Charlottes Blick 3 - High-School Reunion
(eine Geschichte basierend auf dem Charakter ‚Vickie‘ der TV-Serie ‚Haven‘ von 2010-2015)
(eine Geschichte basierend auf dem Charakter ‚Vickie‘ der TV-Serie ‚Haven‘ von 2010-2015)
Klappentext:
"Auf dem Klassentreffen fünf Jahre nach Abschluss der High-School kommen bei Charlotte Erinnerungen hoch, als sie ihren Jugendschwarm Dave wiedersieht. In der Gegenwart geschieht Dramatisches. Charlotte muss all ihre Kenntnisse und Fähigkeiten einsetzen und hofft, dass dies ausreicht, um die Katastrophe zu verhindern."
Die Tür zur Federal Bank öffnete automatisch, als sich Charlotte der Glasfront näherte. Sie betrat den klimatisierten Vorraum und stieg die wenigen Stufen zur Schalterhalle hinauf. Große Pflanzen in Kübeln unterteilten die Halle optisch in einzelne Bereiche. Die Schreibtische der Kundenberater waren durch die Blätter nur zu erahnen. Charlotte wandte sich nach links zum Wartebereich. Aus einem der ledernen Sessel erhob sich in diesem Moment ihre Verabredung.
„Good morning, Mr Clondike“, grüßte Charlotte und streckte die Hand aus.
Der Vertreter der Beratungsfirma, welche die Aufträge der inversen Auktionen begleitete, erwiderte den Gruß mit einem freundlichen Lächeln. „Guten Morgen, Miss Bernstedt.“
„Wollen wir gleich?“
Clondike nickte, und die beiden gingen zum Büro des Bankdirektors. Als sie das Vorzimmer betraten, unterbrach die Sekretärin das Tippen auf der Schreibmaschine.
Clondike und Bernstedt“, stellte der Berater sie vor. „Der 10‑Uhr-Termin für Direktor Campbell.“
Die Sekretärin schaute im Kalender nach, und brachte die beiden Besucher nach kurzer Rücksprache über die Gegensprechanlage ohne weitere Wartezeit ins angrenzende Hauptbüro.
Campbell kam hinter seinem wuchtigen Edelholzschreibtisch hervor, begrüßte die Geschäftskunden mit ausgesuchter Höflichkeit und bat sie, Platz zu nehmen. „Miss Bernstedt, Mr Clondike. Obwohl Sie mir persönlich natürlich bekannt sind, muss doch den Vorschriften entsprochen werden.“
Er nahm die Personalausweise von Charlotte und Clondike entgegen, fertigte persönlich eine Kopie davon an und legte diese in die Transaktionsakte. Anschließend reichte Mr Clondike ihm einen Scheck, dessen Nummer auf dem Vorgangsbogen vermerkt wurde. Charlotte setzte ihre Kontonummer ein, und sowohl sie als auch Clondike unterschrieben das Dokument.
„Dürfte ich um die über die Bank als vertrauenswürdigem Partner miteinander vereinbarten Codes zur Identifizierung und Transaktionsfreigabe bitten?“, fragte der Direktor und schaute die Besucher auffordernd an.
„A-12-X-34Y“, antwortete Charlotte und verkniff sich ein Schmunzeln über die seltsamen Authentifizierungscodes, welche die Beratungsfirma immer ausgab, wenn die Honorare für die vergebenen Aufträge beglichen wurden.
„Bootstrip3“, sagte Arthur Clondike. Er runzelte leicht missbilligend die Stirn, schien ihm ein einfaches Wort offensichtlich bei der Höhe der Schecksumme unter Sicherheitsaspekten wenig geeignet.
Campbell nickte, als er die beiden verschlossenen Umschläge, die in der Akte lagen, vor den Augen von Charlotte und Clondike öffnete und die Angaben überprüfte. Mit seiner nun folgenden Unterschrift gab er die Scheckgutschrift final in Auftrag. Er klappte die Akte zu und drückte auf die Gegensprechanlage, um seine Sekretärin hereinzubitten und ihr den Vorgang zu übergeben.
„Miss Bernstedt, die Summe von 882.000 kanadischen Dollar abzüglich 2% Einreichungsgebühr steht ihnen ab dem morgigen Tag, 14 Uhr zur Verfügung.“
Charlotte verabschiedete sich von Clondike und den Bankmitarbeitern und verließ das Gebäude.
Sie blickte auf die Uhr. Die gesamte Transaktion hatte weniger Zeit benötigt, als sie eingeplant hatte. Bis zu ihrem Treffen mit Annabelle war noch ein wenig Zeit. Die Hände in den Hosentaschen vergraben und den Mantelkragen hochgeschlagen ob des kalten Windes ging sie in Gedanken versunken die Straße hinunter.
Nach einer Viertelstunde hatte sie das Restaurant erreicht. Charlotte betrat den stark beheizten Raum, in dem sie auf der Türschwelle Kaffeeduft empfing. Sie ließ sich in einer der Essbuchten in der Nähe des Eingangs nieder, bestellte ein Wasser und bat um die Tageszeitung. Gemütlich blätterte sie durch die Seiten und bemerkte nicht, wie rasch die Zeit verflog.
„Hey, Charlotte!“, kam es plötzlich von der Tür, und Annabelle Rivers ließ sich wenige Sekunden später gegenüber der Angesprochenen auf die rotbezogene Lederbank fallen.
Charlotte hob den Kopf. „Hi, Annabelle“, erwiderte sie und faltete die Zeitung zusammen.
Nach einem kurzen Blick in die Karte bestellten beide den Tagesbrunch und wandten sich dann dem Geschäftlichen zu.
„Also“, begann Annabelle, „bis jetzt konnte ich nur herausfinden, dass es in einer Umgebung von 20 Meilen aufwärts und abwärts der Stelle, an der dir das Bergungsgut gestohlen worden ist, drei offiziell angemeldete Boote gibt, die rote Streifen haben und auch sonst deiner Beschreibung entsprechen.“
Charlotte schob die Zeitung vom Tisch hinunter auf die Bank neben sich, da gerade der gebratene Speck, die Eier und die Waffeln gebracht wurden. Die beiden Detektivinnen schwiegen, bis die Bedienung den Tisch wieder verlassen hatte.
„Das klingt doch überschaubar. Hast du die Namen der Eigner?“
Annabelle griff in ihre Aktentasche und holte ein Blatt hervor, das mit Maschine geschrieben war. Charlotte warf nur einen flüchtigen Blick darauf und schob es zurück.
„Annabelle, ich würde deinen Auftrag gerne erweitern, wenn du Zeit hast.“
Die Detektivin nickte, sagte aber nichts.
„Überprüfe die drei Eigentümer genauer. Vielleicht lebt einer seit Kurzem auf großem Fuß? Die Diebe haben ein Drittel der Goldstatuen von Williamson in ihrem Besitz und werden sie zu Geld machen wollen. Wenn du die Statuen wiederbeschaffst, teilen wir uns die 441.000 Dollar und du verzehnfachst dein Honorar gegenüber jetzt.“
Annabelle legte ihr Besteck auf den Teller. Es klapperte laut. Mit Verwunderung schaute sie Charlotte an. „Das ist eine Menge Geld. Warum machst du die Überprüfung nicht selbst? Du kennst dich damit doch genauso gut aus wie ich.“
„Ich bin nächste Woche für ein paar Tage in Oakville und danach oben bei meinen Eltern in Nova Scotia. Ich will keinen unerledigten Fall zurücklassen. Wer weiß, wie lange die Recherchen benötigen.“
„Oakville?“
„Fünfjähriges High-School-Treffen.“
„Gehst du alleine?“, wollte Annabelle wissen und schob ihren Teller von sich.
„Phil begleitet mich. Er ist ohnehin für ein paar Wochen beruflich in Toronto. Den kleinen Trip an meine High-School wollte er sich nicht entgehen lassen.“
Annabelle nahm den Auftrag an.
***
Vorsichtig bremsend hielt das Taxi vor der Reading-High-School im Norden von Oakville, Provinz Ontario. Die Straßen waren glatt, es schneite nicht wenig, und für die Nacht war noch stärkerer Niederschlag angekündigt. Schwarze Wolken bedeckten den Himmel. Die Straßenlaternen brannten schon seit mehreren Stunden, obwohl erst früher Abend war.
Charlotte bezahlte den Fahrer, und sie und Phil stiegen aus. Wegen des Windes verzichteten sie auf das Aufspannen der Regenschirme und liefen stattdessen zügig durch das offenstehende Tor und über den Schulhof. Ein paar Außenlampen spendeten ein wenig Licht, aber Charlotte kannte auch fünf Jahre, nachdem sie diesen Ort das letzte Mal verlassen hatte, noch jeden Winkel des Geländes. Ihr reichte das schummerige Licht aus, um sich problemlos zu orientieren. Charlotte bog nach links zur Turnhalle ab. Dort angekommen zog sie die breite Tür am Holzgriff auf. Phil und sie sprangen förmlich ins Trockene und klopften sich den Schnee vom Mantel.
Die beiden standen in einem breiten, etwa zwanzig Meter langen Gang. Schmale Neonröhren waren in kurzen Abständen an der Decke angebracht und spendeten gelbliches Licht. Rechts gingen Türen zu den Umkleiden und Duschräumen ab, links eine große, doppelflügelige Tür in die eigentliche Sporthalle. Neben diesem Eingang stand ein zwei Meter breiter Tisch, hinter dem zwei Personen saßen, deren gut sichtbare Namensschilder sie als Megan und Roger auswiesen. Mit einem breiten Lächeln sahen sie den Neuankömmlingen entgegen.
„Heh, du bist...“, sagte der junge Mann, „...hilf mir, dein Gesicht kommt mir bekannt vor, aber dein Name fällt mir gerade nicht ein.“
„Charlotte Bernstedt.“
„Richtig! Die Malerin!“
Charlotte lachte laut auf. „Na, ich zeichne gerne, das stimmt. Aber Malerin? Nun, so weit bin ich nicht gekommen.“
Megans Augen flogen über die Liste der Angemeldeten. „Da haben wir dich. Du wolltest mit einem Phil Messier kommen. - Dein Freund?“
Charlotte schüttelte den Kopf. „Nein, bloß ein Freund und Arbeitskollege.“
Roger deutete auf die Tür auf der rechten Seite des Gangs, welche der Anmeldung direkt gegenüberlag. „Dort ist die Garderobe.“
Charlotte und Phil nahmen die Anstecknadeln mit den großen Schildern, auf denen ihre Namen handschriftlich eingetragen worden waren, entgegen. Nachdem sie ihre Mäntel in der Garderobe an den Haken aufgehängt hatten, steckten sie sich die Schilder an Jackettrevers und Kleid und betraten dann die Turnhalle.
Gedämpfte Musik schallte ihnen aus der hohen Halle entgegen. Die kleinen Fenster direkt unterhalb der Decke in acht Metern Höhe waren aufgrund des Schneefalls geschlossen.
Charlotte blieb direkt hinter dem Eingang stehen und schaute sich erst einmal neugierig um. Dachte man sich das Festequipment weg, so hatte sich nur wenig verändert. Höchstens, dass die Markierungen auf dem Boden noch blasser geworden waren, und der ein oder andere Gummiabrieb von Turnschuhen weitere schwarze Flecken erzeugt hatte. Aber das Netz des einen Basketballkorbs war erneuert worden.
Immerhin etwas, dachte Charlotte, die für eine Sekunde mit ein wenig Wehmut an die Zeit als Schülerin zurückdachte. Als sie nach vier Jahren auf der Schule diesem Abschnitt endlich Adieu hatte sagen können, war ihre Gefühlswelt eine völlig andere gewesen. Nur raus hier, hatte sie damals immer gedacht.
Die allermeisten Gäste, die mit oder ohne Begleitung zugesagt hatten, schienen bereits zugegen zu sein, denn eine Unzahl von Menschen wuselte herum. Kleidungstechnisch war alles vertreten - vom legeren Freizeitoutfit mit Jeans und labbrigem Shirt über schicke Businessoutfits bis hin zum eleganten Kleid und edlen Anzug. Phil in seinem dunkelgrauen Anzug und Charlotte in ihrem blauen, knielangen Samtkleid fielen nicht auf.
„Char, du kanntest die beiden an der Anmeldung nicht?“, fragte Phil, als sie am Getränkestand vorbeigingen und sich ein Glas Fruchtpunch nahmen.
Charlotte schüttelte den Kopf. „Wir waren über 60 Leute im Abschlussjahrgang 1962. Bestimmt hatte ich mit den meisten den ein oder anderen Kurs zusammen, aber seitdem keinerlei Kontakt. Ich bin ja fast sofort nach dem Abschluss nach Vancouver gezogen. Du weißt schon, auf eigenen Beinen stehen und so weiter.“
Die beiden mischten sich unter die Menschen. Charlotte sprach mit vielen ein paar Worte, stellte Phil vor und wurde ihrerseits den Begleitern der anderen Absolventen vorgestellt. Noch war die Stimmung ein wenig förmlich, wenn sich auch jeder bemühte, die Lockerheit der Schulzeit aufkommen zu lassen.
Schließlich gingen Charlotte und Phil auf die Tanzfläche. Der DJ spielte bevorzugt Songs aus dem Abschlussjahr. Rock-'n'-Roll-Hymnen überwogen, aber es kamen auch Songs aus England und sogar die ein oder andere Tonbandaufnahme von Schülerbands der High-School, die manchmal nur einen einzigen Auftritt auf einer Schulveranstaltung hatten, und von denen man danach nie wieder etwas hörte. Charlotte gefiel die Zusammenstellung. Ein wenig Nostalgie, aber nicht zuviel, um es gezwungen wirken zu lassen.
Nach ein paar Songs trat ein mittelgroßer, schwarzhaariger Mann zu den beiden und fragte Phil: „Darf ich abklatschen?“
Phil sah das Aufleuchten in Charlottes Augen, nickte verstehend und ging zum Büfett. Nur wenig später war er in ein angeregtes Gespräch mit einer kleinen Gruppe von ehemaligen Schülern vertieft. Charlotte konnte nicht hören, worum es ging, aber im Augenblick interessierte es sie auch nicht.
„Hi!“, grüßte der Mann, nahm Phils Platz ein und wirbelte Charlotte im Rhythmus der Musik herum.
„Hi, Dave!“, erwiderte Charlotte. Freude überzog ihr Gesicht, und auch Dave lächelte breit.
Ein neuer, deutlich langsamerer Song mit leisen Saxophontönen begann. Charlotte legte Dave die Arme um den Hals, während er Charlotte an den Hüften hielt.
„Wir hatten eine schöne Zeit damals“, sagte Dave und verringerte ein wenig den Abstand zu Charlotte.
Diese nickte. „Ja, die hatten wir definitiv.“
***
Rückblende, 6 Jahre zuvor
Charlottes drittes Jahr in der Secondary School, ihr 11. Schuljahr insgesamt
Charlotte saß auf dem kleinen Mäuerchen, das den vorderen Schulhof der High-School umgab. In ihrem Rücken standen ein paar Ahornbäume, dann folgte schon die Straße mit der Bushaltestelle direkt vor dem schmiedeeisernen Tor.
Die Glocke hatte bereits zum Ende der Pause geläutet, doch Charlotte machte noch keine Anstalten aufzustehen. Sie zeichnete, wie sie es in vielen Pausen tat. Gerade hielt sie die Front des Hauptgebäudes fest, den breiten Rundbogen mit der dunklen, aus schwerem Holz bestehenden Eingangstür, die vielen Fenster der Klassenräume zu beiden Seiten.
Da hörte sie schnelle Schritte, die sich über das kleine Kiesbett näherten. Sie blickte auf, und sofort stahl sich ein breites Lächeln auf ihr Gesicht, als sie ihren Freund Dave heranrennen sah. Charlotte setzte noch schnell ihre Unterschrift unter das Bild, denn nun war es ihrer Meinung nach fertig, und stieß sich von der Mauer ab. Sie klopfte sich ein wenig Staub und Schmutz vom Rock der Schuluniform und lief Dave entgegen.
„Sorry, Char“, keuchte ihr Freund und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Es ging nicht schneller. Der doofe Carlson wollte, dass ich ihm beim Aufräumen der Sprunganlage helfe.“
„Schon gut“, erwiderte Charlotte und schlang die Arme um seinen Hals. Sie begrüßte den Kapitän des schulenübergreifenden Eishockey-Teams mit einem sanften Kuss auf die Lippen.
„Wir treten nachher gegen sie an, dabei bleibt es doch, oder?“, fragte Dave.
„Klar.“
Der Wind frischte etwas auf und wehte Charlottes Bild von der Mauer. Dave bückte sich und hob die Zeichnung auf.
„Das sieht wirklich klasse aus“, sagte er, und echte Bewunderung schwang in seiner Stimme mit. „Deine Bilder wären doch was für die nächste Schulausstellung.“
„Nein“, erwiderte Charlotte bestimmt. „Meine Bilder sind nur für mich. Du bist der einzige, der sie ansonsten zu sehen bekommt.“
Sie streckte die Hand aus, doch Dave zog seinen Arm zurück. Er grinste spitzbübisch. „Was kriege ich, wenn ich es dir wiedergebe?“
Charlotte lachte und boxte ihm liebevoll auf den Oberarm. „Idiot!“
Dann aber legte sie wieder die Arme um seinen Hals und zog ihren Freund an sich. Der Kuss, der folgte, war deutlich leidenschaftlicher als die Begrüßung zuvor. Dave ließ das Bild los, als er spürte, wie Charlotte danach griff, und legte seine Hände an die Wangen seiner Freundin.
Charlotte war so im Moment gefangen, dass sie erschrak, als plötzlich ein lautes Klirren ertönte. Das Paar wandte den Kopf. Eins der Fenster im Erdgeschoss war zersprungen.
Die Schulglocke läutete erneut und kündigte den Beginn des Unterrichts an. Hand in Hand rannten die beiden zurück ins Gebäude. Nach einem raschen Abschiedskuss in der Aula trennten sich ihre Wege, und Charlotte lief die Treppe hinauf in den ersten Stock zu ihrem Klassenzimmer.
Sie klopfte, öffnete sofort die Tür und trat ein. „Sorry!“, sagte sie nur und huschte zu ihrem Platz am Fenster in der vorletzten Reihe. Zwanzig Schülerinnen und Schüler belegten die Einzeltische, von denen nur zwei frei blieben.
„Charlotte, du bist mal wieder zu spät“, kam es vom Lehrerpult.
„Aber nur ein wenig“, erwiderte das Mädchen. „Sie haben ja noch nicht einmal etwas an die Tafel geschrieben.“
Die Klasse grinste.
Mr Benson, ein Hüne von einem Mann, an dem alles viel zu groß wirkte, und dessen graues, schütteres Haar in alle Richtungen abstand, stemmte sich aus dem Stuhl empor. Er war recht beliebt, ließ er den Schülern doch vieles durchgehen.
Mia, Charlottes Nachbarin zur Rechten beugte sich herüber und flüsterte: „Dave?“
Charlotte nickte. „Ich wollte ihn in der Pause unbedingt noch sehen. Wenigstens kurz.“
Bensons Stimme schwoll an. „Charlotte, Mia, Ruhe da hinten!“
Der Englisch-Unterricht schleppte sich dahin. Charlottes Blicke wanderten umher, ihre Gedanken ebenso. Die Worte des Lehrers rauschten an ihr vorbei. Aus Langeweile begann sie schließlich, die grüne Tafel zu zeichnen. Mit ihrem Auge für Details hielt sie die kleine Kreideablage unterhalb der Tafelfläche fest, den Schwammhalter am rechten Rand, die Orientierung der drei farbigen Kreidestücke, und sogar die Schrauben, mit denen alles in die Wand gedübelt worden war, fanden den Weg auf das Papier. Charlotte kopierte das Wenige, das Benson an die reale Tafel geschrieben hatte, auf ihr Bild. Doch auch das Zeichnen wurde ihr rasch langweilig. Automatisch signierte sie das Bild, obwohl es ihr nicht sonderlich gefiel, weder vom Motiv noch von der Ausarbeitung her. Es passte zum Unterricht, war es doch einfach langweilig.
Charlotte stierte vor sich hin. Das Kinn in die aufgestützte rechte Hand gelegt, begann sie, mit den Fingern der linken rhythmisch, aber sehr leise, auf den Tisch zu klopfen.
Ist das zäh heute, ging ihr durch den Kopf, und sie musste ein Gähnen unterdrücken.
Plötzlich aber hob sie überrascht den Kopf, wie alle anderen Schüler auch. Irgendetwas klopfte auf die Tafel, vor der jedoch niemand stand. Zumindest kam aus dieser Richtung ein entsprechendes Geräusch. In seiner Regelmäßigkeit klang es irgendwie künstlich. Charlotte stoppte ihr Trommeln.
Benson hielt in seinem Redefluss inne, drehte sich um und schlug mit seiner großen Faust einmal fest auf die Tafel.
Charlotte wartete darauf, dass er ein „Ruhe!“ zur Tafel rief und grinste schon, aber der Lehrer tat nichts dergleichen.
Doch als das Geräusch von der Tafel sich nicht wiederholte, ging alles wieder seinen gewohnten, eintönigen Gang. Charlotte begann einzudösen. Sie merkte, wie ihr Kopf drohte, nach unten zu rutschen. Die einsetzende Bewegung machte sie schlagartig wieder munter, zumindest für ein paar Sekunden. Sie richtete sich auf, legte eine Hand auf die Zeichnung und schob das Blatt ein Stück von sich.
Ein lautes, durchdringendes Knirschen ertönte von vorne. Erneut blickten alle zum Lehrer, der seinen Monolog über Theaterfiguren und ihre Gefühlslage erneut unterbrach.
Charlotte aber wurde nun wirklich wach. Ein Verdacht keimte in ihr auf.
Sie trommelte nacheinander mit drei Fingern auf ihre Zeichnung. Und drei Geräusche, wie es ein Material von sich gab, das einem Druck ausgesetzt war, und sich nun wieder entspannte, kamen aus Richtung der realen Tafel.
So ein Quatsch!, dachte sie ungläubig. Das kann unmöglich ich sein, der das hervorruft.
Dennoch probierte sie es weiter. Ein Klopfen links auf ihre gezeichnete Tafel führte zu einem Geräusch links an der realen. Ebenso rechts. Plötzlich grinste sie. Mit dem Fingernagel fuhr sie über ihre Zeichnung. Und von der Tafel waren undefinierbare Geräusche zu hören, aber kein Quietschen.
Schade!, dachte Charlotte enttäuscht. Das hätte sich bestimmt gruselig angehört.
Dann aber ließ sie es gut sein. Charlotte legte ihr Textbuch auf die Zeichnung und wartete wie die anderen Schüler auch. Benson machte einen ratlosen Eindruck.
„Geister“, rief eine Schülerin aus der vordersten Reihe. Die Klasse lachte.
Charlotte schaute auf die Uhr. Noch eine Viertelstunde, dann war dieser heute einfach unerträgliche Unterricht endlich vorüber.
„Charlotte, was denkst du über die Motivation der Figur?“, fragte Mr Benson plötzlich.
Charlotte schrak aus ihren Gedanken. „Äh, sorry, ich habe gerade noch über die Szene im Wald nachgedacht.“ Sie hoffte, dass diese Aussage Sinn ergab, war doch das Wort ‚Wald‘ das einzige, an das sie glaubte, sich erinnern zu können, und das irgendwie mit diesem Stück zu tun hatte.
„Wirklich? Die Anfangsszene des Stücks, die wir vorgestern besprochen haben, hat dich so stark beeindruckt?“
Charlotte nickte automatisch, hatte aber keine Ahnung, wovon Benson sprach oder was sie nun antworten sollte.
„Vielleicht möchtest du der Klasse deine Gedanken näherbringen?“, schlug der Lehrer vor.
Heute hat er wohl seinen schlechten Tag, dachte Charlotte. Er bohrt doch sonst nicht nach.
Hastig überlegte sie. Cool reagieren, die Lacher auf ihrer Seite haben, war keine Option. Auch wenn Benson bei schlagfertigen Antworten oft mitlachte, heute bestand die Gefahr, dass er sie zum Nachsitzen verdonnerte. Und das passte ihr an diesem Tag überhaupt nicht. Also beschloss sie, der Hausarbeit, die wohl gerade auf sie zukam, zuvorzukommen. Sie hoffte, den Lehrer damit etwas einwickeln zu können.
„Das wäre zu komplex. Ich würde lieber darüber schreiben, wenn Sie erlauben, Mr Benson.“
Der Englisch-Lehrer war überrascht. Eine Schülerin, die freiwillig ein Paper anbot, war ihm wohl noch nicht oft untergekommen. „Schreibe drei Seiten über die erste Szene und deine Gedanken dazu. Dann kannst du jetzt den Rest der Stunde auch noch aus dem Fenster schauen.“
Charlotte grinste und antwortete schlicht: „Deal!“
Als der Schultag schließlich am frühen Nachmittag endete, riss Charlotte ihren Rucksack hoch und rannte sofort hinaus auf den unteren Schulhof. Sie lief durch das Tor und blieb am Straßenrand stehen. Suchend schaute sie sich um.
Wo blieb Dave? Er wollte sie doch abholen.
Da hörte sie ein Hupen, und wenige Sekunden später hielt ein alter Viertürer vor ihr. Das Blau war an einigen Stellen schon vom Rost angefressen. Charlotte warf ihre Schultasche auf die Rückbank, wo schon die beiden selbstgebastelten Skateboards lagen, und sprang auf den Beifahrersitz.
Dave fuhr in Richtung westlicher Stadtgrenze. Etwa zehn Meter von einem Liquor-Store entfernt hielt er am Bordstein. Ein paar Autos parkten in der weiteren Umgebung. Ansonsten war die Gegend ausgestorben. Neben der gläsernen Eingangstür des Geschäfts ragte ein Stapel leerer Getränkekästen über die Höhe des Schaufensters hinauf.
„Ich hole schnell das Zeug“, sagte Dave. „Rutsch du rüber auf den Fahrersitz, okay?“
Charlottes Gesicht überzog sich mit Überraschung. „Warum das denn?“
Doch Dave gab ihr keine Antwort. Er zog den gefälschten Personalausweis sowie ein paar Geldscheine aus seiner Jackentasche, und stieg aus. Wenige Sekunden später war er in dem Getränkemarkt verschwunden. Dichte, weiße Gardinen an der Tür sowie hinter der Auslage im Schaufenster verhinderten einen Einblick von außen.
Charlotte rutschte auf den Fahrersitz und justierte diesen sowie die Spiegel für ihre Körpergröße. Dann zog sie Block und Bleistift aus ihrer Schultasche und begann, den Eingang des Ladens zu zeichnen. Die Kästen in ihrem eintönigen Braun boten ein sehr repetitives Muster, das nur gelegentlich von Etiketten - vielleicht für Preise? -, die am Holz klebten, unterbrochen wurde. Es war eine Herausforderung, den Blick so schnell wie nur irgend möglich vom Bild zur richtigen Stelle im Stapel springen zu lassen, ohne viel suchen zu müssen. Charlotte zeichnete die Tür, das Namensschild darüber und ein paar der ausgestellten Dekoartikel wie Zapfhähne und Reifungsfässer mit Metallbeschlägen.
Sie signierte das Bild und schaute nachdenklich darauf.
Ob das klappt?, bezweifelte sie selbst ihre Idee. Doch das, was in der Englisch-Stunde an der Tafel geschehen war, spukte immer wieder in ihrem Kopf herum.
Doch bevor sie noch weiter darüber nachgrübeln konnte, öffnete sich die Tür des Ladens, und Dave stürzte mit riesigen Schritten heraus.
Was hat er nun wieder angestellt?, dachte Charlotte alarmiert, als sie Daves verkniffenes Gesicht sah. Ihr Freund rannte zum Wagen, doch in der Eile schien er vergessen zu haben, dass Charlotte fahren sollte.
„Andere Seite!“
Die Zeichnung stopfte sie achtlos in das Seitenfach der Fahrertür. Plötzlich gab es draußen ein lautes Gepolter, und der Stapel Kästen fiel in sich zusammen. Der Mann, der Dave folgte und gerade aus dem Eingangsbereich auf die Straße trat, riss seine Hände hoch, um den Kopf zu schützen. Er stolperte über einen Kasten und stürzte mit einem Aufschrei zu Boden.
Dave klemmte sich eine Whiskey-Flasche unter den Arm und öffnete mit der freien Hand die Wagentür. Charlotte ließ den Motor an und fuhr schon mit quietschenden Reifen los, während Dave noch dabei war, die Tür zu schließen. Triumphierend grinsend hob er zwei Flaschen empor.
Charlotte bog sofort in die nächste Einmündung nach rechts ab, erhöhte das Tempo, nahm die nächste nach links. Noch einmal bog sie nach rechts, dann drosselte sie die Geschwindigkeit wieder in den erlaubten Rahmen und drehte sich zu Dave.
„Was für einen Mist hast du nun wieder gebaut?“
„Nur das, was wir wollten!“, erwiderte Dave und klopfte auf die Flaschen.
„Du solltest sie kaufen. Mit einer gefakten ID. Aber du solltest sie nicht klauen!“
Charlottes Herz raste vor Aufregung. Immer wieder blickte sie in den Rückspiegel und suchte die Blinklichter von Polizeifahrzeugen. Doch noch war alles ruhig.
„Ich hab sie nicht geklaut. Ich hab sogar mehr Dollar dagelassen, als es kostet“, verteidigte sich Dave.
„Was ist passiert?“, fragte Charlotte. Weiter schwang ein wenig Verärgerung in ihrer Stimme.
„Zuerst ging alles glatt“, berichtete Dave. „Whiskey auf den Tresen, Geld. Dann wollte er den Ausweis sehen. Doch irgendwie schien er dem Teil nicht richtig zu trauen. Schließlich sagte er, er hat Zweifel, dass ich wirklich schon 21 bin. Und da wollte er mir das Zeug nicht verkaufen.“
Charlotte bremste und ließ den Wagen langsam an das Fahrzeug vor ihr rollen. Die Ampel hatte auf Rot umgeschaltet. Wieder drehte sie den Kopf nach rechts. „Also hast du Flaschen und Ausweis genommen und bist ab?“
Dave nickte. „Genau.“
„Was, wenn er die Cops verständigt?“, gab Charlotte zu bedenken, aber ihr Ärger verrauchte zusehends, je weiter sie vom Liquor-Store wegkamen.
Dave legte ihr beruhigend eine Hand auf den Unterarm. „Warum sollte er? Er hat doch sein Geld.“
Es hupte. Die Ampel hatte auf Grün gewechselt.
„Crétin!“, entfuhr es Charlotte. Zwischen den Kopfstützen der Sitze hindurch zeigte sie dem Fahrer hinter ihnen den Finger, wartete noch eine Sekunde, und erst als die Ampel auf Gelb sprang, fuhr sie los.
Nach zehn Minuten hatten sie den großen Parkplatz vor dem aufgelassenen Supermarkt erreicht, der seit einem Jahr als Treffpunkt für die Skater der Umgebung diente. Charlotte parkte am Straßenrand. Dave und sie nahmen ihre Boards, stopften die Flaschen in Daves Sportrucksack und liefen zu ein paar Jugendlichen, die auf dem eingezeichneten und mit ein paar Hindernissen wie Bänken oder Kisten aufgebauten Parcours herumcruisten.
„Hi!“, grüßte Dave und ließ den Rucksack vorsichtig zu Boden gleiten. Es klirrte leicht. „Zwei Flaschen als Einsatz. Zwei eurer Leute gegen Charlotte und mich.“
Nach kurzer Beratung der fünf, traten zwei drahtige Teenager vor. Charlotte schätzte, dass sie ungefähr in ihrem Alter waren. Sie mussten auf eine andere Schule gehen, denn auf der Reading High hatte sie niemanden von den fünf jemals gesehen.
„Dann mal los“, sagte der Anführer der Crew. „Immer abwechselnd. Ihr fangt an.“
Charlotte machte sich bereit, stand schon mit einem Fuß auf dem Board und wollte gerade losfahren, als sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung am Rande des Parkplatzes gewahrte. Etwa einhundert Meter entfernt kamen ihnen zwei uniformierte Polizisten entgegen. Die Schnelligkeit und ihre Bewegungsrichtung machten deutlich, dass nur die kleine Gruppe ihr Ziel sein konnte.
Hat das was mit Dave zu tun?, fragte sich Charlotte und zögerte den Start hinaus.
„Die hat Bammel“, hörte sie in ihrem Rücken einen der Gegner rufen. Die anderen brachen in Johlen aus, doch Charlotte achtete nicht darauf.
Sie sprang vom Board und machte Dave auf die Cops aufmerksam. Schrecken überzog sein Gesicht, und Charlotte hielt ihn sofort am Shirt zurück, als er sich umdrehen wollte. Ihr war klar, dass Dave im Begriff war, abzuhauen.
„Bleib! Wenn sie nichts von dir wollen, machst du dich nur verdächtig. Und falls doch - sie haben mit Sicherheit deinen Wagen auf der Straße gesehen. Der Ladenbesitzer hat uns ja wegfahren sehen, vielleicht hat er sich die Nummer gemerkt, obwohl alles so schnell ging. Aber eine Flucht von hier wäre sinnlos.“
Schon von weitem riefen die Cops: „Dave Gardner? Wir haben ein paar Fragen an Sie.“
„Verdammt!“, fluchte Dave leise, ließ sich aber von Charlotte mitziehen, als diese den Polizisten entgegenging. Sie griff die Hand ihres Freundes und drückte sie zur Unterstützung.
„Ja, das bin ich. Was gibt es, Officer?“
***
Mit übereinandergeschlagenen Beinen und trotzig vor der Brust verschränkten Armen saß Charlotte auf dem Besucherstuhl im Büro des Leiters der Polizeistelle West. Detective Clermond hatte den mündlichen Bericht seiner Officers entgegengenommen und Charlottes Eltern verständigt. Auch Daves Erziehungsberechtigte wurden jeden Moment erwartet.
Charlotte war sauer, hatte man sie und ihren Freund doch getrennt. Dave wartete im Vernehmungszimmer. Immerhin hatte man ihnen einen Kaffee gebracht.
Sie wippte nervös mit einem Fuß.
Wofür hält der sich eigentlich?, dachte sie wütend. Wir haben nichts verbrochen, und der behandelt uns, als ginge wegen zweier Whiskey-Flaschen die Welt unter.
„Kann ich jetzt endlich gehen?“, fragte sie erneut auf Französisch. Sie kannte die Antwort, aber immerhin nervte sie den Polizisten auf diese Weise ein wenig.
„Wir warten auf deine Mutter“, antwortete der Detective ruhig. „Das sagte ich dir bereits.“
„Warum duzen Sie mich eigentlich? Ich bin fast 18!“, erwiderte Charlotte. Ihre Empörung aber war gespielt. Es war ihr völlig gleich, ob der Detective sie duzte oder nicht.
„Verhalte dich wie eine Erwachsene, dann sieze ich dich auch“, kam es trocken zurück.
Charlotte blickte aus dem Fenster im Rücken des Detectives. Es war leicht gekippt und ließ die warme Luft des Sommers herein. Sie schob sich in ihrem Stuhl hoch und wollte schon zu einer wenig netten Entgegnung ansetzen, als es an der Bürotür klopfte. Nach Clermonds ‚Herein‘ betrat Charlottes Mutter, Angelica Bernstedt, den Raum.
Die Enddreißigerin im grauen Businesskostüm machte ein ernstes Gesicht, als sie zu ihrer Tochter ging. Sie strich dieser über das Haar, was Charlotte mit einer ausweichenden Drehung des Kopfes quittierte.
„Geht es dir gut?“, fragte Mrs Bernstedt besorgt.
Charlotte nickte. „Ich weiß nur nicht, warum ich hier bin.“
Ihre Mutter nahm den angebotenen zweiten Stuhl an, setzte sich und wandte sich an den Detective. „Was werfen Sie meiner Tochter vor?“
„Dave Gardner hat mit einem gefälschten Ausweis zwei Flaschen alkoholischen Getränks gestohlen.“
Charlotte fuhr auf. Wütend knallte sie ihren Fuß auf den Boden. „Mom, das stimmt nicht. Dave hat genügend Geld auf dem Tresen gelassen.“
Der Detective erklärte: „Der Geschäftsinhaber hat ausgesagt, er habe Mr Gardner darauf hingewiesen, ihm keinen Alkohol zu verkaufen. Dennoch nahm Mr Gardner die Getränke und rannte weg. Ein eindeutiger Diebstahl.“
Charlotte wollte schon wieder aufbrausen und Dave zur Verteidigung beispringen, da spürte sie die Hand ihrer Mutter auf der Schulter. „Der Detective hat recht. Sollte sich alles so zugetragen haben, war es ein Ladendiebstahl.“
Sie wandte sich wieder an den Polizisten. „Was hat meine Tochter damit zu tun?“
„Sie fuhr den Fluchtwagen.“
„Stimmt das, Charlotte?“, fragte Mrs Bernstedt.
Charlotte nickte. „Ja, Mom, ich bin gefahren. Als Dave da so aufgedreht rausstürmte, dachte ich, es ist sonst was passiert. Ich hatte Angst um ihn und war schlicht in Panik.“
„Detective Clermond, Sie als Polizeibeamter wissen ebenso gut wie ich, dass dies bei minderen Straftaten nur als Beihilfe zählt. Das reicht nicht aus, Charlotte hier festzuhalten.“
Der Polizist hob abwehrend die Hände. „Das hatte ich nie vor. Ich konnte aber eine Minderjährige nicht einfach gehen lassen. Außerdem hat der Geschäftsinhaber ein Hausverbot für Charlotte und Dave erteilt. Er bat uns, dies den beiden mitzuteilen.“
Er wandte sich an die Schülerin. „Haltet euch also von dem Laden fern. - Du kannst jetzt gehen.“
Charlotte stand auf. Sorgfältig schob sie den Stuhl zurecht. „Was ist mit Dave? Ist er auch frei?“
Detective Clermond nickte. „Ja. Der Geschäftsinhaber hat die Anzeige zurückgezogen. Dave muss allerdings ebenfalls warten, bis seine Eltern ihn abholen.“
Die Bernstedts verließen die Polizeistation und gingen zum Parkplatz gegenüber.
„Mom, ich warte hier, bis Dave freikommt“, sagte Charlotte. Ihre Augen blitzten, und ihre ganze Körperhaltung zeigte deutlich, dass sie eine anderslautende Entscheidung ihrer Mutter nicht akzeptieren würde. Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus. „Du brauchst mir gar keine Rede halten über die Gefahren von Alkohol. Oder dass eine Fake-ID keine gute Idee ist, dass ich mich von Dave fernhalten soll, weil er einen schlechten Einfluss auf mich hat und so weiter. Es ist mein Leben. Ich bin bald 18!“
Mrs Bernstedt seufzte. Es klang resigniert, aber das feine Lächeln in ihrem Gesicht zeigte auch, dass sie die Haltung ihrer Tochter verstand und sogar guthieß. „Ich weiß, Liebes. Deine Erziehung durch deinen Vater und mich hat besser funktioniert, als wir gehofft hatten. Ich war mit 17 bei Weitem nicht so selbstständig wie du. Und du hast den dicksten Dickkopf, den ich kenne. Du willst deine Fehler selbst machen. Dein Vater und ich können dir nur anbieten, dich zu unterstützen und vor dem ein oder anderen warnen.“
Wieder strich sie ihrer Tochter liebevoll über das Haar, und diesmal zog Charlotte nicht zurück. „Außerdem haben Herb und ich nie gesagt, dass Dave ein schlechter Einfluss sei. Wir mögen deinen Freund.“
Aus einem Impuls heraus tat Charlotte etwas, das sie nur sehr, sehr selten tat. Sie küsste ihre Mutter auf die Wange. Doch als sie sah, wie sich die Tür der Polizeiwache öffnete und ihr Freund herauskam, lief sie freudestrahlend über die Straße zurück und rief laut: „Dave!“
Ende der Rückblende
***
Als der langsame Song auslief, beugte sich Dave leicht nach vorne, doch Charlotte legte ihm lachend die Hände auf die Brust und schob ihn von sich.
„Diese Zeiten sind vorbei.“
Dave setzte zu einer Erwiderung an, doch ein ungemein lautes Knirschen und Krachen von jenseits der Tür zum Gang ertönte. Alle Köpfe flogen herum, und der DJ stoppte sofort die Musik.
„Was war das denn?“, fragte Dave.
Charlotte war schon auf dem Weg zum Eingang, doch ein Mann, der näher an der Tür gestanden hatte, öffnete diese gerade. Ein Schwall eiskalter Luft pfiff in die Sporthalle und brachte feine Schneeflocken mit sich. Charlotte streckte ihren Kopf durch die halb geöffneten Flügel hinaus und warf einen Blick in beide Richtungen den Gang hinunter.
„Verdammt!“, rief sie laut. „Eine Baumkrone hat die Decke des Gangs durchschlagen.“
Megan kam zur Tür gelaufen. Besorgt fragte sie: „Was machen wir jetzt? Sollen wir abbrechen? Der Schneefall scheint sich ja zu einem größeren Ding zu entwickeln. Obwohl ein Blizzard nicht angekündigt worden war.“
Sie hob ihre Stimme und rief in die Halle hinein: „Oder hat jemand andere Informationen?“
Leichtes Kopfschütteln der ratlosen Teilnehmer antwortete ihr.
Charlotte winkte Phil zu sich. „Sorry, den Besuch in meiner Teenagerzeit hast du dir bestimmt angenehmer vorgestellt. Aber ich glaube, wir sollten gehen. Hoffentlich schaffen wir es noch ins Hotel.“
Sie wandte sich an Megan. „Gibst du mir die Schlüssel für das Sekretariat? Ich würde uns gerne ein Taxi bestellen.“
Als Megan ihr einen kleinen Schlüsselbund gereicht hatte, rief Charlotte laut: „Ich bestelle Taxis. Will noch jemand eins nutzen?“
Sofort war sie von einer Traube an Menschen umringt. Viele Stimmen redeten gleichzeitig auf sie ein. Charlotte zählte die Taxiwünsche. „Okay, ich rufe an, und dann müssen wir ein paar Posten aufstellen, die signalisieren, wenn die Cabs angekommen sind. Aber das regeln wir später.“
Sie trat in den Gang hinaus. Der massive Baumstamm und ein hoher Schneehaufen erschwerten den Weg zur Garderobe. Es würde eine größere Kletterpartie werden und eine Menge Zeit kosten, dorthin zu gelangen. So verzichtete Charlotte darauf, ihren Mantel zu holen. Die paar Meter zum Hauptgebäude würde sie sicherlich auch so aushalten, egal wie kalt es war. Sie kletterte über heruntergebrochene Deckenteile und den Baumstamm den Gang hinunter zum Eingang. Der von oben kommende Wind trieb nassen Schnee in ihr Gesicht. Charlotte wischte sich mit dem Ärmel ihres Kleides darüber. Sie drückte die Klinke und konnte die Tür nur mit viel Mühe nach außen öffnen. Laut pfiff eine starke Böe herein. Dennoch schaffte Charlotte es hinaus.
Das Atmen ging schwer, riss der Luftstrom unter der Nase doch wegen des Winds immer wieder für einen Sekundenbruchteil ab. Charlotte schirmte die Augen mit einer Hand ab und wandte sich in Richtung des Hauptgebäudes. Nach vorne gebeugt kämpfte sie sich Meter um Meter voran und erreichte schließlich das gläserne Portal, das zur Aula führte. Charlotte sperrte auf, klopfte sich wieder den Schnee vom Kleid und lief durch das Erdgeschoss zum Schulsekretariat, das sich zwischen Lehrerzimmer und Direktorat gegenüber des breiten Treppenaufgangs befand.
Im Sekretariat nahm sie den Telefonhörer von der Gabel. Das Freizeichen erklang, und Charlotte seufzte erleichtert auf. Sie wählte die Nummer der städtischen Taxizentrale. Doch es meldete sich niemand von der Auftragsannahme, sondern eine unpersönliche Bandaufzeichnung,
„Aufgrund der herrschenden Witterungsbedingungen sind Taxifahrten aktuell nicht möglich. Bitte versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal.“
„Mist!“, fluchte Charlotte laut vor sich hin. „Das war es dann wohl. Also eine spannende Übernachtung in der Turnhalle. Super!“
Sie machte sich auf den Rückweg und erreichte ein paar Minuten später wieder den Festsaal. Mit einer Handvoll Servietten wischte sie sich die gröbste Nässe von Kleid und Gesicht, so gut es ging.
Immerhin funktioniert die Heizung, dachte Charlotte, und eine böse Ahnung durchfuhr sie. Aber wie lange noch?
Zum Feiern war im Moment niemandem zumute. Die Musikanlage lief nicht, die Farbstrahler, deren Licht bis vor Kurzem von den Diskokugeln in alle Richtungen reflektiert worden war, brannten nicht. Leise Gespräche schwirrten durch den Raum, erstarben aber, als Charlotte hereinkam. Sofort wandte sich alle Aufmerksamkeit ihr zu.
Mit lauter Stimme erklärte sie: „Sorry, Leute. Aber wir sitzen hier fest. Zwar geht das Telefon, aber Taxis fahren bis auf Weiteres keine. Und bei diesen Bedingungen kann wohl auch niemand selbst fahren. Oder will es jemand versuchen? Die Sichtweite auf dem Hof lag bei ein paar Metern, so dicht ist der Schneefall.“
Sie schaute in angespannte Gesichter, doch niemand meldete sich.
Phil trat zu ihr und ergriff das Wort. „Eure Schule hat hier doch bestimmt einen Katastrophenschrank. Wo befindet sich dieser?“
Charlotte dachte kurz nach und zeigte dann auf die Wand hinter den Plattentellern des DJs. Mehrere in die Wand eingelassene Schubladen waren durch ihre Griffe, wenn man wusste, wonach man suchen musste, gut zu erkennen.
„Hört mal her!“, rief Charlotte. „Es ist ja nicht unser erster Schneesturm. Wir haben Decken und Taschenlampen. Verpflegung ist ja ohnehin da.“ Sie deutete nach vorne zum Büfett. „Sogar mehr als die Trockennahrung im Schrank. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als auszuharren und das Beste daraus zu machen.“
Vielstimmiges Seufzen antwortete ihr. Doch von Panik war keine Spur. Die meisten erinnerten sich wohl noch an die Probealarme, welche die Schule zweimal im Jahr abgehalten hatte. Treffpunkt war immer die Turnhalle gewesen. Darin sollten alle im Ernstfall Zuflucht suchen.
Charlotte trat zum DJ und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Mann nickte, schaltete seine Plattenspieler wieder ein und legte neue Musik auf. Nichts Fetziges, nichts Langsames, sondern normale Pop-Musik zur Unterhaltung. Und wenig später lebten auch die Gespräche wieder auf.
Charlotte aber machte ein ernstes Gesicht. Sie stand mit dem Rücken an das Büfett gelehnt und ließ ihren Blick über die Decke der Halle gleiten.
„Was befürchtest du?“, fragte Phil leise.
„Wir haben einige alte, mächtige Bäume auf dem Schulhof“, erwiderte Charlotte.
Sie musste nicht weitersprechen. Phil verstand auch so. „Du meinst, auch die Halle hier...“
Charlotte nickte. „Ich weiß nicht, ob das Dach einen Baumsturz aushält. Unsere Sporthalle ist alt. Keine Ahnung, wann die letzte Inspektion war. Und der Gang ist ja schon zerstört.“
***
Die nächsten zwei Stunden ging die Party normal weiter. Die Stimmung war gedämpft, aber doch nicht unfröhlich.
Charlotte nahm sich eine neue Limonade, als sie von oben ein leises Knacken vernahm. Sofort blickte sie zur Decke, konnte aber nichts erkennen. Doch nur zwei Sekunden später gab es einen gewaltigen Schlag. Das Glas rutschte ihr vor Schreck aus der Hand, und sie konnte gerade noch verhindern, dass es auf den Boden knallte. Schnell stellte sie es wieder auf den Tisch.
Das Getöse von oben ging noch ein paar Sekunden weiter. Und plötzlich sah Charlotte, was sie befürchtet hatte. Ein dünner Riss ging von der Kante über der Hallentür aus in Richtung Deckenmitte. Charlotte drehte sich um und lief zum DJ. Sie stoppte die Musikwiedergabe und griff nach dem Mikrophon.
„Sorry, Leute, ich bin's nochmal. Uns ist gerade mindestens einer der alten Bäume auf die Turnhalle gefallen. Die Decke hat einen zwei Meter langen Riss.“
Sie nahm eine Taschenlampe aus dem Katastrophenschrank und leuchtete über den Eingang. Auch aus der Entfernung von einem Dutzend Metern sah sie deutlich den schmalen, schwarzen Spalt im Blassgelb der Decke.
„Was für ein Riss?“, fragte Roger und trat unter den Eingang. „Die Decke ist doch völlig intakt, soweit ich sehe.“
„Komm zurück!“, rief Charlotte. „Wenn die Decke nicht hält, bricht es genau über dir durch.“
Phil zog den Mann am Ärmel auf die Seite. „Charlotte hat sehr gute Augen. Du kannst ihr glauben, wenn...“
Wieder ertönte ein infernalisches Krachen, Krächzen und Knistern. Es kam sowohl aus der Höhe als auch vom Gang. Der Haarriss verbreiterte sich um einen Zentimeter. Nun sah ihn jeder. Spuren von beginnender Panik zeigten sich auf manchem Gesicht.
„Wir müssen hier raus!“, rief ein Mann, drängelte sich an Phil vorbei und wollte die Hallentür öffnen. Doch so stark er auch drückte, die Flügel ließen sich nicht nach außen bewegen. „Verdammt!“, rief er lautstark. Seine Stimme klang äußerst besorgt. „Was tun wir jetzt?“
„Wir gehen am besten zuerst einmal in die Ecke, die möglichst weit vom Portal entfernt ist“, rief Charlotte ins Mikrophon.
„Wer hat dich zum Boss gemacht?“, kam es mit schneidender Stimme aus einer größeren Gruppe. Ein junger, blonder Mann mit dem Namensschild ‚Kenny Lefton‘ trat mit verkniffener Miene vor. Er strahlte Aggressivität aus. „Ich sage, wir brechen die Tür auf und gehen ins Haupthaus rüber.“
Charlotte schnaubte verächtlich. „Wenn du die Tür einfach brutal aufbrichst, wird es sehr schnell sehr kalt hier drinnen. Wir sollten vorsichtiger vorgehen.“
Kenny lachte bellend auf. Verachtung lag in seiner Stimme, als er fortfuhr. „Diskutieren, klar, das macht jetzt Sinn. Wahrscheinlich warst du auch Captain vom Debattierclub.“ Er wandte sich an seine Gruppe. „Kommt, Jungs. Die Schwarzhaarige hat uns gar nichts zu sagen.“
Charlotte blickte fragend zu Phil.
Dieser nickte und trat ans Mikrophon. „Mein Name ist Phil Messier. Ich gehöre zur Bundespolizei in Vancouver, bin aktuell aber in dieser Provinz in Toronto stationiert“ Er hielt sein Etui mit dem Dienstausweis in die Luft, so dass jeder die Metallmarke erkennen konnte. „Wir sollten alle zusammenarbeiten.“
Er wartete einen Moment, ob Widerspruch aufkam, dann fuhr er fort: „Wir sollten Charlottes Vorschlag umsetzen und uns auf engerem Raum, weit entfernt vom Riss aufhalten. Außerdem können wir mit den Matten aus den Gerätelagern einen Unterschlupf bauen. Wir konstruieren ein kleines Viereck mit nur einem schmalen Eingang. Dort bleibt die Wärme länger gefangen, für den Fall, dass die Heizung ausfallen sollte. Nehmt euch jeder eine Decke, eine Taschenlampe, sofern genügend vorhanden sind, und Essen mit.“
Dann winkte er Kenny herbei. Missmutig kam der Mann näher. Weiter drückte seine ganze Haltung Aggressivität aus. Es schien fast, als suchte er Streit.
„Mr Lefton, Ihr Vorschlag mit dem Ausbruch ist im Prinzip gut. Nur sollte er dezent durchgeführt werden. Zwei Personen, welche die Tür nur so wenig wie möglich beschädigen und dann draußen den Weg freiräumen. Wenn es sicher genug ist, verschwinden wir hier.“
Kenny wollte schon wieder aufbrausen, als ihm einer seiner Freunde in den Arm fiel und ihm etwas zuflüsterte, was Phil nicht verstehen konnte. Lefton riss sich los, machte sich aber sofort danach mit drei Kumpanen an der Hallentür zu schaffen. Die anderen Anwesenden folgten Phils Aufforderung und begaben sich in die ferne Ecke der Halle. Rasch waren Dutzende der blauen Gummimatten in einem Quadrat aufgestellt, das etwa ein Viertel der Hallenlänge ausmachte. Sprungkästen, Hochsprungstangen, Kunstturnrecks und anderes nützliches Equipment dienten als Stützen. Knapp anderthalb Meter hoch reichte die provisorische Mauer. Die Menschen stöhnten und ächzten, als sie die dicken Hochsprungmatten hochhoben und aufstellten.
Charlotte beteiligte sich nicht an dieser Arbeit, sondern stand am Tisch des DJs. Sie hatte ihren Zeichenblock und den Bleistift in der Hand. Immer wieder warf sie einen langen Blick zur Decke, beugte sich dann nach vorne und zeichnete. Riss, Lampen, selbst größere Unebenheiten fanden ihren Weg in die dreidimensionale Zeichnung.
Von der Decke knackte und knarzte es immer wieder. Und plötzlich verbreiterte sich der Riss erneut um einen Zentimeter.
Charlotte unterdrückte einen Fluch. Sie knüllte das Papier zusammen und warf es achtlos auf den Tisch. Die Zeichnung bildete die Realität nicht mehr exakt genug ab, um eine Kopplung zu ermöglichen.
Der zweite Versuch aber ging schneller vonstatten, denn die Umgebung hatte Charlotte nun im Gedächtnis. Rasch brachte sie die notwendigen Striche zu Papier. Schließlich wandte sie sich dem eigentlichen Riss zu und versuchte, die gezackte Linie so genau wie möglich wiederzugeben.
Die Halle war nun größtenteils menschenleer. An der Tür hantierten Kenny und seine drei Freunde. Phil trat zu Charlotte und blickte sie fragend an. Doch die Frau reagierte nicht. Sie unterzeichnete ihr Bild.
Ich muss es testen, dachte sie und nahm die Zeichnung zwischen Daumen und Zeigefinger. Ersterer lag genau auf der gezeichneten Neonröhre, die direkt neben dem Riss verlief. Unmerklich später gab es ein Klirren, und die Röhre erlosch. Feine Glasscherben fielen zu Boden, aber weit genug von allen Personen entfernt, sodass sie keinen Schaden anrichteten.
„Der Strom fällt aus!“, rief eine laute Stimme aus dem Mattenviereck.
Charlotte erkannte sie nicht und reagierte auch nicht darauf. Sie machte sich bereit. Während sie das Bild nun mit der linken Hand an einem zeichnungsfreien Rand festhielt, legte sie den rechten Daumen direkt auf den Riss, den Zeigefinger auf die Rückseite des Papiers genau gegenüber. Sie wusste nicht, wieviel Kraft sie aufwenden musste, um den Beton soweit zu unterstützen, dass er dem Gewicht des Baumes ausreichend entgegenarbeiten konnte. Sie presste die Finger so stark zusammen, wie sie konnte, bereit, den Druck sofort zu verringern, sollte es erste Anzeichen dafür geben, dass nicht der Baum, sondern ihre Gabe weiteren Schaden hervorrief. Es war ein Risiko, aber immer noch besser, als zu warten, bis alles einbrach.
Rasch traten ihr Schweißperlen auf die Stirn, doch sie ließ nicht nach in ihrer Anstrengung.
Es war eine verzweifelte Aktion. Charlotte war sich im Klaren darüber, dass sie in wenigen Minuten den Druck verringern musste, einfach weil ihre Muskeln erlahmten und sie die Ausübung ihrer seltsamen Fähigkeit stark ermüdete. Doch was blieb ihr anderes übrig, als es einfach zu versuchen? Der Riss hatte sich schon verbreitert. Wenn der Stamm durchbrach, waren alle ungeschützt dem Sturm, der Kälte und dem Schneefall ausgesetzt. Niemand wusste, wie lange das Unwetter andauern würde. Oder wann jemand zu ihrer Rettung kam.
Charlotte musste jetzt handeln, denn sie würde umso mehr Kraft aufbringen müssen, je größer der Riss war. Aktuell hielt die Decke den überwiegenden Teil des Baumgewichts. Und sie selbst musste nur die Differenz zu einem intakten Beton aufbringen. Doch je größer der Riss wurde, desto ungünstiger wurde das Verhältnis. Nicht so sehr das Gewicht von ein paar Tonnen beunruhigte Charlotte, es war die unbekannte Dauer, während derer sie ihre Fähigkeit einsetzen musste.
Aber im Moment schien sie Erfolg zu haben. Das Knarzen hatte aufgehört.
„Was tust du da?“, fragte Phil leise und wollte sie am Arm zum Mattenviereck ziehen.
Doch Charlotte schüttelte seine Hand ab. „Ich erkläre dir alles später. Bitte, frag jetzt nicht weiter, und vertraue mir einfach.“
Phil zögerte ein paar Sekunden. Sein Blick zeigte an, dass er Charlottes Verhalten keinen Sinn zuordnen konnte, doch er gab sich vorerst mit dieser nichtssagenden Antwort zufrieden und ging zu Kenny.
Die kleine Gruppe hatte mit verschiedenen Sportgeräten die Tür so weit aufgestemmt, dass ein schlanker Mensch sich hindurchschieben konnte. Durch den Spalt waren eine Vielzahl an Ästen zu sehen. Unter Spannung wie ein Bogen drückten sie von außen gegen die Türflügel.
Phil reichte Kenny und der Frau, die ihn begleiten wollte, je zwei Taschenlampen. Dann schlüpften die beiden durch den Spalt, stiegen über Äste und bogen dünne zur Seite. Bald waren sie nicht mehr zu sehen, und Phil zog seinen Kopf zurück.
Ein lautes Husten ertönte aus der fernen Ecke. Kurz darauf schaute eine dunkelhaarige Frau aus der Öffnung und rief mit sich überschlagender Stimme: „Charlotte! Du kennst dich doch mit Erster Hilfe aus. Komm schnell! Er erstickt!“
Charlotte verstärkte sofort den Druck ihrer Finger, bis die Knöchel weiß hervortraten. Sie löste den Blick vom Deckenriss, drehte sich um und rannte zum Wärmeviereck. Bevor sie eintrat, legte sie die Zeichnung vorsichtig auf dem Boden neben den Eingang ab.
Die Partyteilnehmer hatten sich stehend an den vier Wänden verteilt, sodass ein freier Bereich in der Mitte des künstlichen Raums entstanden war. Alle hatten sich Decken um die Schultern geworfen. In einer Ecke sah Charlotte beim Hereinrennen einen Haufen mit Taschenlampen, daneben Teller und Schüsseln mit Essen.
In der Mitte der freien Fläche kniete ein Mann. Er hatte starke Atembeschwerden und röchelte vernehmlich. Ein anderer Mann klopfte ihm fest auf den Rücken, doch es half nichts.
„Peter hat etwas gegessen und sich verschluckt“, rief die Frau, die Charlotte alarmiert hatte. Besorgnis schwang in ihrer Stimme.
Charlotte trat hinter den knienden Mann, dessen Atemzüge sehr unregelmäßig kamen. Sein Gesicht hatte sich in Panik verzerrt. Charlotte griff ihn unter den Achseln und zog ihn mit Phils Hilfe auf die Füße. Fest umklammerte sie mit den Armen Peters Bauch und presste diesen ruckartig an sich. Der Mann hustete, aber seine Atembeschwerden ließen nicht nach. Erneut versuchte Charlotte es, doch ohne Erfolg.
„Soll ich?“, fragte Phil, doch Charlotte schüttelte den Kopf. Phil hatte mehr Kraft als sie, und vielleicht würde es bei einem weiteren Versuch klappen. Doch dafür blieb keine Zeit
„Nicht weiter husten!“, sagte sie zu Peter, als sie die Gesichtshaut des Mannes sah, die begann, sich bläulich zu verfärben. Ohne medizinische Geräte blieb Charlotte nur eins.
„Einen Kugelschreiber, einen Schraubenzieher, irgendetwas Spitzes! Schnell!“
Sie ließ den Mann zu Boden gleiten und legte ihn auf den Rücken. Seine Bewegungen waren schwach, er sackte regelrecht zusammen. Irgendjemand drückte Charlotte ein geöffnetes Taschenmesser in die Hand. Für eine Desinfektion blieb keine Zeit. Das Risiko einer Infektion musste sie eingehen. Charlotte setzte die Spitze des Messers unterhalb des Kehlkopfs an und führte den Luftröhrenschnitt etwa einen Zentimeter in Richtung Brust durch. Blut quoll unter ihren Fingern hervor und rann den Hals herunter.
„Einen Strohhalm, schnell! Und irgendetwas Hochprozentiges!“
Während Phil zurück zum Büfett rannte, drückte Charlotte das Messer auf die rechte Seite des Schnitts und zog mit den Fingern der linken Hand das Gewebe auseinander, sodass eine kleine, sichtbare Öffnung entstand.
„Langsam und flach atmen“, sagte sie mit ruhiger Stimme zu Peter. „Es kommt genügend Luft, auch wenn es sich für dich im Moment nicht so anfühlt.“
Wenig später war Phil zurück und brachte das Gewünschte. Charlotte schwenkte einen der Strohhalme für ein paar Sekunden im Whiskey, schüttelte ihn gut ab und schob ihn dann vorsichtig und langsam an der Messerspitze vorbei in Peters Luftröhre. Anschließend zog sie das Messer heraus. Sie goss sich Whiskey über die Hände, die sie über eine leere Salatschüssel hielt und wusch das Blut ab.
„Deckt ihn bitte zu“, sagte Charlotte und stand auf. „Und wenn jemand ein sauberes, dünnes Taschentuch hat, legt das bitte über die Öffnung des Strohhalmes. So fällt zumindest kein Staub hinein.“
Sie wandte sich an Dave. „Beruhige die Leute hier, und kümmere dich um Peter, ja?“
Ihr ehemaliger Freund nickte.
Rasch verließ Charlotte den Unfallort und nahm ihre Zeichnung wieder vom Boden auf. Sie war noch nicht wieder am Büfett angekommen, da polterte es laut. Der Beton alleine hatte dem Gewicht des Baums nicht lange standgehalten. Charlotte lief zur Eingangstür. Der Riss hatte sich auf zehn Zentimeter verbreitert. Man sah nun schon das Holz des Baums. Ein kahler Ast ragte sogar schon in die Halle hinein. Kalter Wind drang gelegentlich durch die Öffnung.
Verdammt!, fluchte Charlotte und zog ihren Block hervor. Erneut flogen ihre Finger über das Papier, und nur zwei Minuten später war die neue Szenerie festgehalten, die Kopplung hergestellt, und Charlotte presste mit aller Kraft auf das Loch in der Decke, das sie gezeichnet hatte.
Aber als der erste Blutstropfen aus ihrer Nase herunterfiel, begann auch in Charlotte so langsam Panik aufzusteigen. Irgendwann würde sie aufgeben müssen. Und dann blieb nur die Hoffnung, dass die herabstürzenden Betonbrocken niemanden erschlugen. Vielleicht würde nur die Decke um den Riss nachgeben, vielleicht pflanzte sich die Instabilität aber auch fort bis in alle Ecken der Halle.
„Na, wenigstens sieht mich außer Phil niemand hier“, murmelte Charlotte mit einem Anflug von Sarkasmus und lachte kurz auf. Sie nahm eine Serviette und wischte sich das Blut unter der Nase weg.
Wieder ertönte ein Knarzen in der Decke.
Fingerpressen reicht nicht mehr, konstatierte Charlotte und legte das Bild auf den Büfetttisch. Den Handballen presste sie auf den gezeichneten Riss und beugte sich leicht nach vorne, so dass das Gewicht ihres Oberkörpers zusätzlichen Druck ausübte. Und nun würde durch die Kraftverstärkung der Kopplung auch eine deutlich größere Kraft auf den Baum ausgeübt werden, aber auch ihre eigenen körperlichen Reserven würden schneller sinken. Charlotte spürte schon, wie ihre Beine zu zittern begannen, und sie musste sich mit der anderen Hand an der Tischkante festhalten.
Und nun nahmen auch die Blutungen zu. Charlotte hielt sich immer wieder für lange Sekunden die Nase zu.
Hoffentlich platzen keine weiteren Äderchen in mir, dachte sie. Das Erlebnis unter Wasser bei der Bergung der Goldstatuen hatte Spuren hinterlassen. Und schweren Herzens entschied Charlotte, dass sie keinen Schritt weitergehen würde. Sie würde nicht mit zwei Händen auf den Riss drücken, oder Phil bitten, sie zu unterstützen.
Auch ihre Fähigkeit hatte Grenzen, die sie akzeptieren musste.
Plötzlich ertönte wieder ein lautes Geräusch, und Charlottes Augen huschten wild über die Decke. Doch diesmal war es Kenny, der mit hochrotem Kopf zurückkam und die Tür aufgezogen hatte. Laut schrie er in die Turnhalle hinein: „Kommt alle raus! Wir können ins Haupthaus. Mary und ich haben einen Weg durch den Schnee gebahnt, der wohl für ein paar Minuten hält.“
Sofort erklangen unzählige Schritte. Frauen und Männer aus dem Wärmeviereck rannten zum Halleneingang. Dave und Roger trugen Peter, der in mehrere Decken gehüllt war. Niemand außer Phil achtete auf Charlotte, die weiter in leicht gebückter Haltung am Büfett stand.
„Ich weiß nicht, was du hier tust, Char, aber es hört jetzt auf. Du bist verletzt, du blutest erbärmlich. Dein Gesicht, dein Kleid - das alles sieht aus, als kämst du aus einer Schlachterei. Du gehst als Erste rüber.“
Charlotte hatte keine Energie mehr, um zu widersprechen. Sie war kurz davor, zusammenzusacken und einzuschlafen. Eine solch lange Dauerbelastung ihrer Fähigkeit hatte sie noch nie versucht.
Keine neuen Rekorde!, dachte sie noch und lachte innerlich auf. Der Vorsatz hat ja nicht lange gehalten.
Mühsam richtete sie sich auf, trennte die Ecke mit ihren Initialen von der Zeichnung ab und ging, von Phil gestützt, zum Eingang der Festhalle, in deren Bereich sich der Boden mehr und mehr mit tauendem Schnee bedeckte.
Nach nur wenigen Minuten hatten alle Anwesenden die Sportstätte verlassen und waren in das Hauptgebäude geflüchtet. In der Aula standen die mehr als 80 Personen und harrten der Dinge. Gelegentlich rief jemand bei der Katastrophenhotline oder einem der Wetterdienste an, um die neuesten Informationen einzuholen.
Etwa vierzig Minuten nach Verlassen der Turnhalle hörte man aus dieser Richtung ein infernalisches Krachen, das endlos anzudauern schien. Jedem war klar, dass die Decke der Sporthalle dem Druck der Bäume nachgegeben hatte. Die Stärke des Lärms konnte aber nur bedeuten, dass die gesamte Deckenkonstruktion eingestürzt sein musste.
***
Am übernächsten Tag spazierten Charlotte und Phil durch den kleinen Park neben der High-School. Das Unwetter hatte sich noch in der Nacht der Reunion wieder verzogen, sodass die Partyteilnehmer nur wenige Stunden im Haupthaus hatten ausharren müssen. Phil hatte im Krankenhaus angerufen und erfahren, dass es Peter gut ging. Anzeichen einer Infektion aufgrund des Notfallluftröhrenschnitts zeigte er keine.
„Danke, dass du so lange gewartet und niemandem etwas erzählt hast, Phil“, sagte Charlotte und biss von ihrer Eiswaffel ab. Der Schnee knirschte unter ihren Stiefeln, Es war eisig kalt, ein leichter Wind blies, aber der Himmel strahlte in klarem Blau.
„Du hast mich darum gebeten. Es war also selbstverständlich für mich. Aber nun schuldest du mir eine Erklärung.“
Charlotte nickte bedächtig. „Ich erzähle dir alles. Beurteile mich aber bitte erst, wenn du die ganze Story gehört hast, ja?“
Dann berichtete sie von ihrer Fähigkeit, vom ersten Auftreten und ihrer Lernkurve. Charlotte sprach lange, und Phil unterbrach sie kein einziges Mal. Seinem Gesicht war nicht anzusehen, was er von der Geschichte hielt. Als Charlotte geendet hatte, gingen die beiden Freunde für ein paar Minuten schweigend nebeneinander her.
„Du hast die Bäume auf der Turnhalle also mit deiner Zeichnung sozusagen hochgedrückt?“
„Ja“, antwortete Charlotte nur.
„Und immer, wenn der Riss größer wurde, hast du stärker dagegengepresst. Hast du gespürt, wieviel Kraft du aufwenden musst?“
„Nein, so funktioniert meine Fähigkeit nicht. Ich erhalte durch die Zeichnung keine Rückmeldung. Ich weiß nie, wann eine Wirkung eintritt, wie stark ich das Bild berühren muss. Was ich habe, sind nur Erfahrungswerte.“
Schließlich hielt Phil an und schaute in einen Mülleimer. Er nahm ein Taschentuch aus seinem Mantel, fischte eine leicht zerdrückte Limonadendose aus dem Abfallbehälter heraus und stellte sie auf die grüne Parkbank daneben.
„Zeigst du es mir einmal?“
Charlotte nickte und trat zwei Meter zurück. Block und Stift waren schnell herausgeholt, und sie fertigte eine rasche, zweidimensionale Zeichnung der Dose an.
„Das Holz der Bank ist hier ein wenig abgesplittert. Es ist eine besondere Stelle, welche die Szenerie identifizierbar macht“, erklärte sie und deutete auf einen Bereich an der untersten Querlatte. „Das macht die Kopplung einfacher, so dass ich sonst nicht allzuviel um die Dose herum zeichnen muss.“
Kritisch überprüfte sie Realität und Zeichnung. „Wenn ich das Bild signiere, ist es aktiv“, wiederholte sie einen Teil ihrer vorherigen Erklärung und setzte ihre Initialen in eine Ecke. Dann schnippte sie ganz sanft mit dem Zeigefinger gegen die gemalte Dose.
Aus Richtung der Bank ertönte ein Scheppern, als das Gefäß umfiel und herunterrollte.
Charlotte lächelte. „Ich hab's dir ja gesagt.“
Phil grinste zurück. „Und ich glaub's dir ja.“
Charlotte freute sich über diese Reaktion. Obwohl sie Phil aus eigenem Antrieb wohl noch für längere Zeit nichts von ihrer besonderen Gabe erzählt hätte, tat es irgendwie schon gut, jemanden zu haben, mit dem sie offen darüber reden konnte.
Sie riss die Ecke des Bildes ab und reichte es Phil. „Nun ist es inaktiv.“
Vorsichtig, als wäre es gefährlich oder giftig, nahm Phil das Blatt Papier an einer Ecke auf. Charlotte lachte fröhlich, nahm es ihm wieder ab und zerknüllte das Bild.
„Siehst du, es passiert nichts mehr.“
Hinter ihnen ertönte Kindergeschrei, das sich rasch näherte. Es schien sich um eine kleine Familie zu handeln, die auf einem Winterspaziergang war. Der Mann hielt einen klobigen Photoapparat mit Aufsatz auf dem Objektiv in der Hand und hieß seine drei Töchter und seine Frau gelegentlich, vor einer der verschneiten Steinstatuen stehenzubleiben, um ein Gruppenphoto zu schießen.
Charlotte drehte sich wieder um, und sie und Phil gingen weiter.
„Und deine Eltern wissen nichts davon?“
„Nein. Als ich es im vorletzten Jahr der High-School entdeckt habe, hatte ich meine rebellische Phase. Meine Eltern waren die Letzten, denen ich irgendetwas aus meinem Leben erzählte. Und danach hat es sich einfach nie ergeben.“
„Und Dave?“
Charlotte schüttelte den Kopf. „Auch er weiß nichts. Dave war damals so unreif, er hätte andauernd von mir verlangt, irgendetwas für ihn zu zeichnen. Und für sich hätte er es auch nicht behalten können.“
Charlotte blieb stehen und legte Phil eine Hand auf den Unterarm. „Ich habe das Phil, dem Freund, erzählt, nicht dem Bundesbeamten. Das alles bleibt unter uns.“
Phil nickte. „Natürlich. Aber nun erklärt sich für mich deine hohe Erfolgsquote. Du hast deine Gabe für den ein oder anderen Auftrag, den du von der Polizei angenommen hast, bereits eingesetzt.“
„Das werde ich auch zukünftig.“
ENDE