Bullerlux 9

Den Rest des Tages widmete sich jeder von ihnen seinen eigenen Angelegenheiten. Mama und Papa richteten ihr Schlafzimmer für Oma und Opa her, sie selbst würden auf dem Sofa schlafen.
Bruno verbrachte lange Zeit im Hof, untersuchte den Baum, von dem Papa gesprochen hatte und wusste schon bald ganz genau, wie das Baumhaus auszusehen hatte. Astrid machte sich ihre Ecke des Kinderzimmers heimelich, hing ihre liebsten Poster auf und verschraubte ganz ohne Papas Hilfe zwei Regalbretter in der Wand: eines für ihre Bücher und eines für ihre CD’s.
Gerda malte ein großes Bild von dem neuen Haus, der Schaukel und dem Baumhaus, das es noch gar nicht gab. Und ganz winzig klein, direkt neben den Baum, malte sie eine Tasse warme Milch und einen Teller voll Kekse mit rosa Feenstreuseln darauf.
Am Abend lagen Bruno und Gerda lange wach. Sie fragten sich, ob der Nachtling sie wieder besuchen würde, doch so lange Astrid nicht schlief, konnten sie nicht darüber sprechen, denn er war ja ihr Geheimnis. Bruno war sich sicher, dass der Nachtling vorher auch nicht kommen würde; wenn er denn kam …
Es wurde spät und Gerda hatte Mühe, überhaupt wach zu bleiben. Immer wieder fielen ihr die Augen zu. Dann setzte sie sich auf und sah zu Astrids Bett hinüber.
Nach einer gefühlten Ewigkeit ertönte das vertraute Tsching, tsching, tsching und bald darauf erklang das raschelnde Wispern des Nachtlings.
„Ihr schlaft ja noch gar nicht, ihr zwei Nachteulen“, begrüßte er die Kinder.
„Wir haben auf dich gewartet“, sagte Gerda und kletterte die Leiter hinab.
„Ja, wir wollen mehr hören“, sagte Bruno begeistert. „Erzähl uns mehr aus deiner Welt.“
„Wie ist es bei dir?“, fragte Gerda drängelnd. „Wie sieht es aus? Was macht ihr dort?“ Das Füchslein kicherte heiser: „Na, du bist ja ein ganz neugieriges Nachtgespenst. Kuschel dich erst einmal zu deinem Bruder.“ Und nachdem Gerda dies getan hatte, schmiegte sich der Fuchs selbst in die Bettdecke, legte sich auf den Rücken und betrachtete das obere Lattenrost, als sähe er darin den Sternenhimmel.
„Schließt die Augen und lasst euren Blick schweifen“, begann der Nachtling rätselhaft. „In unserer Welt gibt es einen unendlichen Wald. In ihm leben wir - na, zumindest die meisten von uns … Seine Bäume sind so hoch, dass man vom Moos aus kaum ihre Kronen sehen kann. Ihre Äste und Wurzeln sind wild verwoben und saugen Energie und Gedanken in sich auf. Auf dem Waldboden wachsen Keimlinge, die die Träume tragen. Wenn sie kräftig genug sind, lösen sich die Träume und steigen auf, hinauf zu den Blättern.“ Für einen Moment sprach der Fuchs nicht weiter, ganz als würde er einem der schwebenden Träume nachsehen. „Und der Bullerlux ist so etwas wie der Förster oder ein Gärtner. Er kümmert sich um die Keimlinge und behält das Moos im Auge. Er sorgt dafür, dass der Wald in Ordnung bleibt, damit wir gut darin leben können.“
„Bei euch wachsen Träume?“, fragte Bruno verständnislos. „Sind das diese Traumblasen, von denen du gestern gesprochen hast?“
„Ganz genau die sind das“, sagte der Nachtling und Bruno und Gerda konnten richtig hören, wie er dabei ganz breit und versonnen lächelte. „Die wachsen bei uns überall … aus dem Boden, in Knospen und an Keimlingen – ganz winzig klein sind sie am Anfang noch … sie sehen ein bisschen aus wie eure Seifenblasen und leuchten in allen denkbaren Farben, jede in einer anderen. Und sie bringen das Licht in den Wald. Mit der Zeit wachsen sie und wenn sie groß genug sind, schweben sie und irgendwann vergehen sie auch, wie alles andere.“ Der Fuchs blickte träumerisch in die Luft. „Ich schaue ihnen gerne zu, wenn sie vorbei schweben und sacht gegeneiner stupsen. Es gibt nichts beruhigenderes.“ Sein Blick verschwamm irgendwo an Gerdas Matratze.
„Und wo gehen die Träume hin, wenn sie vergehen?“, wollte Gerda wissen.
„Und wo kommen sie her?“, fragte Bruno.
„Na, sie kommen von euch.“
„Von uns?!“ Bruno und Gerda machten große Augen.
„Klar“, sagte der Nachtling, als wäre das eine logische Selbstverständlichkeit. „Es sind eure Träume und Wünsche und euer Glaube an Wunder und Fantastisches, den ihr als Kinder noch habt.“
„Wieso noch?“, fragte Gerda sofort, während Bruno ein wenig verlegen dreinsah.
„Ist es dir nicht aufgefallen?“
Gerda runzelte ihre kleine Stirn. „Was denn?“
„Erinnere dich daran, wie du zusammen mit Astrid die Fotos aufgehängt hast. Was hat sie getan, als ich herumgesprungen bin?“ Gerda überlegte und dann fiel es ihr wieder ein.
„Sie hat die Rahmen alle wieder gerade gemacht, als wenn …“ und ihre Augen wurden wieder kugelrund.
„Als wenn sie mich gar nicht gesehen hätte?“, hakte das Füchslein nach.
„Ja, genau. Aber-“
„Eure Schwester ist schon auf dem Weg zum Erwachsensein. Ihre Welt verändert sich. Sie glaubt schon nicht mehr an die Dinge, an die sie als Kind glaubte und sie träumt auch nicht mehr von verborgenen Orten. Sie kann mich kaum noch sehen, weil sie nicht mehr an Wesen wie mich glaubt. Ihre Blasen sind blass geworden und leuchten kaum noch, bald vergehen sie. Mit den meisten Blasen passiert das irgendwann, nur wenige bleiben scheinbar ewig“, der Nachtling klang mit einem Mal sehr traurig.
„Was ist denn?“, fragte Bruno ganz leise.
„Ach …“, seufzte der Fuchs. „Wisst ihr, früher gab es Millionen und aber Millionen Traumblasen bei uns und immerzu wuchsen neue. Doch seit einigen Generationen wachsen immer weniger, sie vergehen schneller und es wird immer dunkler in unserem Wald.“
„Wieso werden es weniger?“, wollte Bruno wissen.
„Früher haben viel mehr Menschen an unsere Welt geglaubt; an Kobolde, Feen und Geheimnisse. Auch viele Erwachsene und sie haben die Geschichten ihren Kindern und Enkeln erzählt. Doch wenn Erwachsene nicht mal ein klitzekleines Bisschen an unsere Welt glauben, tun es ihre Kinder meistens auch nicht. Die Welt der Menschen wird immer eintöniger und so ... lieblos …“
„Unsere Oma erzählt uns immer Märchen von Feen und Kobolden, wenn wir bei ihr sind“, sagte Gerda munter.
„Und Papa hat uns schon oft vom Bullerlux erzählt“, sagte Bruno.
„Doch trotzdem glaubt eure große Schwester nicht mehr. Eure Welt hat sich sehr verändert und so wird es wohl auch die unsere.“
Bruno und Gerda trauten sich nichts zu erwidern, das Füchslein sah zu traurig aus. Dann sprach Bruno doch: „Können wir euch helfen?“ Der Nachtling lächelte ein ganz kleines Bisschen.
„Bewahrt euch euren Glauben an das Ungewöhnliche und hört niemals auf, zu träumen.“ Plötzlich zuckten seine großen spitzen Ohren und sein Blick wurde ernst. „Ich muss los. Schlaft gut und träumt etwas Schönes. Bald besuche ich euch wieder und erzähle euch von Eichblatt, Plimper und den anderen. Macht‘s gut!“ Und schwupps war der kleine gelbe Pinselschwanz unter der Fußleiste verschwunden.
 



 
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