Camelot Teil 1 - Eine seltsame Vorgeschichte

Camelot – eine neue Spur

Teil 1: Eine seltsame Vorgeschichte

Nebel-Land
Der See ist nahezu komplett vom Nebel eingehüllt. Jill hat alle Mühe, den Nachen zu der angegeben Insel zu bugsieren.
Knarrend reibt der hölzerne Bug sich in den Kiesstrand.
Jill schaut sich vorsichtig um. Wider Erwarten ist die Insel komplett nebelfrei. Die Vögel zwitschern, ein paar Maikäfer fliegen fröhlich herum, die Luft ist mild und warm – und Jill hört keine menschlichen Laut. Wie auf Bestellung krächzt ein Rabe aus dem undurchsichtigen Inneren der Insel. Jill schmunzelt; sie mag Raben.
Sie steigt nun aus dem Boot und vertäut dieses umsichtig an einem Baumstumpf auf dem Strand.
Ihr Herz pocht auf einmal wie von einem Hammerschlag getroffen. Sie hat ein unbeschreibliches starkes Gefühl, das ihren Körper wie eine große Welle durchströmt. Kann ein Mensch die Gegenwart eines Geheimnisses spüren? Gibt es eine kurzfristig wirksame Präkognition in uns?
Jill checkt ihr Smartphone, doch sie bekommt keinen Empfang. Still nickt sie in sich hinein. Genau das hatte sie hier, an diesem seltsamen Ort, erwartet, keinen Empfang.
Leicht lässt sie nun den Rucksack von ihrer Schulter gleiten. Daraus entnimmt sie eine sorgfältig in Klarsichtfolie eingelassene Landkarte.
Dort drüben führt ein Weg in den Wald. Jill dreht sich um. Die Konturen des Strandes stimmen mit den Linien auf der Karte überein, und der Weg ist ebenfalls eingezeichnet.
Zwei Dinge stimmen schon. Das ist ein guter Anfang, denkt sie.
Sie atmet einmal tief ein und geht dann zielstrebig auf den Weg im Dickicht zu.

Eine seltsame Vorgeschichte
Jill ist dreiundzwanzig und studiert Jura in Brüssel.
Brüssel ist für sie der perfekte Ort, um das Fach zu studieren. Denn in Brüssel liegt der Hauptsitz der Europäischen Gemeinschaft. Und die EU braucht Juristen in rauen Mengen. Also dachte sich Jill – auf nach Brüssel. Jura studieren und jede Menge Kontakte schaffen für die Zeit nach dem Studium. Und das klappt auch.
Da ist noch etwas mit Jill. Sie ist ein Fantasy-Fan.
Ihre Lieblingsgeschichten spielen in Schottland. Was liegt also näher, als dass sie ihre Semesterferien, so oft wie möglich, in ihrem Caledonia verbringt. Caledonia ist der lateinisch-keltische Name von Schottland. Und Jill liebt die keltische Kultur, ihre Sagen - und ihre Geheimnisse.
Das größte Geheimnis liegt in Camelot – dem sagenhaften Schloss des märchenhaften König Artus.
„Jetzt ist die Zeit gekommen – für die Entdeckung von Camelot?“. Jill schmunzelt in sich hinein.
Gestern Abend ist sie in Edinburgh gelandet und hat in diesem niedlichen Familienhotel eingecheckt.
Nach dem Abendessen hat sie in ihrem Zimmer das kleine, dünne Buch wieder einmal studiert. Johann Wilhelm von Albig heißt der Verfasser der Schrift: „Die Artus-Sage in neuem Licht“.
Dieses Büchlein hatte Jill im März dieses Jahres bei einem Antiquar in der Avenue Louise in Brüssel erstanden. Das Geheimnis von Camelot wurde laut dem Verfasser in den vergangenen Jahrhunderten komplett falsch angegangen. Alle Forscher haben das mutmaßliche Schloss Camelot nach Caerleon in Wales, in die Nähe der heutigen Stadt Newport, verlegt. Generationen von Gralsgläubigen haben teilweise ihr Leben damit verbracht, den Gral am falschen Ort zu suchen.
Johann Wilhelm von Albig entstammt, wie er über sich selbst angibt, einem alten Adelsgeschlecht aus der Nähe von Nürnberg. Über viele Generationen ließ sich seine Herkunft auf das Königsgeschlecht der Merowinger zurückverfolgen.
Einer seiner frühesten Vorfahren, Chlodwig von Aue, war ein enger Freund von Chlothar I., der um das Jahr fünfhundert als König in Neustrien herrschte.
In der Schlacht von Montauban hatte König Chlothar seinem Getreuen und Freund eine Lanze und eine Schale übergeben mit dem Befehl, diese an einer genau festgelegten Stelle in Nordland zu verbergen – bis zu dem Tag, an dem das Geheimnis wieder gelüftet werden soll. Welches Geheimnis diese beiden Kult-Gegenstände enthalten, dies ist ein Rätsel, das viele Menschen über Jahrhunderte zu lösen versuchen.
Der Merowinger Fürst war ein ausgesprochen kluger Mann. Er hat eine Spur nach Camelot ins heutige Wales gelegt, der natürlich viele Sucher folgen würden. Die zweite Spur, über Chlodwig von Aue, hatte er geheim gehalten. Und sein getreuer Gefolgsmann, Chlodwig, hatte geschwiegen.
Nun ist das Wissen, nach vielen Hundert Jahren, bei Jill Patrique, die aus einem kleinen Ort in der Nähe von Brüssel stammt, gelandet. Seitdem sie das Buch gekauft hat, fragt sie sich: „Warum bin ausgerechnet ich die Auserwählte?“.
Sie kann diese Frage im Moment noch nicht beantworten. Aber Jill spürt, dass sie der Lösung des Rätsels um Camelot näher kommt, hier in der Nähe von Edinburgh.
Sie ist erfüllt von einem tiefen Vertrauen, fast möchte sie schon sagen, von einem überirdisch festen Glauben an ein überraschendes Ergebnis ihrer Reise.

Und los geht`s.
Es ist Juli, es ist ein wundervoller Morgen – und Jill ist in top Form.
Sie hat ihr Frühstück beendet und ihren Rucksack gepackt.
Mit einem herzlich Dankeschön verabschiedet sie sich von den freundlichen Gastgebern und besteigt ihren Mietwagen,
Und nun beginnt für Jill das Abenteuer ihres Lebens …
 



 
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