Camelot Teil 6: Ein drohender Schatten

Camelot Teil 6: Ein drohender Schatten

Schottische Schauermärchen
Der Schattenmann

1 Schottische Schauermärchen
Jill ist mit dem Ruderboot von der Insel zum Bootsverleih am Festland zurückgekehrt.
Das Schwert stellt jetzt ein Problem für sie dar. Der Griff und ein gutes Stück der Klinge schauen nämlich aus dem Rucksack heraus. Ein neugieriger Passant könnte unangenehme Fragen stellen.
Was tun?
Jill überlegt. Zuerst rudert sie etwas abseits von der Anlegestelle zum Parkplatz. Dort vertäut sie das Boot so gut sie kann. Dann sprintet sie mit ihrem Gepäck zu dem grünen Mini Leihwagen.
Sie schaut sich hastig um. Sie kann keine weitere Person entdecken. Rasch verstaut sie ihre Eroberung im Kofferraum und verschließt diesen sorgfältig. Sie ist schon ein paar Schritte zurück zum Ufer gegangen, da kehrt sie noch einmal um. Sie rüttelt leicht am Griff der Kofferraumklappe. Diese ist gut verschlossen.
Nun nimmt sich Jill die Zeit, um kurz aufzuatmen. Sie schaut hinüber zum Bootshaus. Der Vermieter sitzt wohl wieder in seinem Kabuff und sieht fern, so wie er es bei ihrer Abfahrt getan hat. Auch sonst ist kein Mensch zu sehen. Es ist Freitagmorgen, und sie ist die einzige Kundin.
Jill holt noch einmal Luft und macht erneut sich auf dem Weg zum Boot.
An der Anlegestelle vertäut sie das Boot umsichtig. Im Büro des Vermieters entdeckt sie den Mann dann auch tatsächlich vor dem Fernseher. Er dreht sich nun zu ihr um und lächelt sie freundlich an.
„Nun, haben Sie Ihren Spaß auf dem See gehabt?“, fragt er fröhlich.
„Ja, danke“, antwortet Jill.
„Dies ist ein schönes Stück Natur“, fügt sie hinzu.
„Ja, ja, schön ist es hier“, fährt der Mann fort. Dabei nimmt er die Pfeife aus dem Mund und kommt nun auf Jill zu.
„Allerdings gibt es auch eine Menge skurriler Geschichten über den See zu erzählen.“
Jill zieht fragend die Augenbrauen hoch.
„Zum Beispiel über Lynn, den Fischer, der nie älter wird. Er soll schon seit über tausend Jahren in diesem See im See fischen. Er soll aussehen wie ein alter Mann, aber lachen kann er wie ein junger Bursche. Und wenn ein Mensch mit reinem Herzen zum See kommt, dann schenkt er diesem ein altes, wertvolles Stück aus seinem See. Damit findet die beschenkte Person dann ihren Weg zu einem Leben voller Glück, har har har …“.
Der Vermieter lacht lauthals aus sich heraus. Dann schaut er Jill wieder an.
„Nichts für Ungut, liebe junge Frau. Ich habe Ihnen nur eine alte Schauermär erzählt. Wir Schotten lieben solche Geschichten.“
Jill ist blass geworden. Soll sie dem Vermieter seine Story abkaufen? Sie ist unentschlossen.
Sie hat es nun eilig. Den Mietpreis für die Bootsleihe hat sie bereits vorher bezahlt. Sie verabschiedet sich nun rasch von dem Mann und strebt mit langen Schritten dem Parkplatz zu.
Im Wagen pustet sie sich eine Strähne aus der Stirn.
„Auwei“, denkt sie. „Ich kaufe ein blödes Buch in einem Antiquariat in Brüssel und treffe einen verrückten Märchenerzähler an einem Touri-See bei Edinburgh. Und ich, ich blöde Nuss, mache das auch noch alles mit.“
Sie betrachtet sich im Rückspiegel.
Das Schwert – es ist real. Das Ding ist da. Johann Wilhelm von Albig hatte den Fundort in seinem Buch genau beschrieben.
Und die Begegnung mit dem alten Mann am See war auch wirklich. Sie ist nicht verrückt oder bekifft oder sonst etwas. Sie hat diese Dinge wirklich und bewusst erlebt.
Jill überlegt.
Zuerst muss sie das Schwert in Sicherheit bringen. So wie der Knauf aus dem Rucksack herausguckt gibt das möglicherweise einen Menschenauflauf oder ein ähnliches Fiasko.
Jill schaltet ihr Smartphone ein. Sie hat wieder einen Netzzugang. Misstrauisch schaut sie zum See hinüber in Richtung der Insel. Dort drüber, keine fünfhundert Meter weiter, gab es keinen Netzbetrieb. Wie kann das sein?
„Na egal“, sagt sie zu sich. Zuerst poppen die Nachrichten auf. Zweimal Luca und einmal scoony.
„Luca, Luca – endlich habe ich wieder Kontakt mit dir“, frohlockt sie innerlich.
Schnell schaut sie die Messages durch. Er ist auf dem Weg von London nach Edinburgh. Er fährt mit Nils. Aha, das ist Nils Bors, ein Freund von Luca. Sie werden am Abend in der Pension eintreffen.
Endlich, endlich ist sie dann nicht mehr allein mit diesen sonderbaren Dingen, die hier geschehen.

Der Schattenmann
Dann scoony. „Wer ist scoony? Ist das wieder eine Abzocker-Adresse?“, fragt sie sich.
Jill will die Nachricht gerade löschen, da durchtost ihren Körper eine ungestüme Hitzewelle. Gleichzeitig fühlt sie ein äußerst starkes Angstgefühl in sich hochkommen.
Ihre Großmutter hatte die gleiche Eigenschaft, unangenehme zukünftige Ereignisse in sich zu spüren. Präkognition nannte sie diese `Begabung` damals. Das ist ein schwieriges Wort für ein kleines Mädchen, aber Jill hat sich den Ausdruck gemerkt.
Jill hat die gleiche Eigenschaft geerbt. Scoony, das heißt Ärger, das spürt sie.
Jill belässt die Nachricht ungelöscht im Speicher. Nils ist doch Computerfachmann. Er kann bestimmt etwas über den Absender herausfinden.
Sie sucht nun über ihren Browser ein Sportgeschäft in der Nähe ihres Hotels. Am Stadtrand wird ein Shopping Center angezeigt. Auf der Ladenliste findet sie auch ein Sportfachgeschäft.
Ungeduldig jagt sie den Mini zum Shopping Center.
Aber ihre Enttäuschung ist groß. Die Sporttaschen, die sie als ` Versteck` geplant hat, sind höchstens sechzig Zentimeter lang. Sie überlegt. Schließlich kauft sie in einem Bettengeschäft eine lange Tagesdecke. Zurück beim Wagen, wickelt sie das Schwert in diese Decke. Dann fährt sie zum Hotel.
Es gelingt ihr, das in die Decke eingewickelte Schwert ohne Zeugen in ihr Zimmer zu transportieren.
Ermattet lässt sie sich auf das Bett sinken. Was für ein Tag. Tag? Das war die erste Hälfte.
Was fängt sie nun mit dem Nachmittag an, da Luca und Nil doch erst am Abend eintreffen werden?
Sie verstaut die Decke mit dem Schwert im Schrank. Dann duscht sie und setzt sich auf die gemütliche Besuchercouch in ihrem Hotelzimmer.
Edinburgh – was sagt der Autor des kleinen Buches sonst noch über Edinburgh?
Jill denkt nach – das Schloss. Edinburgh hat ein berühmtes Schloss mit hundert Geschichten über Könige und Prinzen. Schnell schlägt sie in dem Büchlein nach.
Da ist es. Schloss Edinburgh und der Stone of Scone – der Stein des Schicksals. Den muss sie sehen!
Los geht’s.
 



 
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