Charlottes Blick 2 - Höher, schneller, weiter

marcm200

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Charlottes Blick 2 - Höher, schneller, weiter
(eine Geschichte basierend auf dem Charakter ‚Vickie‘ der TV-Serie ‚Haven‘ von 2010-2015)

Klappentext:
Charlotte nimmt einen sehr lukrativen, aber auch gefährlichen Auftrag an. Unter Wasser geschieht Unerwartetes, das sie erst verspätet als bedrohlich wahrnimmt. Sie wird nachdenklich.


Zügig schritt Charlotte auf den Schlagbaum der Kaserne zu.

Der Himmel war verhangen, das Licht auch noch um 9 Uhr am Morgen düster. Der Wind stand so, dass er vom nahegelegenen internationalen Flughafen im Norden der Stadt den Lärm der startenden und landenden Maschinen herüberwehte.

Vor dem Wachhabenden blieb Charlotte stehen und reichte ihm den Bescheid zur Einbestellung, den sie in der Vorwoche erhalten hatte. Der Soldat ging in seine Kabine und hakte ihren Namen auf einer Liste ab. Nach einem kurzen Telefonat gab er ihr den Schein zurück und öffnete das Personaltor.

Charlotte lief über den kleinen, asphaltierten Vorplatz und trat an das Hauptgebäude heran. Der flache, sehr breite und langgestreckte Quader wirkte gedrungen, und, wie Charlotte fand, immer ein wenig bedrohlich. Sie drückte auf den Knopf der Rufanlage. Es summte kurz darauf, und sie wurde eingelassen.

Eine Assistenzärztin im weißen Kittel, die eine dünne Akte in der Hand trug, kam ihr entgegen. „Ich bin Dr. Kern“, stellte sie sich vor. „Ich werde die Voruntersuchung bei Ihnen durchführen.“

Sie führte Charlotte ein Stück den kahlen Hauptgang hinunter, wandte sich schließlich nach rechts und öffnete eine Metalltür. Die beiden Frauen betraten ein schmales, sehr langes Zimmer ohne Fenster. Leicht gelbliches Licht aus einer Neonröhre erhellte den Raum.

Dr. Kern wies auf einen schwarzen Lehnstuhl an einer der schmalen Wände. „Bitte nehmen Sie Platz.“

Auf einem kleinen Regal neben Charlottes Kopf stand ein Diaprojektor, den die Ärztin einschaltete. Sofort erfüllte das leise Brummen des Lüfters den Raum. Auf der dem Stuhl gegenüberliegenden hellen Wand erschien ein grellweißes Rechteck, in dem auf einer Linie mehrere schwarze Symbole prangten.

„Bezugnehmend auf Ihre Untersuchung im Vorjahr fange ich mit einem Test am oberen Ende unserer Skala an. So sparen wir Zeit. - Was sehen Sie?“

Ohne Zögern und nach nur einem flüchtigen Blick auf die Ziffern antwortete Charlotte: „3 - 9 - 1 - 2.“

Das nächste Diapositiv schob sich vor den Projektorscheinwerfer. Es klackte, als die Führungsschiene einrastete.

Wieder blickte Charlotte nur für einen kurzen Moment auf die Zahlenreihe in fünf Metern Entfernung. Genauso schnell wie zuvor kam: „1 - 0 - 4 - 3.“

Nach einer weiteren, noch kleineren Zahlenfolge beendete die Ärztin den kurzen funktionalen Sehtest. „Nun, Frau Bernstedt, das war es auch schon wieder für Sie.“

Sie schaltete den Projektor aus. „Auf mehr als 200% Sehleistung sind wir hier nicht eingestellt. Ich vermerke das Ergebnis in Ihrer Akte mit einem ‚mindestens‘.“ Sie lächelte angedeutet.

Charlotte aber grinste breit.

Adlerblick, dachte sie amüsiert. Den habe ich schon seit meiner Kindheit.

Nachdem sie Datum, Grund und Ergebnis der Untersuchung eingetragen hatte, klappte Dr. Kern die Akte zu und stand von ihrem Hocker auf. „Kommen Sie bitte mit.“

Die beiden Frauen folgten dem breiten Hauptgang mit der tiefen Decke weiter in das Gebäude hinein. Die Wände bestanden aus kahlem, grauem Beton. Charlotte fühlte sich ein wenig unwohl in dieser unpersönlichen Umgebung.

Die Schritte hallten dumpf auf dem grauen Betonfußboden. Nach etwa zwanzig Metern bogen sie nach rechts ab, und die Ärztin öffnete eine weiße Tür, auf der ‚Arzt 1‘ stand. Der quadratische Raum maß etwa sechs auf sechs Meter. Ein durchgehender Schreibtisch säumte die einzige Wand, an der ein Fenster Tageslicht hereinließ. Die innenliegenden Jalousien waren heruntergelassen, obwohl die Sonne an diesem Morgen nirgends zu sehen war. Auf dem Tisch lagen unzählige zugeschlagene Akten.

Dr. Kern deutete auf den Stuhl mit der Kopfstütze. „Sie kennen das alles ja schon.“

Charlotte nickte und nahm in dem Ledersessel Platz. Der Schwenktisch mit dem Ophthalmoskop war zur Seite geklappt und hing zu ihrer Rechten. Ihr Blick fiel automatisch auf die Akte, welche die Ärztin in diesem Moment aufklappte und in die Nähe des Untersuchungsstuhls schob. In fetten Lettern prangte ‚Bernstedt, Charlotte. Stabsunteroffizierin der Reserve im Sanitätsdienst‘ darauf.

Dann verabschiedete sich Dr. Kern mit einem knappen Nicken und verließ den Raum.

Charlotte schaute sich um. Im Vergleich zum Vorjahr hatte sich nichts verändert. Eine weiße Tür führte direkt zu ‚Arzt 2‘, eine Polsterliege mit ebenfalls weißem Papierbezug stand an der dem Fenster gegenüberliegenden Wand, und ein paar Rollcontainer mit Schubladen waren akkurat nebeneinander unter den Tisch geschoben worden.

Eigentlich, dachte Charlotte zum wiederholten Male, ist das Zimmer viel zu groß für das bisschen Equipment. Aber das Gebäude ist ja auch nicht als Ärztehaus geplant worden.

Vom Nachbarzimmer hörte sie plötzlich lauter werdende Stimmen, dann sich nähernde Schritte. Die Verbindungstür öffnete sich, und ein hochgewachsener, drahtiger Mann mit leicht ergrautem Haar betrat den Raum. Er hatte den Kopf noch in Richtung des anderen Zimmers gedreht und lachte. Zur Verabschiedung hob er kurz die Hand, schloss dann die Tür und wandte sich um.

„Hallo, Frau Bernstedt“, grüßte der Flottillenarzt mit dunkler Stimme. Er sprach akzentuiert, und sein gesamtes Auftreten verriet, dass er es gewohnt war, Befehle zu erteilen. Doch seine Augen leuchteten freundlich, als er den Raum durchquerte und Charlotte die Hand schüttelte. Der Hocker, auf den er sich setzte, quietschte etwas, als die pneumatische Federung nachgab.

„Waren Sie in den vergangenen...“ Er blätterte kurz in der Akte „...knapp elf Monaten, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, wegen irgendwelcher Beschwerden bei Ihrem niedergelassenen Augenarzt oder in einer Klinik?“

Er schlug eine Seite mit Hochglanzfarbphotographien auf. Charlotte warf nur einen raschen Blick darauf, handelte es sich doch um frühere Aufnahmen ihres Augenhintergrunds. Intensives Gelb herrschte vor, aber auch die roten Äderchen waren zu sehen.

„Keine Beschwerden. Meine Sehleistung ist weiterhin gut.“

Dr. Huygens wandte sich von der Akte ab und rollte mit dem niedrigen Hocker ein Stück zur Seite. „Gut. Dann wollen wir mal.“

Er zog am Schwenktisch und schob ihn vor Charlotte, die ihr Kinn in die Aussparung legte und die Stirn an die Halterung drückte. Huygens schaltete die Spaltlampe ein, klappte den Arm vor und schaute durch das Okular. Im ersten Moment blendete das intensive Licht Charlotte stark, und sie musste sich zwingen, die Augen offenzulassen. Während der Untersuchung bewegte der Arzt die Lampe immer wieder deutlich zur einen oder zur anderen Seite und murmelte unverständliche Worte. Auch das andere Auge untersuchte er auf diese Weise.

Schließlich lehnte er sich zurück.

„Es ist immer wieder eine Freude, in Ihre Augen zu schauen“, sagte er und lächelte verschmitzt. Auch Charlotte lächelte, wusste sie doch, wie diese Worte gemeint waren.

„Abgesehen von ein paar Tintenfischaugen während des Studiums habe ich noch nie ein everses Auge gesehen. Sie sind diesbezüglich ein wissenschaftliches Phänomen.“

Er rollte ein Stück nach links, nahm die Kamera vom Schreibtisch und klemmte sie auf ein kleines Gestell, das er vor das Okular klappte.

„Bitte den Kopf ruhig halten!“, sagte der Militärarzt und drückte auf den Auslöseknopf. Nachdem er den Film mechanisch eine Position weitergedreht hatte, und ein leises Ratschen ertönte, schoss er mit unterschiedlichen Brennweiten noch drei weitere Photos von Charlottes Augen.

„Nehmen Sie den Kopf bitte zurück.“

Dr. Huygens schob den Schwenktisch zur Seite, griff nach dem kleinen Glasfläschchen mit Tropfpipette auf dem Schreibtisch und träufelte je einen Tropfen in die Bindehautsäcke. Charlotte blinzelte mehrmals, um die bläuliche Flüssigkeit zu verteilen. Dann wurde sie wieder vor das Ophthalmoskop gebeten.

Huygens blickte wieder durch das Okular. Mehr zu sich selbst als zu Charlotte sagte er: „Hornhaut intakt, keine Perforationen. Kreisförmig umlaufende Schicht doppelpyramidenförmiger Zellen unklarer Funktion.“

Wieder musste Charlotte sich zurücklehnen, als der Arzt nun mit einer grellen Handlampe und einer Lupe einen Teil ihrer Netzhaut begutachtete. Ihre Augen bewegte sie nach Aufforderung in immer andere Richtungen.

„Papille farbreich, Fovea überaus intensiv ausgeprägt.“

Das rechte Auge wurde auf identische Art untersucht. Huygens schaltete danach die Lampe aus, setzte sich an den Schreibtisch und notierte einen kurzen Befundbericht in der Akte. Nach wenigen Minuten nahm er ein kleines, einseitiges Dokument, setzte seine Unterschrift darauf und stempelte es.

„Frau Bernstedt, mit Ihren Augen ist alles mehr als in Ordnung. Die generalmedizinische Musterung und die sportlichen Eignungstests haben Sie ja bereits bestanden. Das kanadische Militär freut sich, Sie ein weiteres Jahr in der Sanitätsreserve zu listen.“

Er lächelte breit. „Und irgendwann werden wir eine Fallstudie mit Ihren Augenuntersuchungen veröffentlichen. Aber noch...“ Er blinzelte verschwörerisch. „...halten wir das vor dem Feind geheim.“

Charlotte lachte.

Wenn du wüsstest..., dachte sie. Aber ich will nicht von anderen als Waffe eingesetzt werden. Auch nicht für die Verteidigung meines Landes.

***

Charlotte rannte den Bürgersteig entlang. Mit oft gerufenem ‚Sorry!‘ drängelte sie sich an den Passanten vorbei. Nach langem Suchen hatte sie vor ein paar Minuten endlich einen Parkplatz gefunden, wenn auch drei Blocks entfernt. Nun verfluchte sie ihre Entscheidung gegen die Metro. Zeitlich wäre das im Nachhinein auf jeden Fall die bessere Alternative gewesen.

Keuchend kam sie an der Drehtür des mehrstöckigen Geschäftsgebäudes an, in dem sie um 15 Uhr einen Termin hatte. Mit kleinen Schritten trippelte sie durch den Drehbereich und wischte sich im kühlen Foyer erst einmal den Schweiß von der Stirn. Sie strich Blazer und Hose glatt, nickte dem Portier freundlich zu und trat zu dem Securitymann am Eingang zum Konferenzsaal. Nachdem sie ihre Akkreditierung vorgezeigt hatte, wurde sie eingelassen.

Vielstimmiges Gemurmel, das in diesem Moment begann zu verebben, zeigte ihr, dass sie gerade noch rechtzeitig gekommen war. Der Auktionator in schwarzem Anzug betrat die Bühne. Charlotte wollte sich schon auf den freien Platz direkt an der Tür setzen, als eine Hand ihr zuwinkte und leise ihr Name gerufen wurde.

Mit einem entschuldigenden Lächeln bahnte sie sich einen Weg an ein paar Männern und Frauen vorbei, die bereits an der durchgehenden Tischreihe, wie es sie in Universitätshörsälen gab, Platz genommen hatten. Schließlich kam sie bei der Privatdetektivin, die ihr zugewinkt hatte, an. Annabelle Rivers lächelte flüchtig, wandte dann aber, ebenso wie Charlotte, ihre Aufmerksamkeit nach vorne.

Es knackte mehrmals, als der Auktionator das Mikrophon testete. Das letzte Gemurmel der etwa zwei Dutzend Anwesenden erstarb. Der Mann hinter dem hölzernen Pult auf der kleinen Bühne begann zu sprechen.

„Ich begrüße Sie zu unserer heutigen Auktion.“ Er legte einen dünnen Papierstapel auf das Pult. „Die Versteigerung umfasst insgesamt sieben Aufträge.“

Der Auktionator ließ seinen Blick über die Zuhörer gleiten. „Ich sehe ein paar bekannte Gesichter.“ Er nickte Charlotte zu. „Dennoch kurz zum Ablauf. Sie finden eine genaue Beschreibung der jeweiligen Aufgabe in den Akten A bis G, die auf jedem Platz ausliegen. Sie können diese innerhalb der nächsten drei Stunden einsehen. Telefone, um mit Vorgesetzten oder anderen Personen Rücksprache zu halten, stehen bereit, wenn Sie diese benötigen. Die Unterlagen selbst dürfen diesen Raum jedoch nicht verlassen. Danach geben Sie bitte Ihre Durchführungsangebote ab.“

Charlotte öffnete die erste Akte und überflog die Angaben. Die Assekuranz-Versicherung mit Hauptsitz in Toronto hatte die Versicherungssumme zu einem gestohlenen Bild auszahlen müssen, da der eingesetzte Detektiv kein Fehlverhalten des Versicherungsnehmers feststellen konnte. Nun suchte die Assekuranz selbst nach dem Gemälde. Geboten wurde maximal der doppelte gesetzliche Finderlohn. Als Zeitrahmen für die Durchführung waren zwei Monate angesetzt.

Charlotte klappte die Akte zu. Diese Aufgabe interessierte sie nicht sonderlich, zumal die angegebenen Startpunkte für eine Suche - das Ergebnis des Detektivs sowie die Ermittlungen der Polizei - mehr als dürftig waren.

Sie drehte die Akte um und widmete sich der nächsten. Eine ältere Frau mit Vermögen war auf der Suche nach ihrem Neffen, um ihm eine hohe sechsstellige Summe zu vermachen. Charlotte überlegte einen Moment. Das Honorar von 25% reizte sie schon, wenn sie auch in der stillen Auktion deutlich darunter bleiben musste, um eine Chance auf den Zuschlag zu haben.

Aber in vermutlch verstaubten Akten im Einwohnermeldeamt oder wo auch immer wühlen?, zweifelte sie, schob das Dokument aber zur Seite, um es später noch einmal anzuschauen.

Die Posten C bis F überflog sie nur.

Bei der letzten Akte aber wurde ihr Interesse beim Wort ‚U-Boot‘ schlagartig geweckt. Charlotte las den kurzen Übersichtstext aufmerksam durch.

Der Milliardär Williamson hatte Goldstatuen von einem seiner Anwesen im Norden British Columbias in ein anderes im Süden bringen lassen. Allerdings nicht konventionell zu Land oder per Flugzeug, da ihm auf diesen Transportwegen die Gefahr eines Raubes zu groß schien. So war er auf die Idee verfallen, ein experimentelles U-Boot des Instituts für marine Biologie einer Universität zu verwenden. Viel Geld hatte es ihm schließlich ermöglicht, das Boot für den privaten Zweck einzusetzen.

Kreative Drittmittelwerbung, dachte Charlotte anerkennend. Das Institut kann sich sicherlich über eine größere Geldsumme für die Forschung freuen.

Das U-Boot konnte ohne Besatzung fahren und wurde mittels Kamerastandbildern aus der Ferne funkgesteuert. Leider hatte ein technisches Versagen aus noch ungeklärtem Grund dazu geführt, dass das Boot nicht mehr auf Steuerbefehle reagiert hatte und gesunken war. Es lag nun in 60 Metern Tiefe auf einem Felsvorsprung im Meer.

Tja, zwar hat kein Raub stattgefunden, aber das hier ist auch nicht besser, schmunzelte Charlotte. Hoffentlich war das Institut gegen einen Totalverlust versichert.

Sie blätterte weiter.

Die Versicherung hielt, trotz gegenteiliger Einschätzungen unabhängiger Experten, eine Bergung für möglich. Da sich das Schott jedoch nicht mehr öffnen ließ, wie ein Taucher festgestellt hatte, plante die Versicherung, Unterwasserschweißer einzusetzen. Diese aber waren erst in einigen Wochen verfügbar.

Der Milliardär aber wollte seine Kunstschätze so schnell wie möglich wiederhaben. Er bot bis zu 15% der Versicherungssumme von 14,7 Millionen Dollar als Erfolgshonorar.

Charlotte musste schlucken, als sie die Zahl las. Das wären rund 2 Millionen Dollar für den Finder!

Sie stieß Annabelle an. „Bietest du?“

Die Privatdetektivin warf nur einen flüchtigen Blick auf die Akte und schüttelte den Kopf. „Nein. Und ich glaube, das macht auch sonst niemand. Es würde mich wundern, wenn hier jemand Ahnung von Bergung und dem notwendigen Equipment hätte.“

Charlotte aber dachte konzentriert nach. Diese Aufgabe gefiel ihr. Nicht nur das Geld lockte sie. Es war auch eine perfekte Gelegenheit, ihre Zeichengabe einzusetzen. Rasch ging sie in Gedanken durch, was sie benötigen würde. Es war eigentlich gar nicht sonderlich viel. Sie überlegte, wie niedrig das Gebot ausfallen sollte. Schließlich schrieb sie ‚Akte G‘ sowie ‚9%‘ auf einen Bogen Papier, setzte ihren Namen darunter und steckte alles in einen Briefumschlag, den sie zuklebte.

Annabelle schaute sie erstaunt an, enthielt sich aber eines Kommentars.

Die anderen Akten schob Charlotte zur Seite und widmete sich ganz den Unterlagen des U-Boot-Auftrags. Auch Konstruktionspläne lagen bei. Sie machte sich einen detaillierten Plan, wie die Bergung vonstatten gehen sollte: Anfahrt zu den Zielkoordinaten, Ablauf des Tauchgangs, notwendige Zeichnungen, Hebung der Kunstschätze und den Abtransport zurück an Land.

Schließlich waren die drei Stunden abgelaufen. Ein Assistent der mit der Auktion beauftragten Consulting-Firma sammelte die Gebote ein. Noch auf der Bühne wurden diese unter notarieller Aufsicht geöffnet und sortiert.

Nach wenigen Minuten lag das Ergebnis vor, und die Personen, welche das niedrigste Gebot abgegeben hatten und damit den entsprechenden Auftrag erhielten, wurden bekanntgegeben.

An Charlottes Ohr rauschten die Beträge und Namen vorbei. Sie nahm nur wahr, dass Annabelle die Suche nach dem potentiellen Erben übernehmen würde.

Dann kam endlich die letzte Aufgabe. Charlottes Aufregung wuchs.

„Auftrag G - Bergung gesunkener Kunstgegenstände - geht an...“ Der Auktionator faltete den Zettel auseinander, welchen der Notar ihm reichte. „...Charlotte Bernstedt.“

Charlotte unterdrückte den Impuls, aufzuspringen und die Faust zu ballen. Sie schob ihren Stuhl zurück, ging an den Rand des Saales und die wenigen Treppenstufen hinunter bis zur Bühne und nahm den Auftrag offiziell an.

Den in der Akte genannten Zeitrahmen von vier Wochen würde sie nicht ausschöpfen.

Es würde schwer werden, denn die Wandung des Metallkörpers des Forschungs-U‑Bootes war massiv und mehrere Zentimeter dick. Und Charlotte musste ihre Zeichnungen unter Wasser anfertigen. Dennoch schätzte sie, dass die gesamte Bergung innerhalb eines Tages vonstatten gehen konnte.

***

Leise tuckerte der Dieselmotor des sieben Meter langen Schiffes. Charlotte saß auf der schmalen Seitenbank im nicht überdachten Bereich am Heck und blickte in den tiefblauen, wolkenlosen Himmel.

„Wir sind da“, sagte Henry Wilson, der Kapitän und Eigner des Boots, in diesem Moment. Er gab ein wenig Gegenschub, stellte den Motor ab und warf den Anker. Spiegelglatt erstreckte sich das Meer in alle Richtungen. Nur eine ganz leichte Brise wehte.

„Gut. Dann wollen wir mal“, erwiderte Charlotte, legte den Neoprenanzug an und schloss den Reißverschluss. Sie schulterte die beiden Trimix-Flaschen und zog die Gurte fest. Vorsichtig stopfte sie sich zwei dicke Wattepfropfen in die Nasenlöcher und setzte die Tauchermaske auf, schob sie aber noch hoch über die Kapuze. Dann setzte sie sich mit dem Rücken zum Wasser auf die Reling, zog die Flossen an und hakte das drei Meter lange Seil, das die Tasche mit den Utensilien trug, welche sie unter Wasser benötigen würde, an dem Hüftgurt ein.

Wilson reichte ihr die notwendigen Gewichte für die angepeilte Tauchtiefe von 60 Metern und begann ebenfalls, seinen Taucheranzug anzuziehen. Charlotte schob die Bleiquader in die eingearbeiteten Taschen des Gürtels und verschloss diese. Auch das Sicherheits- und Signalseil, das über eine Winde im Boot lief und sie so auch in der Tiefe mit diesem verband, hakte sie an ihrem Neoprenanzug ein.

„Soll ich nicht doch mit runterkommen?“, fragte Wilson.

Doch Charlotte schüttelte den Kopf. „Nein. Es bleibt bei dem besprochenen Vorgehen. Ich ziehe zu jeder vollen Minute dreimal schnell am Sicherungsseil. Dann ist alles in Ordnung. Wenn das Signal nicht kommt, ziehen Sie. Falls darauf keine Reaktion durch mich erfolgt, ziehen Sie mich mit der Seilwinde hoch auf die unterste Dekompressionstiefe und tauchen zu mir.“

Sie zog die Tauchermaske vor das Gesicht und nahm das Atemstück des Lungenautomaten in den Mund.

Dann starteten beide ihre Stoppuhren, und Charlotte ließ sich rücklings ins Wasser fallen. Es klatschte laut, als sie auf der Meeresoberfläche auftraf. Wilson warf ihr die Utensilientasche hinterher.

Die Bleigewichte ließen Charlotte rasch nach unten sinken. Sie drehte sich auf den Bauch und unterstützte den Abstieg mit kräftigen Schwimmbewegungen. Ruhig und gleichmäßig atmete sie. Luftblasen blubberten nach oben.

Immer wieder warf sie einen Blick auf die Stoppuhr. Als die erste Minute abgelaufen war, zog sie vereinbarungsgemäß dreimal am Seil. Diese regelmäßige Unterbrechung ihrer eigentlichen Suche würde sie zwar zeitlich einbremsen, da sie immer an zwei Dinge gleichzeitig denken musste. Aber es gab ihr auch ein Gefühl der Sicherheit.

Schließlich kam sie an der Zieltiefe an. Die Wasseroberfläche war nur undeutlich zu erahnen. Der Scheinwerfer, der auf ihrer enganliegenden Kapuze angebracht war, tauchte die Umgebung in grelles Licht. Rot schimmerten die Algen, welche die nahegelegenen dunkelgrauen Felsen größtenteils überwuchert hatten.

Mit kleinen Armbewegungen und leichtem Schlagen der Beine schwamm Charlotte langsam um das gesunkene U-Boot herum. Das Schwarz des Druckkörpers verschluckte das Licht der Lampe fast vollständig. Ein wenig nach unten geneigt lag das Boot auf einer Felsformation, die sich in alle Richtungen endlos fortzusetzen schien. Ein unterseeisches Bergplateau erhob sich an dieser Stelle vom eigentlichen Meeresboden, der mehrere Hundert Meter tiefer lag. Es war reines Glück gewesen, dass der Kontakt zum U-Boot nicht bereits einen halben Kilometer früher oder später auf der Fahrtroute abgebrochen war. In einem solchen Fall hätte niemand überhaupt auch nur daran gedacht, die Kunstschätze bergen zu wollen.

Charlotte tauchte noch einen Meter tiefer und zog sich an das Bugfenster heran. Ein hauchdünner grünlicher Schleier hatte es zugesetzt. Sie wischte mehrmals mit den Fingern darüber, bis sie einen Blick ins Innere werfen konnte. Kleinere Fische wuselten im Wasser herum. Sie sah den am Boden festgeschraubten Metalltisch vor dem Fenster und die dahinter angebrachten, ebenfalls mit dem Schiffskörper verbundenen Stühle, auf denen fakultativ begleitende Wissenschaftler sitzen und die Meeresfauna und -flora studieren konnten.

Noch ein wenig näher glitt sie an das Fenster heran und presste ihre Tauchermaske dagegen. Der Strahl der Kopflampe drang weit ins Innere. Charlotte ließ ihn wandern. Suchend glitt ihr Blick umher. Und schließlich konnte sie drei dunkle Schemen in der hinteren rechten Ecke ausmachen.

Das müssen die Transportkisten sein, dachte sie.

Charlotte drückte sich ein Stück zurück. Obwohl sie aus der Aufgabenbeschreibung die Maße des runden Bugfensters kannte, legte sie den Unterarm an und erhielt die Bestätigung. Das Fenster war definitiv zu klein, um auf diesem Weg ins Innere zu gelangen. Die einfachste Option schied somit aus.

Sie stieß sich vom Boot ab und schwamm weiter. Konzentriert glitt ihr Scheinwerfer über den Schiffskörper. Automatisch wanderte ihr Blick immer wieder zur Stoppuhr, und sie gab die vereinbarten Lebenszeichen.

Die Musterung des U-Boots, das wie eine leicht in Querrichtung zusammengedrückte Zigarre aussah, ergab nichts Ungewöhnliches. Der Druckkörper war an den einsehbaren Stellen völlig intakt. Eine Bruchstelle oder ein Riss, vielleicht vom Aufprall auf den Felsen, hätte ihr einen natürlichen Ansatzpunkt für ihre Fähigkeit geboten. Doch sie sah nichts dergleichen.

Damit fällt auch die zweite Option weg, zog sie gedanklich ein Zwischenfazit.

So widmete Charlotte sich dem Schott. Einen Meter daneben ragte einer der kleinen Aufbauten, welche Außenbordinstrumente aufnehmen konnten, von der Schiffsoberfläche empor. Charlotte wickelte ein Seil mehrmals darum und zog prüfend daran. Es würde halten, wenn sie sich nicht allzu sehr bewegte und mit Kraft daran riss. Dann zog sie die Utensilientasche heran und öffnete den Reißverschluss ein Stück.

Wieder fiel ihr Blick auf die Stoppuhr, und sie erschrak. Es war bereits eine Sekunde über die Zeit. Sie wollte gerade am Seil ziehen, als sie Henrys Fragesignal erreichte. Charlotte wartete dessen dreimaliges Ziehen ab und signalisierte danach ihr Okay nach oben.

Sie zog ein etwa zeitschriftengroßes, recht dickes Objekt, das in der Form an einen Zeichenblock erinnerte, aus der Utensilientasche. Ein wasserfester Stift war mit einer langen Kordel an einer Ecke befestigt.

Charlotte winkelte die Beine an, drückte die Knie gegen die Wandung des U‑Bootes und bog sich vorsichtig nach hinten, bis das Seil straff gespannt war. Nun saß sie, so stabil es ihr möglich war, neben der Luke, den Scheinwerfer darauf gerichtet und begann zu zeichnen.

Die Striche fielen recht breit aus, damit Charlotte sie im trüben Wasser gut erkennen konnte. Immer wieder warf sie einen Blick auf das Schott, bevor sie das nächste Stück zeichnete. Es ging langsamer voran als an Land, denn ein Ausradieren war hier nicht möglich. Schließlich aber hatte sie das Schott und ein wenig des umgebenden Bootskörpers fertig gezeichnet.

Ein zweidimensionales, auf das Einstiegsschott fokussierte Bild.

Ob das funktioniert?, zweifelte Charlotte nach einem letzten Blick auf das Boot.

Sie signierte das Bild und schob den Stift in eine kleine Öse am Rand des Spezialblocks. Mit ein wenig Mühe zog sie die Thermohandschuhe des Anzugs aus und stopfte diese in ihren Gürtel. Vorsichtig griff sie das Zeichenblatt, blickte starr auf das reale Schott und riss das gezeichnete, so schnell sie konnte, zuerst senkrecht, danach die beiden Hälften waagerecht durch.

Charlotte wartete einige Sekunden. Aber es geschah nichts. Weder akustisch noch optisch trat eine Veränderung am Schott oder irgendwo sonst am einsehbaren Bereich des U‑Boots ein.

Naja, dachte sie wenig überrascht und zuckte unwillkürlich mit den Schultern. Wäre wohl zu einfach gewesen. Aber einen Versuch war es wert.

Sie hatte bereits vorab eine hohe Wahrscheinlichkeit gesehen, dass ein isoliert gezeichnetes Schott nicht ausreichen würde, mittels ihrer Fähigkeit das zu Papier gebrachte mit dem realen Objekt zu koppeln und es so manipulierbar zu machen.

Falls aber doch, hätte es sie nur wenig Kraft gekostet.

Charlotte schob die Papierstücke in ihre Tasche, verlängerte das Seil, mit dem sie am U‑Boot befestigt war, und stieß sich sachte ab. Sie schwamm ein Stück zur Seite und bemühte sich dann, mit nur ganz leichten Bewegungen so ruhig wie möglich im Wasser zu schweben und das Befestigungsseil dabei gespannt zu halten. Von dieser Position aus hatte sie einen guten Blick auf das Schott, aber auch auf den Teil des U‑Boots, der weiter in Richtung Heck lag. Die unterschiedlichen Formen und Größen der Instrumententaschen waren im Licht der Helmlampe gut zu erkennen.

Charlotte begann eine neue Zeichnung, die aus dieser Perspektive dreidimensional ausfiel. Durch die runde Form der Schiffshülle war es nur so möglich, die relativen Positionen und Formen der einzelnen Ausbuchtungen zum Schott adäquat darzustellen.

Das Zeichnen benötigte einige Zeit. Gelegentlich musste Charlotte für viele Sekunden eine Ausbuchtung in der Ferne anschauen, bis sie die Lage verinnerlicht hatte. Aber sie wollte auf keinen Fall ihre Schwebeposition verlassen. Diese ganz spezielle Perspektive hätte sie kaum wiedergefunden. Sie konnte ohnehin nicht ausschließen, unbemerkt vielleicht schon eine Armlänge abgetrieben worden zu sein.

Nach fast zehn Minuten war Charlotte aber zufrieden mit ihrem Unterwasserbild. Noch vorteilhafter wäre gewesen, wenn auch das Bugfenster zu sehen wäre. Doch dieses lag weit vom Einstiegsschott entfernt. Eins der Objekte - Fenster oder Schott - wäre ihrer Erfahrung nach zu klein auf einer Zeichnung unter diesen Bedingungen ausgefallen und hätte eine Kopplung des Bildes mit der Realität zumindest nicht erleichtert, wenn nicht gar verhindert.

Charlotte löste das Seil vom Bootskörper. Drei Meter rechts vom Schott drückte sie das Bild mit dem unbenutzten linken Rand auf einen der Messgeräteaufbauten. So konnte sie gleichzeitig sich und das Bild festhalten. Mit der rechten Hand signierte sie es und ließ den Stift an seiner Kordel nach unten sinken. Charlotte richtete ihren Blick und den Scheinwerfer auf das reale Schott. Aus den Augenwinkeln konnte sie den entsprechenden gezeichneten Bereich auf dem Spezialpapier noch erkennen.

Druck ausüben, dachte sie erneut und machte sich bereit. Wie auf den Feuermelder im letzten Auftrag. Das ist die erfolgversprechendste Methode.

Auf der Herfahrt mit Wilson hatte sie genügend Zeit gehabt und lange darüber gegrübelt, ob ein Zerreißen des dreidimensionalen Bildes Sinn machte.

Das Problem war jedoch die Notwendigkeit, das runde U-Boot perspektivisch zu zeichnen, um überhaupt eine visuelle Übereinstimmung zwischen Bild und Realität zu erreichen. Das Papierschott konnte sie natürlich zerreißen, auch wenn davor eine Menge gezeichneter U-Bootwandung lag. Aber in der Wirklichkeit würde sie mit ihrer Gabe das U-Boot aufschneiden. Und es würde bereits eine Menge ihrer Kraft kosten, um überhaupt erst einmal beim Schott anzukommen. Und dann auch noch das Druckschott zerreißen.

Charlotte wusste nicht, ob sie dazu fähig war. Es interessierte sie zwar brennend, ob sie bei einem so großen Objekt Erfolg haben würde. Nur hätte sie bei einem Fehlschlag eine dritte Zeichnung anfertigen müssen. Das erschien ihr jedoch zu zeitaufwändig und anstrengend. Denn das Zeichnen unter diesen Bedingungen ermüdete sie stark.

Außerdem wurde ihr wie erwartet langsam kalt. Aber die freiliegenden Hände waren notwendig.

So blieb als letzte Option nur, Druck und rohe Kraft auszuüben.

Charlotte holte mit dem rechten Arm aus und stieß die zur Faust geballte Hand auf das gezeichnete Schott. Weiter ließ ihr Blick das reale Objekt nicht aus dem Fokus. Aber noch tat sich dort nichts.

Sie holte erneut Schwung und hämmerte ihre Faust mit deutlich größerer Wucht auf das Bild. Es schmerzte in den Knöcheln. Kurz verzog Charlotte das Gesicht, doch die Empfindung trat in den Hintergrund, glaubte sie doch, ein leises Knacken und Quietschen aus Richtung des Einstiegs gehört zu haben. Charlotte verschnaufte ein paar Sekunden, zog dann an ihrer Lebenszeichenleine und machte sich bereit für den nächsten Anlauf.

Aus etwa zehn Zentimetern Entfernung hämmerte sie in rasender Eile auf das Bild. Nach fünf Trommelstößen holte Charlotte weit aus und legte alle Kraft in den Schlag. An Land hätte ihr eine solche Wucht mit Sicherheit die Hand gebrochen, da das Papier auf der Wandung des U‑Boots lag. Hier aber bremste das Wasser die Bewegungen stark ab.

Dennoch wollte Charlotte aufschreien, so weh tat ihr die Hand. Sie hatte den Mund schon ein wenig geöffnet und konnte gerade noch verhindern, dass ihr das Atemstück ganz herausrutschte. Mit dem Oberarm schob sie es wieder zurück und atmete ein paar Mal ruhig und gleichmäßig ein und aus. Langsam ließ der Schmerz nach.

Als sie verbogenes Metall sah, triumphierte sie. Es hatte geklappt!

Da spürte sie etwas Warmes in ihrer Nase, aber die Wattepfropfen saugten das Blut auf. Zusätzlich dazu fuhr ein starker, stechender Schmerz durch ihren rechten Unterarm, verschwand aber so schnell, wie er gekommen war. Charlotte war überrascht. Sie bewegte testweise die Hand, rotierte sie im Gelenk und drückte die Finger aneinander. Aber sie verspürte kaum Schmerzen und fühlte sich auch in den Bewegungen des Arms nicht eingeschränkt.

Kein Grund, aufzutauchen, entschied sie.

Während sie die Zeichnung weiter mit der linken Hand an die U-Bootwandung presste, riss sie mit der rechten die Signatur ab. Anschließend faltete sie die inaktivierte Zeichnung zusammen und verstaute alles in der Tasche.

Charlotte schwamm zum Schott. Es war in drei Teile gespalten. Zwei davon hingen an Scharnieren und ragten in den Innenraum hinein. Ein Metallstück war zu Boden gesunken.

Suchend ließ Charlotte ihren Scheinwerfer durch den Raum gleiten. Die drei Transportkisten waren nicht zu übersehen. Quaderförmig, etwa einen Meter lang und so dick wie ein Oberschenkel, beherbergten sie zwei Statuen sowie rund zwei Dutzend kleinerer Figuren. Drei Scharniere sowie ein wuchtiges Vorhängeschloss zeigten, welche Seite als Deckel diente.

Charlotte tauchte ins Innere des Boots hinab und zog ihre Tasche nach. Wieder glitt ihr Blick aufmerksam umher, bis sie ein kurz über dem Boden verlaufendes, fingerdickes Metallrohr sah. Charlotte schob ihren rechten Fuß darunter und fixierte sich so am Bootskörper. Dann begann sie, die Transportkisten hochkant zu stellen.

Mit einiger Mühe gelang es ihr. Sie holte drei leicht elastische Gurte aus ihrer Tasche hervor und legte je einen direkt unterhalb des mittleren Scharniers um die Transportbehälter. Charlotte zog die Gurte so fest zu, wie sie es eben schaffte. Dann löste sie ihren Fuß vom Rohr und bugsierte die erste Kiste mit langsamen Schwimmbewegungen unter das Schott.

Am Gurt um die Kiste war ein zwei Meter langes Seil befestigt, das in einem zusammengerollten Objekt endete. Eine kleine Kartusche, einem Campingkocher nicht unähnlich, hing daran. Charlotte drückte auf den Knopf am unteren Ende. Sofort startete die chemische Reaktion und produzierte Gase, welche das zusammengefaltete Objekt wie eine Schwimmweste aufplusterten. Schon während des beginnenden Aufblähens warf Charlotte Seil und Objekt aus dem Schott hinaus ins offene Meer.

Nur Sekunden später straffte sich das Seil, und der Behälter mit dem Gold begann, sich vom Boden zu heben. Charlotte dirigierte ihn durch das Loch in der Wandung, bis die Transportkiste komplett außerhalb des U-Boots war. Sie blickte dieser noch einen Moment nach, als der immer größer werdende Auftrieb das Gold nach oben schweben ließ.

Analog verfuhr sie mit den anderen beiden Behältern, und nach etwa zwanzig Minuten war die gesamte Bergungsaktion abgeschlossen.

Nicht schlecht, dachte Charlotte und war mit sich selbst mehr als zufrieden. Weniger als einen Tag Arbeit, und über eine Million verdient!

Sie zog sich durch das Schott hinaus, schwamm zur Ankerkette und machte sich an den Aufstieg. Bei 15 Metern Wassertiefe angekommen, begann sie mit dem ersten Dekompressionsstopp. In Schritten von nur wenigen Metern ging es Stück für Stück nach oben. Charlotte wurde die Zeit lang, doch sie bezähmte ihre Ungeduld.

Schließlich, nach über zwei Stunden Gesamttauchzeit, kam sie an der Wasseroberfläche an. Sofort schob sie die Tauchermaske auf die Kapuze und zog die blutgetränkte Watte aus der Nase. Angewidert warf sie diese zur Seite ins Meer. Dann nahm sie das Atemstück aus dem Mund und sog erleichtert die frische Seeluft ein.

Es war später Nachmittag, der Himmel wie vorhergesagt weiter wolkenlos. In einiger Entfernung sah Charlotte die drei Schwebekörper. Sie schwamm ein paar Meter und ließ sich von Henry ins Boot helfen. Der Kapitän hatte die Heckreling heruntergelassen, so dass Charlotte fast an Bord laufen konnte.

„Lass uns das Zeugs einsammeln“, sagte sie und zog die Flossen aus. Sie schulterte die Atemflaschen ab und schob die Kopfhaube des Neoprenanzugs nach hinten in den Nacken.

Henry Wilson lichtete den Anker, ließ den Motor an und steuerte das Boot langsam zum ersten Behälter. Charlotte zog die Kiste an Bord.

In der Ferne hörte sie lautes Getuckere. Ein Schnellboot brauste heran, umkurvte einen der Schwimmkörper, der rund zweihundert Meter entfernt war. Charlotte beachtete das Motorboot zuerst nicht, da sie mit Henry den zweiten Transportbehälter hineinhievte. Doch da deutete der Kapitän in Richtung des Schnellboots.

„Die nehmen das Stückgut mit!“, rief er aufgebracht und lief zum Ruder. Der Motor heulte auf.

Rasch wurde die Entfernung geringer. Doch das Schnellboot hatte unterdessen seine Aufgabe erledigt. Charlotte sah, wie der schwarze Behälter ins Innere des offenen Boots gezogen wurde. Sie sprang auf, rannte zur Kajüte und kramte hektisch in der Tasche ihrer Jeans. Sie riss Block und Bleistift heraus und war zwei Sekunden später wieder an der Seitenreling.

Sie sah, dass drei Personen sich auf dem Schnellbot aufhielten und recht unkoordiniert an Seil und Kiste rissen und zogen. Charlotte versuchte, das Boot zu zeichnen. Ein auffälliger, roter Querstrich prangte an der Bootswand. Schnell waren die Umrisse des Schiffes zu Papier gebracht. Doch der Küstenabschnitt, auf den es zuraste, war eintönig. Eine Bucht reihte sich an die andere. Alles sah gleich aus. Vegetation lag so gut wie keine vor. Charlotte fand einfach nichts, um die Zeichnung irgendwie eindeutiger zu machen.

Verdammt!, dachte sie verärgert. Wie das zweidimensionale Schott unter Wasser. Das wird nicht reichen.

Das Schnellbot entfernte sich mit weit aufgerichtetem Bug von ihnen. Es pflügte nur so durch das Wasser und hinterließ eine weithin sichtbare weiße Gischtspur. Charlotte ließ ihre Zeichnung sinken. Sie verzichtete auf eine Aktivierung.

Wilson schaltete den Motor herunter. Mit dieser Beschleunigung konnte sein Boot nicht mithalten. „Warum klaut jemand Meeresgestein?“, fragte Henry.

Charlottes Gesicht zeigte grimmige Wut. Auf Henrys Frage ging sie nicht ein, hatte sie ihm doch eine Geschichte von einer wissenschaftlichen Privatexpedition erzählt. Wilson wurde für die gebuchten acht Stunden mit 1.200 Dollar sehr gut bezahlt. Den Finderlohn allerdings wollte Charlotte nicht mit ihm teilen.

Vielleicht reicht der rote Streifen, das Boot zu identifizieren?, überlegte sie.

Wütend schlug Charlotte mit der rechten Faust auf die Reling. Ein stechender Schmerz fuhr ihr durch den Unterarm, und sie stöhnte auf. Sofort erinnerte sie sich an das gleiche Gefühl unter Wasser. Rasch öffnete sie den Neoprenanzug und schlüpfte aus dem Ärmel.

Ihr rechter Unterarm war tiefblau und geschwollen.

Wilson stieß überrascht die Luft aus.

Doch Charlotte brauchte nur eine Sekunde, bis ihr klar wurde, was geschehen war. Sofort zwängte sie den Arm zurück in den Ärmel des Neoprenanzugs. Dieser wirkte wie eine Art Druckverband.

„Alles okay mit mir“, sagte sie zu Henry und bemühte sich um einen lockeren Tonfall.

Wilson schaute skeptisch, stapfte aber zurück zum Ruder und schaltete den Motor höher. Dann nahm er Kurs auf den Hafen. Charlotte schnitt den Neoprananzug an der Schulter ab, so dass sie den Ärmel als Druckverband weiter tragen konnte. Mit ein paar Handtüchern rubbelte sie sich trocken und schlüpfte in Jeans und Pullover. Dann setzte sie sich in die pralle Sonne, um sich aufzuwärmen.

Die Fahrt verbrachten sie schweigend.

Nach einer halben Stunde lief Charlotte über die kleine Planke an Land. „Könnten Sie noch eine Kleinigkeit für mich erledigen? Es wäre mir 200 Dollar wert.“

Als Wilson nickte, fuhr sie fort: „Würden Sie auf die beiden Behälter achtgeben und Mr Clondike von Clondike Consulting verständigen? Sagen Sie ihm bitte, er könnte zwei der drei Objekte von Akte G bei Ihnen abholen. Er weiß dann schon Bescheid.“

Der Kapitän bestätigte.

Charlotte drehte sich um und lief zu ihrem Wagen. Das nächste Ziel, das sie ansteuern würde, hatte sie nicht eingeplant. Doch sie musste unbedingt in die Notaufnahme der Klinik.

Unzählige Blutgefäße in ihrem Arm waren geplatzt.

***

Nervös saß Charlotte auf einem der roten Plastikstühle im Wartebereich der Notfallambulanz des Städtischen Krankenhauses. Es schien ein geschäftiger Tag zu sein, denn mehr als die Hälfte der Sitzschalen war belegt. Was die Menschen herbrachte, wollte Charlotte gar nicht so genau wissen. Sie vermied es, die anderen Patienten anzuschauen. Einige husteten unterdrückt in die Hand, ein Kind quengelte, dass sein Daumen wehtat, und eine laute Männerstimme erzählte ununterbrochen von einem Unfall während der Gartenarbeit.

Das Fenster in Charlottes Rücken war geöffnet, so dass gelegentlich ein Hauch Frischluft in den stickigen Raum wehte. Der Straßenlärm war deutlich zu hören.

Charlotte hing ihren Gedanken nach und ging den Ablauf des Tauchgangs immer wieder durch. Optimal wäre ein intaktes U-Boot gewesen, das noch mit Luft gefüllt war und auf einen Schlag mit Kompression der Innenatmosphäre reagiert hätte. Das hätte die geringste Kraft von ihrer Seite aus verlangt.

In das Boot waren jedoch Wasser und Fische eingedrungen. Es musste also ein größeres Leck geben, das für einen Druckausgleich bei einem Schlag auf inkompressibles Wasser sorgen konnte.

Plötzlich aber fluchte Charlotte unterdrückt, als ihr ein Versäumnis ihrerseits auffiel. Das Leck konnte sich wieder verschlossen haben. Vielleicht war es zugewachsen, vielleicht hatte das U-Boot sich auch gerollt, lag nun auf der Öffnung, und ein Felsen drückte hinein und verstopfte es. Womöglich wäre ihr Trommelfeuer gar nicht nötig gewesen, und sie hätte das U‑Boot mit den ersten Schlägen schon geknackt?

Verdammt! Daran hätte ich denken müssen. Ich hätte in jedem Fall das Bugfenster einschlagen müssen.

Die Stimme einer Krankenschwester riss sie aus ihren Überlegungen.

„Frau Bernstedt, bitte!“

Charlotte stand auf und schob sich an den Wartenden vorbei, die in ihren Sitzen rotierten und die Beine anzogen, um einen freien Korridor zwischen den Stuhlreihen zu bilden. Charlotte folgte der Schwester einen schwarz-weiß gefliesten Flur hinunter in das Behandlungszimmer. Die Schwester bat sie, sich auf die Liege zu setzen und verließ den Raum wieder.

Kurze Zeit später betrat ein junger Assistenzarzt das Untersuchungszimmer. Er machte einen leicht abgehetzten Eindruck. „Ich bin Dr. Miller“, stellte er sich vor und las rasch die aufgeschlagene Seite der Krankenakte, die auf dem Schreibtisch unter dem Fenster lag.

Miller zog Latexhandschuhe an und trat zu Charlotte. Mit einer Hand hielt er ihr rechtes Handgelenk und tastete mit der anderen vorsichtig den dunkelblau verfärbten Unterarm hinauf bis zum Ellenbogen. „Verspüren Sie Schmerzen?“

„Kaum. Es ist eher ein allgemeines Druckgefühl im ganzen Unterarm. Aber bevor ich es bemerkte, gab es zwei kurze Stiche.“

Der Arzt drehte vorsichtig den Arm und untersuchte die Unterseite. „Wann ist dies passiert?“

„Gegen 15:30 Uhr habe ich es gesehen. Davor war ich auf einem längeren Tauchgang vor der Küste.“

„In welcher Tiefe hielten Sie sich auf?“

„60 Meter. Dort kam es auch zum ersten Stichschmerz“, berichtete Charlotte.

Der Arzt machte ein nachdenkliches Gesicht. „Sind Sie sofort aufgetaucht?“

Charlotte schüttelte leicht den Kopf. „Nein. Ich wollte den Tauchgang wegen einer einmaligen Sache nicht unterbrechen. Ich verspürte ja keinerlei akute Schmerzen.“

Dr. Miller beendete seine Untersuchung, ging zum Schreibtisch und notierte ein paar Worte. „Bei Ihnen trat auch Nasenbluten auf?“

„Das habe ich öfters. Ich war vorbereitet und hatte Wattepfropfen in den Nasengängen.“

„Haben Sie sich während des Tauchens besonders angestrengt?“

„Ich habe ein paar Felsbrocken zur Seite geräumt“, schwindelte Charlotte, blieb aber konsistent zu dem, was sie dem Bootskapitän als Grund für ihren Tauchgang angegeben hatte. Sie blieb so nahe wie möglich an der Wahrheit, um dem Arzt eine korrekte Diagnose zu ermöglichen, aber von ihrer Zeichengabe wollte sie ihm nichts erzählen.

Wieder dachte der Arzt für ein paar Sekunden nach. „In Ihrem Unterarm sind sehr viele der kleineren Blutgefäße geplatzt. Ich denke, da sage ich Ihnen nichts Unerwartetes, das ist offensichtlich. Die großen Gefäße sind aber intakt. Wir legen einen leichten Druckverband an, damit nicht noch weiteres Blut ins Gewebe dringt. Ihr Körper repariert den Schaden selbst wieder.“

Miller nahm eine kleine Lampe aus seiner Kitteltasche und richtete sie auf Charlottes Augen. Mehrmals glitt der Lichtstrahl direkt in die Pupille, dann am Kopf vorbei.

„Pupillen seitengleich, reaktiv“, murmelte er. „Haben Sie Symptome anderer Art bemerkt? Schwindel, Seh- oder Sprachstörungen, Taubheit in den Extremitäten, im Gesicht?“

Charlotte verneinte. Ihr war klar, worauf die Fragen abzielten. Das war ihr auch schon durch den Kopf gegangen. „Sie denken, es könnte eine Hirnblutung vorliegen?“

Dr. Miller hob beschwichtigend die Hände. „Darauf deutet nichts hin. Sie waren die letzten Stunden aktiv. Neurologische Ausfallerscheinungen traten keine auf. Auch jetzt während der Untersuchung nicht. Dennoch werde ich eine Röntgenuntersuchung anordnen, um ganz sicher zu gehen. Und ich würde Sie gerne zur Beobachtung über Nacht hierbehalten.“

Als Charlotte ihr Einverständnis gab, hob er den Telefonhörer ab und sprach ein paar leise Worte. Wenig später öffnete sich die Tür des Behandlungszimmers, und die Schwester, die Charlotte herbegleitet hatte, tauchte auf.

***

Am folgenden Morgen wartete Charlotte im vollbelegten Dreibettzimmer auf ihre Entlassungspapiere. Die am Vortag noch durchgeführten weiteren Untersuchungen waren sämtlich ohne pathologischen Befund geblieben. Auch in der Nacht hatte sie keine Symptome außer dem geschwollenen Arm gezeigt. Schmerzen waren keine aufgetreten.

Die Tür öffnete sich, und eine ihr unbekannte Krankenschwester trat ein.

„Die Adressen einiger Angiologen liegen bei“, sagte sie zum Abschied und reichte Charlotte einen Briefumschlag mit dem Arztbericht.

Charlotte dankte und verließ das Krankenhaus. Ihr rechter Arm war bandagiert, was unter dem Pullover aber kaum auffiel.

Einen Angiologen benötigte sie der eigenen Einschätzung nach nicht. Mit ihren Blutgefäßen war alles in Ordnung. Nasenbluten und nun die Verletzung des Arms waren schlicht Ausdruck einer besonders intensiven Anstrengung, wenn sie mittels eines gezeichneten das damit irgendwie gekoppelte reale Objekt verändern wollte.

Langsam lief Charlotte das Trottoir entlang. Die kleine Sporttasche, die ein paar Wechselsachen und Handtücher, die sie für das Tauchen mitgenommen hatte, enthielt, trug sie in der linken Hand.

Das Wetter hatte umgeschlagen. Graue Wolken bedeckten einen Großteil des Himmels. Es schien, als wollte es heute nicht wirklich hell werden. Ein leichter, im Vergleich zum Vortag unangenehm kühler Wind blies von vorne.

Übertreibe ich es manchmal?, fragte sie sich erneut. Dieser Gedanke war ihr die ganze Nacht über immer wieder in den Sinn gekommen, als sie lange keinen Schlaf gefunden hatte.

Aus Erfahrung konnte sie bei vielen Objekten abschätzen, ob ihre Gabe funktionieren würde. Sie wusste fast immer, wann eine Verbindung sehr kräftezehrend war und es zu Nasenbluten kommen würde. Bei einem U-Boot-Schott war dies aufgrund der Materialdicke zu erwarten gewesen, obwohl sie das Objekt direkt gesehen und sich auch nur wenige Meter daneben aufgehalten hatte.

So schwer es ihr auch fiel, aber sie musste es sich eingestehen.

„Ich habe mich schlicht überschätzt“, murmelte Charlotte, als sie an ihrem Wagen angekommen war. Ihre Tasche warf sie auf den Rücksitz und kletterte hinter das Steuer. Langsam fuhr sie los.

„Charlotte“, sprach sie eindringlich zu sich selbst. „In nächster Zeit keine neuen Rekordversuche.“

Nasenbluten war auszuhalten und geschah seit Jahren. Eine größere Reaktion hatte ihr Körper am Vortag das allererste Mal gezeigt. Auch ein Platzen der Blutgefäße im Arm war an sich nichts, was sie ängstigte.

Aber wer sagte ihr, dass es beim nächsten Mal wieder den Arm traf und nicht doch ein Blutgefäß im Gehirn?

Charlotte hielt unterwegs an einem Diner und kaufte sich einen großen Kaffee sowie ein paar Sandwiches, die sie bereits während der Fahrt aß.

Nach einer halben Stunde kam sie an ihrem Apartmenthaus an und fuhr mit dem Lift hinauf in den achten Stock. In der Wohnung warf sie die Kleidung in die Waschmaschine und schaltete diese an. Im Flur hob sie den Telefonhörer ab und wählte eine lange Nummer. In einem Haus auf der anderen Seite des Kontinents klingelte ein weinroter Apparat, den sie nur zu gut kannte.

„Bernstedt“, drang eine laute männliche Stimme aus der Muschel. Im Hintergrund war leise Musik zu hören.

„Hi, Dad“, grüßte Charlotte. „Feiert ihr gerade?“

„Hi, Schatz!“, rief ihr Vater erfreut. Ein paar Schritte ertönten, dann das Zufallen einer Tür. Die Musik erstarb. „Ja, deine Mutter hat ein paar Freunde eingeladen. - Aber was ist mit dir? Ist etwas passiert? Du klingst ernst.“

Charlotte schüttelte unwillkürlich den Kopf. „Nein, Dad. Mit mir ist alles in Ordnung. Ich wollte mich nur mal wieder melden.“

Es wurde ein langes Gespräch. Charlotte erzählte von ihrer Arbeit als Freelancer. Ihr Vater sprach über die Reisen, die seine Frau und er für dieses Jahr noch geplant hatten, und erzählte ein paar Anekdoten aus dem Vereinsleben. Charlotte lachte oft. Dann redete sie noch ein wenig mit ihrer Mutter, aber diese musste sich als Gastgeberin um die Eingeladenen kümmern.

Charlotte verabschiedete sich, versprach, bald persönlich zu Besuch zu erscheinen und drückte auf die Telefongabel. Dann wählte sie eine kürzere Nummer hier in der Stadt.

„Hi, Phil, hier ist Charlotte. Ich weiß, es ist sehr kurzfristig. Aber ich habe zwei Karten für das Spiel morgen Abend. Hättest du Lust, mich zu begleiten?“

***

Die Menge lärmte. Anfeuerungsrufe mischten sich in Beschimpfungen des Gegners. Gelegentlich ertönten Gesänge. In den kurzen Pausen spielte Musik aus den Lautsprechern. Charlottes Blick fiel immer wieder auf die Anzeigetafel. Nur noch knapp eine Minute war im letzten Drittel zu spielen. Und es stand 3:2 für ihr Team.

„Los, Oilers!“, brüllte sie. Ihr Gesicht, das durch die Kälte in der Eissporthalle ohnehin gerötet war, leuchtete noch intensiver. Sie zog den Schal, der in den Vereinsfarben Grün-Weiß gehalten war, noch etwas enger um den Hals.

„Ich wusste gar nicht, Char, dass du so für Eishockey schwärmst“, rief Phil neben ihr. Auch er war aufgestanden und feuerte die Mannschaft an, die kurz davor stand, das Saisonziel zu erreichen.

„Schon immer“, gab Charlotte mit erhobener Stimme zurück, um den gerade aufbrandenden Lärm nach einer Schiedsrichterentscheidung zu übertönen. Sie lachte. „Ich konnte schon Schlittschuh laufen, noch bevor ich Rad fahren gelernt habe. Zumindest sagt das mein Dad immer. Ich kann mich an die Reihenfolge nicht wirklich erinnern.“

Phil trank einen Schluck seines Softdrinks aus dem Plastikbecher. „Danke nochmal für die Einladung. So ein Live-Spiel macht echt Spaß.“

„Kein Ding.“

Ein Pfiff ertönte, und das Match ging weiter. Die Kufen der Spieler zischten über das glänzende Eis. Weißes Pulver stob hoch, wenn jemand vor der Bande abrupt bremste. Hockeyschläger schabten über die Spielfläche, wenn die Verteidiger vor dem eigenen Tor damit herumwedelten und versuchten, einen Schuss der gegnerischen Angreifer im Ansatz bereits zu blocken.

Der Puck flitzte zwischen den Schlägern hin und her. Es knallte laut, wenn er angenommen wurde. Manche Pässe wurden ansatzlos gespielt. Phils Kopf ruckte im schnellen Wechsel mal in die eine, mal in die andere Richtung, aber seinem Gesicht war anzusehen, dass er das Spielgerät oft suchen musste.

„Dort, wo viele Spieler hinflitzen, ist meist auch der Puck“, rief Charlotte lachend.

Sie selbst hatte keine Mühe, den Weg des Pucks zu verfolgen, egal ob er auf dem Eis glitt oder durch die Luft flog.

„Icing!“, rief sie plötzlich, und im selben Moment ertönte auch der Pfiff eines der beiden Schiedsrichter.

Der Trainer der Oilers nutzte die kurze Unterbrechung und wechselte die aktuell auf dem Eis befindliche Angriffsreihe komplett durch. Drei Spieler rasten mit ausholenden Beinbewegungen zur Seitenbande und kletterten noch darüber, als die Ablösung bereits zur Mittellinie unterwegs war.

Das Spiel wogte hin und her, während die Sekunden herunterrannen.

Charlotte hielt die Luft an und drückte beide Daumen zur Unterstützung.

Plötzlich schlug ein Oiler-Spieler dem gegnerischen Angreifer, der nur zwei Meter vor dem Tor zum Schuss ausholte, von hinten zwischen die Schlittschuhe und zog ihm ein Bein weg. Der Gegner stürzte. Der Pfiff, der folgte, war unumgänglich.

„Verdammt! Mike, was sollte das?!“, rief Charlotte aufgebracht. Sie wusste, wie die Entscheidung der Spielleitung ausfallen musste.

Der Schiedsrichter zeigte es auch prompt an.

Penalty.

Drei Sekunden vor Schluss - und nun gab es eine große Chance für das gegnerische Team zum Ausgleich.

Wütend griff Charlotte sich an den Kopf. „Wenn der Strafschuss reingeht“, rief sie zu Phil gewandt, „dann müssen wir in die Abstiegsrunde.“

Das Spieldrittel der Oilers wurde geräumt. Nur der Goalie verblieb darin und fuhr vor seinem Tor hin und her. Er raute das Eis etwas an, um einen besseren Halt zu haben. Es war eine symbolische Handlung, ein Ritual, wie es viele Torhüter, nicht nur im Eishockey, machten. Der gegnerische Spieler, der den Penalty ausführen würde, befand sich noch tief im eigenen Drittel und umkurvte langsam das dortige Tor. Der Puck lag auf dem Anstoßpunkt in der Mitte der Eisfläche.

Da durchzuckte Charlotte eine Idee, und sie handelte sofort. Rasch zog sie ihren kleinen Block, den sie immer mit sich führte, aus der Manteltasche hervor, ebenso den Bleistift. In rasender Eile flogen die kalten Finger über das Papier. Nach und nach hielt sie die Szene fest. Der Goalie hatte sich mittlerweile vor seinem Tor aufgebaut, bewegte sich kaum noch und machte sich so breit wie möglich. Charlotte zeichnete die Markierungen auf dem Spielfeld, den Rahmen des Tores, die Maschen des Netzes und Umriss sowie Helmvisier des Goalies.

Phils fragenden Blick ignorierte sie, als sie die Zeichnung signierte. Dann tippte sie ganz leicht auf den Torhüter.

Das sollte er nicht gespürt haben, dachte sie. Aber nun ist die Verbindung stabil, auch wenn er sich ein wenig bewegt.

Der Pfiff des Schiedsrichters zum Ausführen des Strafschusses ertönte.

Der Angriffsspieler fuhr noch einmal um sein eigenes Tor und nahm dann Fahrt auf. Den Schläger auf der rechten Körperseite, nahm er den Puck von der Mittellinie mit und glitt in Höchstgeschwindigkeit auf das Tor der Oilers zu. Er holte nur wenig aus, traf den Puck aber dennoch kraftvoll. Es knallte laut. Das Spielgerät schoss in gerader Linie nach schräg oben.

Charlotte konnte dem Puck mühelos folgen. Es war, als sähe sie nicht mit den rund 50 Hertz des menschlichen Auges, sondern mit viel höherer zeitlicher Auflösung. Auch ihr Gehirn verarbeitete die Informationen schneller. Rasch extrapolierte sie die Bahn und realisierte, dass der Puck rechts oben im Netz einschlagen würde.

Ob der Goalie ihn abwehren konnte?

Charlotte wusste es nicht. Aber sie selbst konnte ihr Team unterstützen. Mit mehr Kraft als zuvor tippte sie auf die linke Hüfte des gezeichneten Torwarts. Jeder normale Mensch würde sich nun wegdrehen, um einer erneuten Berührung mit dem, was einen gerade traf, zu entgehen. Nicht aber der Eishockeygoalie. Er drückte instinktiv seinen Körper zu der Seite hin, auf der er den Druck spürte, glaubte vielleicht, dass es schon der Puck war.

Nur einen Wimpernschlag später prallte das Spielgerät an seinem massigen Schutzanzug ab und flog knapp am Torrahmen vorbei.

Charlotte radierte ihre Signatur vom Bild und schob es in die Manteltasche. Dann schloss sie sich den lauten Jubelrufen in der Halle an. Weit mehr als die Hälfte der Zuschauer waren Anhänger der Oilers. Charlotte riss die Arme in die Luft und schrie ihre Freude heraus.

Es kam noch einmal zum Anstoß, aber in den restlichen drei Sekunden geschah nichts mehr. Das Spiel endete 3:2.

Ihr Team war gerettet! Definitiv kein Abstieg in die niedrigere Klasse.

Den Gedanken, dass ihr Eingriff vielleicht als Betrug oder zumindest als unfair eingestuft werden konnte, schob sie zur Seite. Vielleicht hätte der Goalie den Schuss ohnehin gehalten.

Ihr war bewusst, dass nun ein anderes Team in die Abstiegsrunde musste. Auf der anderen Seite waren die Arbeitsplätze der Oilers gesichert. Nicht nur die der Spieler, sondern insbesondere die Jobs derjenigen, welche auf der Geschäftsstelle oder in den anderen, den kleineren Sportabteilungen des Vereins arbeiteten. Und Charlotte kannte viele der Übungsleiter und Verwaltungsangestellten.

Hatte sie kürzlich nicht geholfen, einen landesweit gesuchten Gangsterboss zu überführen? Charlotte fand, dass es ihr irgendwie zustand, ihre Gabe auch für diese kleinen Dinge, die einen persönlichen Bezug hatten, einzusetzen.

Lautstark stimmte sie in die Hymne der Oilers ein. Phil schaute sie immer wieder überrascht von der Seite an. So ausgelassen hatte er Charlotte noch nie erlebt.

ENDE
 



 
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