ein lauwarmer Windstoß wehte die Vorhänge ins Wohnzimmer. Das Rauschen der Wellen war heute besonders laut.

Die Kerze auf dem Tisch flackerte, dann verlosch sie. Der Geruch des Rauchs erinnerte mich an Mama. Sie hatte Kerzen geliebt. Jeden Abend zündete sie eine an, manchmal mehrere.

„Muss das sein? Ich zocke gerade mit Pit.“ Pit war mein Freund in Deutschland, wann immer möglich verabredeten wir uns über das Internet.
Hier auf der Insel hatte ich noch keinen Freund gefunden.
„Du musst Spanisch lernen, Jonas. Dann findest du auch Freunde, glaub mir“, hatte Papa noch gestern gesagt. Für ihn war immer alles so einfach.
„Komm jetzt. So was bekommt man nicht oft zu sehen.“
„Na gut, wie du meinst.“
Ich schrieb Pit, dass wir später weitermachen würden und klappte den Laptop zu.

Manchmal war es ja schön, dass Papa mir immer alles erklärte und zeigte. Aber manchmal nervte er auch ein bisschen.
„Was gibt’s denn so Tolles zu gucken?“ Ich schlurfte auf die Terrasse.
Papa hatte es sich im wahrscheinlich einzigen Strandkorb der Kanarischen Inseln bequem gemacht. Letztes Jahr, nach Mamas Tod, hatte er darauf bestanden, ihn mitzunehmen.
„Erinnerungen. Weißt du, dieser Strandkorb steckt voller Erinnerungen.“ Welche, hatte er mir nicht verraten.
Bestimmt war das auch wieder so ein „Mama-Papa-Ding“.
„Mama-Papa-Dinger sind nichts für Jungs in deinem Alter. Das ist ein Eltern-Geheimnis“, hatten Mama und er gesagt.

„Setz dich zu mir.“ Er blickte in den Himmel. „Blutmond nennt man das. Eigentlich sieht man den nur bei einer totalen Mondfinsternis. Aber zu ganz besonderen Gelegenheiten gibt sich der Mann im Mond ganz viel Mühe. Dann färbt er den Mond rot. So wie heute Abend.“
„Nee, is klar“, antwortete ich. Mann im Mond? Den kannte ich aus dem Schlaflied, dass Mama mir gesungen hat, als ich noch klein war.

„Mama fehlt mir.“
„Ich weiß. Sie fehlt mir auch.“ Er seufzte. Eine Träne kullerte über seine Wange.
„Papa, was, wenn das gar nicht der Mann im Mond ist? Bestimmt ist es ein Zeichen von Mama, dass sie immer bei uns ist?“
„So wird es sein“, antwortete er.
Plötzlich war Mama uns ganz nah.
 

Max Neumann

Mitglied
Bewegend, wie von einem harten Verlust in einfacher, unprätentiöser Weise erzählst. Das hat mich wirklich bewegt. Eine schöne und kurze Geschichte, ChinoNF.

LG
Tissop
 

ChinoNF

Mitglied
Hallo Tissop,

vielen Dank für Deine Beurteilung. Es freute mich, dass ich Dich mit meiner Geschichte erreichen konnte. Mir war es wichtig, trotz der Kürze der Story eine gewisse Atmosphäre zu erzeugen, die es dem Leser ermöglicht, in die Geschehnisse einzutauchen. Wenn mir das gelungen ist und die Geschichte vielleicht auch noch gut lesbar erscheint, hätte ich mein Ziel an dieser Stelle erreicht.

LG
ChinoNF
 



 
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