Briefgeheimnis

Bo-ehd

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Carlotta war leicht über den Waschtisch gebeugt und zauberte mit einer runden Bürste sanfte Wellen in ihr Haar. Ich begrüßte sie mit einem betont freundlichen “Hi“ und stellte mich dicht hinter sie. Sie lächelte verhalten in den Spiegel. Unsere Ehe litt in den letzten Monaten unter heftigen Spannungen, und deshalb versuchte ich, ein wenig gute Stimmung aufzubauen. Meine Hände glitten von ihren Achseln hinab über ihre Hüfte bis zu ihrem Po.
„Du hast eine Taille wie eine Sanduhr. Unglaublich!“ Ich bin im Komplimentemachen nicht so gut, aber dieses Mal war ich mir sicher, dass sie sich geschmeichelt fühlte.
Sie zog die Augenbrauen hoch. „Hast du keine anderen Sorgen?“, antwortete sie und begann, das Badezimmer mit Haarspray einzunebeln.
Ich flüchtete in die Küche. Natürlich hatte ich Sorgen, und das nicht zu wenig. Als ich mich setzte, sah ich ihn auf dem Tisch liegen, diesen schneeweißen Briefumschlag mit dem Stempel von BettingHouse auf der Rückseite. Der Umschlag war geöffnet und provisorisch wieder zugeklebt worden.
„Du öffnest meine Post?“, rief ich vorwurfsvoll ins Bad. Und bevor sie antworten konnte, fügte ich hinzu: „Das ist ein Straftatbestand, auch unter Eheleuten. Kannst du mir mal erklären, warum du das getan hast?“ Ich zwang mich, die Beherrschung nicht zu verlieren und wartete auf ihre Antwort. Dabei zog ich den Brief aus dem Umschlag, und während ich ihn las, spürte ich, wie das Blut aus meinem Gesicht wich. In dem Moment nahm Carlotta mir gegenüber Platz. Sie setzte die finsterste Miene auf, die ich je an ihr gesehen habe. Dann zündete sie das Feuerwerk, das ich erwartet hatte.
„Es reicht nicht, dass ich einen Spieler geheiratet habe. Du verprasst seit acht Monaten unser Geld. Du hast unser Ansparkonto geplündert, das für den Wohnungskauf vorgesehen war. Mit fadenscheinigen Argumenten forderst du Geld, immer mehr Geld, regelmäßig, Woche für Woche. Wir müssten schon drei neue Autos haben, soviel hast du angeblich für Reparaturen ausgegeben. Es half nicht einmal, dass ich dir letzten Monat alle Konten habe sperren lassen. Du machst einfach immer weiter. Und jetzt weiß ich auch wie. Was soll das alles bedeuten!“ Sie riss mir den Brief aus der Hand und las ihn demonstrativ laut vor:

Hallo Gernot,
das ist die vierte und wirklich letzte Mahnung. Ich wollt dich nur daran erinnern. Letztmalig!!! Zahl endlich die verdammten 4800 Euro, sonst können wir künftig keine Geschäfte mehr machen.
Ich verlass mich auf dich.
B. K. – BettingHouse


Ich will mich kurz fassen: Von mir bekommst du das Geld nicht. Und was das Briefgeheimnis angeht, das wird erst wieder gewahrt, wenn du mit diesem Wettwahnsinn aufgehört hast. Du siehst ja selbst, wie berechtigt es ist, dass ich deine Post öffne. Jetzt weiß ich endlich Bescheid. Geh mir aus den Augen!“
Ich verkroch mich in mein Arbeitszimmer und spürte, wie mir das Wasser in den Augen stand. Ich Idiot riskierte meine Ehe, meinen Arbeitsplatz, meine Kreditwürdigkeit und meinen Ruf sowieso. Mir war völlig klar, wie ich enden würde, wenn ich weitermachte wie bisher. Den Willen, mit Wetten und Spielen aufzuhören, festigte ich gedanklich so sehr, dass ich plötzlich felsenfest selbst daran glaubte. Aber wo bekam ich jetzt schnell die 4800 Euro her? Gab es noch jemanden auf dieser Welt, der mir einen Gefallen schuldig war und den ich anpumpen könnte?
Nein, diesen Menschen gab es nicht. Ich beschloss, noch einen Versuch bei meiner so geliebten Frau zu wagen. So sauer sie auf mich auch war, sie war meine letzte Rettung. Aber Carlotta machte sofort zu, als ich davon anfing. „Wahrscheinlich musst du erst in den Knast gehen, um zu kapieren, was du hier angerichtet hast“, belferte sie. Es war immer dieselbe Leier. Es wäre doch nur noch dieses eine Mal, dass sie mir helfen müsste. Und ich würde auch garantiert aufhören …

*

Ich ging in die Innenstadt und klapperte meine „Geschäftspartner“ ab. Zuerst besuchte ich Jo, eigentlich Johannes. Er leitete ein Wettbüro und einen An- und Verkauf von Waren aller Art. Dahinter verbarg sich ein Pfandhaus. Aber als ich ihn fragte, öffnete er eine Kladde und zog einen Schuldschein heraus. „270 magere Euro seit fünfeinhalb Monaten! Wenn du solche Beträge nicht schaffst, wie willst du einen Kredit mit regelmäßigen Ratenzahlungen bewältigen? Sorry, mein Freund. Vielleicht versuchst du es mal bei Enninger.“
Enninger war spezialisiert auf Pferderennen und das ganze Wettbüro in persona. Er verlieh aber auch ganz gern Geld, wenn es sich um Notlagen handelte, bei denen er 2% Zinsen pro Monat verlangen konnte. Als ich ihm meine Sachlage erklärte, griff er in eine Box neben der Kasse und holte eine rote Karte hervor. Er legte sie auf den Tresen, und ich überflog sie:

Mertens, Gernot
Zahlungen nur in BAR
Keine Schecks, Wechsel oder Abbuchungen
Debit 800 Euro 23. 11. 2022

„Franz, bitteee!“, flehte ich ihn an. „Ich stecke so tief in der Klemme, ich weiß nicht, wie ich ohne dich da rauskommen soll. Hilf mir bitte noch dieses eine Mal!“
„Das Haus hat seine Regeln“, erklärte er mir. „Alles wird ganz oben entschieden. Ich bin nur der Frontsoldat. Ich kann beim besten Willen nichts für dich tun.“
„Was für ein Scheißkerl!“, fluchte ich, als die Tür hinter mir ins Schloss fiel.
„Tut so, als hätte er einen Chef. Was für ein Heuchler!“

Meine letzte Hoffnung war BettingHouse, mein Gläubiger. Ich versuchte, eine Verlängerung zu erreichen. „Gib dir einen Stoß, Bruno. 14 Tage reichen mir, dann kriegst du garantiert die ganze Summe“, flehte ich ihn an.
„Es geht nicht um mich, Gernot. Ich würde dir helfen, wenn ich könnte. Hab selbst schon einen Anschiss bekommen, weil ich zu viele Außenstände zulasse. Ich bin auf diesen Job angewiesen und kann nichts riskieren. Ich hab zwei kleine Kinder.“
„Was soll ich denn jetzt machen?“, fragte ich in meiner Verzweiflung. „Ich kann doch nicht den Pelzmantel meiner Frau versetzen. Es ist Winter!“ Ich spürte Panik, aber plötzlich wurde ich ziemlich ruhig. „Bruno, gib mir mal ein Blatt Papier und einen Stift. Mir ist da etwas eingefallen. Ich begann, in Blockschrift zu schreiben:

Hallo Gernot,
der Chef hat deinen Vorgang zum Inkasso gegeben. Du weißt, das sind die Männer in den schwarzen Anzügen und mit den dunklen Sonnenbrillen. Sie sind nicht zimperlich. Zuerst zwicken sie dir mit einer Zange ein oder zwei Finger ab, und wenn sie dann immer noch kein Geld sehen, geht’s an die Gurgel. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Wir kennen uns ja schon seit Jahren, deshalb will ich dich vorwarnen.
Sieh zu, dass du das mit der Zahlung hinkriegst.
Bruno


Das konnte Carlotta nicht kalt lassen. Ich war mir sicher, dass sie diese Grenze nicht überschreiten würde. Voller Hoffnung steckte ich das Blatt in einen Briefumschlag und bat Bruno, ihn zu adressieren und die Rückseite abzustempeln, so dass er genauso aussah wie der, den ich gestern erhalten hatte. Auf dem Heimweg warf ich ihn frankiert in den Briefkasten. Innerorts erfolgt die Zustellung am folgenden Tag, behauptet die Post.
Als ich am nächsten Tag, einem Freitag, kurz nach Mittag von der Arbeit nach Hause kam, spielte ich das tief betroffene Unschuldslamm. Ich setzte mich an den Küchentisch, sah meiner Frau kurz beim Kochen zu und griff nach der Tageszeitung. Während ich sie für Carlotta gut hörbar aufschlug, fragte ich ganz beiläufig, ob irgendwelche Post für mich gekommen sei.
„Nein, nichts. Nur die Zeitung und ein Werbeprospekt. Erwartest du etwas Bestimmtes?“
„Nee nee, ich frag nur so. “
Die Post!, fluchte ich in mich hinein. Schaffen die nicht einmal die zwei Kilometer über Nacht?! Ich hatte mich ausführlich auf das erwartete Gespräch mit Carlotta vorbereitet. Nun blieb mir nichts anderes übrig, als zu warten.
Am Tag darauf kam ich relativ spät aus dem Bett, weil ich die ganz Nacht mit dem Gespräch mit Carlotta gedanklich beschäftigt war. Auf dem Küchentisch lag die Tagespost: zwei Rechnungen, der neue Terminkalender für die Müllabfuhr und eine etwas verfrühte Weihnachtskarte von Carlottas Tante. Ich versuchte, mir meine Nervosität nicht anmerken zu lassen, und ich war ratlos. Was war da los?
 

Bo-ehd

Mitglied
Ja, ja, so schnell kommen missgestimmte Ehefrauen zu Geschäften mit den schwarzen Anzügen.

Gruß Bo-ehd
 



 
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