Charlottes Blick 5 - Die Bannmeile

marcm200

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Charlottes Blick 5 - Die Bannmeile
(eine Geschichte basierend auf dem Charakter ‚Vickie‘ der TV-Serie ‚Haven‘ von 2010-2015)


Klappentext:
Bei der Verfolgung einiger Verbrecher werden Charlotte, Phil und Julia überfallen. Charlotte muss, um ihre Freunde aus der Gefahr zu befreien, ihre Gabe auf eine Art einsetzen, die ihr zuwider ist. Doch kurz vor der Rettung kommt es zu einer schrecklichen Wendung.



„Heh, seht mal! Was ist denn da drüben los?“, rief Julia und deutete auf die andere Straßenseite.

Sie verließ gerade, zusammen mit Charlotte und Phil, den kleinen Diner, in dem die drei ein spätes Frühstück an diesem Samstagvormittag zu sich genommen hatten. Phil hatte erzählt, dass ihm in den letzten Tagen dieselbe Person an ganz unterschiedlichen Orten aufgefallen war. Charlotte wollte sich der Sache annehmen, denn für einen offiziellen Polizeieinsatz gab es rechtlich keinen Grund.

Auch Phil blickte über die Straße. Gerade kamen nacheinander zwei dunkel gekleidete Gestalten aus einem Juweliergeschäft gestürmt. Ohne Rücksicht auf Passanten rannten sie zu einem in der Nähe geparkten, schwarzen Wagen.

„Die tragen Waffen“, rief Charlotte, als sie das schwache Blitzen in der Hand der vorderen Gestalt sah.

Phil rannte bereits zu seinem nicht weit entfernt am Straßenrand geparkten Auto. Die beiden Frauen folgten ihm und sprangen ebenso wie der Kommissar hinein. Phil preschte los, dem vermutlichen Fluchtfahrzeug zweier Juwelenräuber hinterher. Charlotte nahm das Sprechfunkgerät aus der Halterung an der Mittelkonsole.

„HQ von RCMP Wagen V19: Kommissar Messier verfolgt zwei mutmaßliche Juwelenräuber auf der Abbott Street Richtung Norden. Er bittet um Unterstützung. Wenn möglich Straßensperren.“

Lautstark quietschten die Reifen, als Phil in die Kurve einlenkte. Er bremste minimal und nutzte die gesamte Breite der Straße. Für eine halbe Sekunde verschwanden die Rücklichter des verfolgten Wagens hinter der Biegung. Phil gab Vollgas und schaltete einen Gang höher. Das Jaulen des Motors wurde leiser.

Julia, die im Fond saß, hielt sich am Sitz des Beifahrers fest. Sie hatte sich ein wenig zur Seite geneigt, um einen guten Blick durch die Windschutzscheibe nach vorne zu haben. Ihr Gesicht war verkniffen, der Körper angespannt, doch ihre Augen sprühten lebhaft. Ihr schien die Verfolgung zu gefallen.

Die Straßen hier am nördlichen Stadtrand von Vancouver waren an diesem Vormittag recht unbelebt. Nur vereinzelt kamen ihnen Fahrzeuge entgegen. Die Sirene auf Phils Dienstfahrzeug war weithin zu hören. Rechtzeitig bremsten die anderen Verkehrsteilnehmer ab und fuhren zur Seite. Der schwarze Wagen, dem sie nachjagten, raste auf eine Kreuzung zu, deren Ampel gerade auf Rot sprang.

Phil zog nach links und überholte einen LKW. Die Lippen fest zusammengepresst, die Augen konzentriert auf die Fahrbahn gerichtet, holte er im Schneckentempo Meter um Meter auf.

Unvermittelt bog der Verfolgte ab.

Charlotte nahm sofort das Funkgerät und meldete an die Einsatzzentrale: „Neue Richtung ist Süd-Ost auf dem Laurier Boulevard, Ecke Abbott Street.“

Auch Phil bog nach rechts ab - und stand im nächsten Moment auf der Bremse. Charlotte und Julia wurden nach vorne geschleudert.

„Autsch!“, schrie die junge Reporterin, als die Wucht des Bremsmanövers auf ihre immer noch an dem Beifahrersitz gekrallten Arme überschlug. Rasch ließ sie die Hände fallen. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt.

„Alles okay bei dir?“, fragte Charlotte, ohne sich umzudrehen.

Julias „Geht schon“ kam sehr gepresst zurück. Sie rieb sich die Handgelenke und lehnte sich an die Rückbank.

Phil warf das Lenkrad ruckartig nach links, dann wieder nach rechts, und konnte so dem rückwärts aus einer Einfahrt herausrollenden Van gerade noch ausweichen. „Hat der Tomaten auf den Ohren?“, fluchte er aufgebracht.

Doch dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder nach vorne. Der Verfolgte hatte einige Meter Abstand zugelegt. Verbissen trieb Phil den Motor zu höchster Leistung. Und der schnurgerade Boulevard kam ihm dabei entgegen. Auf über einer Meile gab es nur sehr wenige Abzweigungen, die sämtlich auch noch in schmale Nebenstraßen führten. Sie waren ungeeignet für eine Flucht im Auto.

Charlotte entspannte sich für eine Sekunde und blickte in den Rückspiegel. „Phil, ich glaube, wir werden selbst verfolgt.“

Sofort drehte Julia den Kopf und schaute durch das Rückfenster. „Der grüne Wagen? Ja, so einen habe ich auch vor dem Juweliergeschäft gesehen. Meinst du, der gehört zu den Räubern?“

„Schon möglich“, erwiderte Charlotte. „Vielleicht sind es aber auch nur Schaulustige, die hier einem Thrill nachjagen. Kannst du das Nummernschild erkennen?“

Julia öffnete ihre Phototasche und setzte das Teleobjektiv auf die Kamera. Sie drückte mehrmals auf den Auslöser. „Nein, der Wagen ist zu weit weg. Aber ich habe sicherheitshalber mal Photos gemacht.“

„Behalte ihn bitte im Auge“, bat Charlotte.

Plötzlich leuchteten die Bremslichter am Ganovenauto für mehrere Sekunden am Stück auf. Phil konnte die Entfernung halbieren. Charlotte sah nun nicht nur die Form der Karosserie und das Ende des Auspuffs deutlich, sondern auch einen Aufkleber am Heck. Eine grüne, wellenförmige Linie umrandete ein weißes Feld. In Schwarz war darin ein stilisierter Bär abgebildet.

Charlotte warf Phil einen fragenden Blick zu.

Dieser nickte. „Es ist vertretbar. Wir müssen den Kerl stoppen, bevor er einen Unfall baut und womöglich andere verletzt. Und hier ist nicht viel los.“

Charlotte zog Zeichenblock und Stift aus der Blazertasche.

Jetzt sollte es für eine Kopplung reichen, dachte sie.

In höchster Eile brachte sie den Aufkleber, den Umriss des Wagens, den Auspuff und die Spalte zwischen Kofferraumdeckel und Karosserie zu Papier. Nach knapp einer Minute war sie mit dem dreidimensionalen Bild fertig, signierte es, zischte Phil ein „Vorsicht!“ zu und schlug auf den gezeichneten Auspuff.

Fast in derselben Sekunde bog sich der reale Gegenpart nach außen und berührte den Hinterreifen. Das nach dieser Raserei mehrere Hundert Grad heiße Metall versengte das Gummi des Reifens in Sekundenbruchteilen. Dieser platzte, und Gummifetzen wurden zur Seite geschleudert. Das Auto sank auf die Felge. Die Vibrationen pflanzten sich zum Auspuff fort, der von der Karosserie abgerissen wurde und auf der Fahrbahn landete. Wild sprang er hin und her. Doch Phil war gewarnt und konnte rechtzeitig ausweichen.

Der schwarze Wagen schlingerte und zog auf die im Moment verwaiste Gegenfahrbahn, wo der Ganove ihn schließlich abfangen konnte. Aber an Höchstgeschwindigkeit war nicht mehr zu denken.

Phil schloss rasch auf. Auch er verlangsamte nun.

Julia, welche die ganze Zeit das grüne Fahrzeug hinter ihnen beobachtet hatte, wandte kurz den Kopf. „Was ist passiert?“

„Reifenschaden“, sagte Phil und grinste seine Beifahrerin an. Auch Charlotte lachte lautlos und riss rasch die Ecke mit ihrer Unterschrift von der Zeichnung ab.

Phil zog nach links in die Mitte der breiten Fahrbahn und setzte sich neben die Flüchtenden. Mit Handzeichen bedeutete er ihnen anzuhalten. Doch die Ganoven dachten nicht daran. Stattdessen wurde das Fenster auf der Fahrerseite heruntergekurbelt.

Phil reagierte sofort. „Festhalten!“, rief er und stieg in die Bremsen. Und das keine Sekunde zu früh. Kurz darauf ertönte ein Schuss.

Julia wurde bleich. „Haben die gerade...“

„Duck dich!“, befahl Charlotte. Im Rückspiegel sah sie, wie die junge Frau sich auf die Rückbank legte.

Phil wollte gerade wieder nach rechts einscheren, um hinter dem Wagen der Verbrecher zu bleiben und auf die kommende Straßensperre zu vertrauen, als plötzlich ein zweiter Schuss krachte.

„Jemand verletzt?“, rief er. Seine beiden Begleiterinnen verneinten sofort.

Dann sah er, wie das Heck des flüchtenden Autos sich auch auf der anderen Seite absenkte. Auch der zweite Hinterreifen war offenbar geplatzt.

Der grüne Wagen, der sie verfolgt hatte, setzte sich nun dicht hinter das Auto der Juwelenräuber. Charlotte blickte nach rechts, doch die Scheiben des Fahrzeugs waren getönt.

Erneut bellte ein Schuss auf, und eine Ecke der rückwärtigen Scheibe der schwarzen Limousine splitterte.

„Wer ist das?“, fragte Charlotte. „Die schießen den Räuberwagen zu Schrott.“

Das schwarze Auto schleppte sich nur noch scheppernd über die Straße. Nach ein paar Dutzend Metern sahen die Ganoven endlich ein, dass sie verloren hatten. Sie hielten an.

Auch Phil stoppte, beließ den Wagen im Leerlauf und sprang heraus, während Charlotte die Handbremse zog. Sie griff nach dem Sprechfunkgerät und forderte in Phils Namen weitere Verstärkung zur Festnahme an.

Der Kommissar riss seine Dienstwaffe aus dem Schulterhalfter. Die Arme auf das Dach gelegt, den Wagen als Feuerschutz zwischen sich und den Gangstern, visierte er die Räuber an und rief laut: „Bundespolizei. Öffnen Sie die Tür auf der Fahrerseite ein wenig, aber nur diese. Lassen Sie die Waffen herausfallen. Dann steigen Sie auf dieser Seite langsam und mit erhobenen Händen aus. Bei Zuwiderhandlung werde ich von der Schusswaffe Gebrauch machen.“

Nur Sekunden später fielen zwei Pistolen polternd auf den Asphalt. Dann stieg der Fahrer aus. Er hatte die Arme über den Kopf gestreckt und blieb neben der Kühlerhaube stehen. Sein Komplize krabbelte von der Beifahrerseite herüber. Phil gab Charlotte seine Waffe und ging zu den beiden Männern, stellte aber sicher, dass die Freundin immer freies Schussfeld hatte.

Er legte den Räubern Handschellen an. „Fordere bitte Unterstützung an“, bat er Charlotte.

„Schon geschehen.“

Phil ging rückwärts zu seinem Auto und nahm, ohne den Blick von den Festgenommenen zu lösen, seine Dienstwaffe wieder entgegen.

Aus dem grünen Auto sprangen nun zwei schwarz gekleidete, hochgewachsene Männer heraus. Ihre Gesichter wirkten hart, als sie näherkamen. „Können wir helfen?“, fragte einer.

Phil blickte zur Seite. „Haben Sie Reifen und Scheibe zerschossen?“

Der Mann nickte. „Letzteres war nur eine Warnung an die Insassen. - Was sollen wir weiter tun? Verfügen Sie über uns.“

Die beiden kamen näher und standen schließlich mit auf den Rücken verschränkten Händen nur wenige Meter neben Phil. Auch sie hatten den Blick auf die Schmuckdiebe geheftet.

Charlotte beäugte die hilfsbereiten Männer misstrauisch.

„Die Situation ist unter Kontrolle“, erwiderte Phil. „Zeigen Sie mir bitte Ihre Ausweise. Und die Berechtigung, Schusswaffen bei sich tragen zu dürfen.“

Der Mann, der Phil angesprochen hatte, lächelte leicht, zog dann aber, ebenso wie sein Begleiter, die Hände hinter dem Rücken hervor. Revolverartige Waffen glänzten. Es zischte leise, und je eine Pfeilspitze bohrte sich in Charlottes und in Phils Oberarm. Dann zischte es noch zweimal in Richtung der Schmuckräuber.

Der Kommissar riss seine Waffe hoch, doch die Angreifer sprangen auseinander. Phils Arm zitterte, und seine Sicht begann sich zu trüben.

„Betäubungs...“, konnte Charlotte noch mit ersterbender Stimme murmeln. Sie versuchte, sich am Wagendach festzuklammern, brach aber nur Sekunden später kraftlos zusammen und rutschte zu Boden.

Phil erging es nicht anders, und die beiden Unbekannten schleiften ihn sofort zu ihrem grünen Wagen.

Julia, die sich erst jetzt getraute, den Kopf zu heben, da sie keine Entwarnung von Charlotte bekommen hatte, musste einen Aufschrei unterdrücken, als sie sah, wie ihre neuen Freunde zusammenbrachen. Angstschweiß brach ihr aus, und das Herz schlug wie wild. Sie duckte sich rasch wieder und kroch zur anderen Tür. Leise öffnete sie diese und ließ sich auf den Asphalt gleiten. Sie schob ihren Kopf am Heck vorbei und suchte den grünen Wagen und die beiden neuen Verbrecher. Doch sie sah nur einen.

Aber bevor sie sich Gedanken machen konnte, wo der andere hingegangen war, legte sich eine Hand auf ihre Schulter und riss sie herum. Julia schrie auf. Wild boxte sie um sich und versuchte aufzustehen. Es gelang ihr, und sie begann, den Angreifer zu treten. Sie traf ihn mehrmals, doch mit ihren weichen Turnschuhen hatte sie keine Chance, ernsthaft Gegenwehr zu leisten.

Der Kerl riss sie an sich und presste ihr eine Hand auf den Mund. Dann schleifte er die sich weiter wild wehrende 18‑Jährige zum grünen Fahrzeug.

„Warum hat uns niemand gesagt, dass sie auch im Wagen ist?“, fragte er verärgert seinen Komplizen.

„Keine Ahnung. Aber immerhin haben wir jetzt beide auf einmal erwischt“, erwiderte der andere, holte einen kleinen Koffer vom Rücksitz und öffnete ihn.

Julia sah mit schreckgeweiteten Augen, dass darin Pfeile lagen. Sie schüttelte den Kopf und kreischte Unverständliches in die Hand, die weiter ihren Mund zuhielt.

Der Mann lud die Betäubungspistole neu und richtete sie aus kurzer Distanz auf Julias Oberarm. Das Mädchen wand den Oberkörper zur Seite, doch ihr Überwältiger hielt sie mit eisenhartem Griff fest.

Nur Sekunden später war auch Julia bewusstlos.

***

Eiskaltes Wasser klatschte in Charlottes Gesicht. Langsam nur kämpfte sich das Bewusstsein an die Oberfläche zurück. Charlottes Körper zuckte, und schon landete der nächste Schwall auf ihr. Das Aufwachen beschleunigte sich. Dennoch konnte sie nur mühsam die Augen öffnen und blinzelte mehrfach in das grelle Licht.

Vor ihr stand ein Mann mit einem Eimer in der Hand. Er hatte sich einen dunklen Schal um Mund und Nase geschlungen. Sonnenbrille und Hut vervollständigten die Maskierung, sodass von seinem Gesicht so gut wie nichts freilag.

„Los, hoch mit dir! Der Boss wartet“, befahl er.

Charlotte zog die Beine an und rappelte sich vom Boden auf. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie gefesselt war. Um die Knöchel trug sie Fußschellen, die durch eine unterarmlange Kette verbunden waren. Die Arme waren mit Handschellen vor dem Bauch gefesselt. Doch was sie vollkommen verwunderte, war die Tatsache, dass sie Boxhandschuhe trug.

Oder nein, nicht direkt Boxhandschuhe, korrigierte sie in Gedanken, sondern nur so etwas Ähnliches.

Denn es fehlte die Aussparung für den Daumen. Alle Finger einer Hand befanden sich in einem einzigen starren Kompartment.

Charlotte fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Für einen Moment war sie verwirrt, doch als ihr Verstand begann, schneller zu arbeiten, wurde ihr schlagartig klar, dass sie sich aus dieser Fesselung nicht befreien konnte. Es war ihr so schlicht nicht möglich zu zeichnen.

Und noch etwas wurde ihr klar.

Derjenige, der sie gefangen genommen hatte, musste von ihrer Gabe wissen, denn es gab keinen vernünftigen Grund, einer Geisel diese Art Handschuhe anzuziehen.

Charlotte wischte sich mit dem Unterarm über das nasse Gesicht und schob ein paar immer noch tropfende Haarsträhnen zur Seite. Der Pullover hatte auch einiges abbekommen, und die Jeans schon bessere Tage gesehen. Eine dicke Staubschicht bedeckte den Boden des Raumes. Schleifspuren verrieten, wie sie hier hereingekommen war. Charlotte lehnte den Rücken an die Wand, stellte die Füße auf und drückte sich an der Mauer hoch. Der Mann, der sie mit dem Wasser unsanft geweckt hatte, griff ihren Arm und zog sie hoch.

Dann verließen die beiden den Raum und folgten einem schmalen Gang, von dem einige Türen abgingen. Linoleum bedeckte den Boden, die Wände waren weiß gestrichen. Runde Lampen mit Milchglasdeckel verbreiteten mattes Licht. Charlotte blickte sich aufmerksam um, doch diese Umgebung gab ihr keinerlei Anhaltspunkte, wo sie sich befand.

Und wo waren ihre Freunde?

Am Ende des Gangs öffnete der Maskierte die Stirntür und schaltete das Licht ein. Neonröhren flackerten auf und stabilisierten sich rasch. Vor einem aus Metall bestehenden Schreibtisch stand ein im Boden fest verankerter ebenfalls metallener Stuhl. Der Mann wies darauf, und Charlotte nahm wortlos Platz.

Auf der gegenüberliegenden langen Seite des Schreibtisches waren drei handbreite Schalter mit je einem Druckknopf befestigt. Sie waren auf mehreren Seiten mit den Ziffern 1 bis 3 beschriftet. Dicke, weiß ummantelte Kabel gingen von ihnen ab und verschwanden in der Wand.

Der Mann, der Charlotte hergeführt hatte, stellte sich neben die Tür und wartete offenbar auf etwas.

Mehrere Minuten vergingen, in denen überhaupt nichts geschah, dann ertönten Schritte auf dem Gang. Ein identisch Maskierter, der eine schmale Aktentasche unter dem Arm trug, betrat den Raum und ging um den Schreibtisch herum.

Eine männliche Stimme sagte: „Du musst zwei Dinge für mich tun, dann seid ihr wieder frei, und ihr seht mich nie wieder.“

„Wo sind meine Freunde?“

„Dazu kommen wir gleich.“

Aus der Aktentasche zog er drei leere Blätter Papier hervor und legte sie auf den Tisch. „Du wirst diese drei Schalter mit deiner Gabe zeichnen.“

Also doch!, dachte Charlotte. Er weiß es. Aber woher? Es wissen doch nur Phil und ich davon.

Die Antwort kam sogleich. „Ich habe dich beobachtet. Schon vor der Sache in Oakville und der High-School. Ich brauche deine Gabe, damit du etwas für mich erledigst.“

Der Mann an der Tür trat neben die Gefangene. Er zog seine Waffe und richtete sie auf Charlotte. Der andere, den sie für den angekündigten Boss hielt, legte einen Bleistift auf die Tischplatte und fing an, ihr den rechten Handschuh aufzuschnüren und von der Faust zu ziehen.

„Eins noch“, sagte er, griff nach Charlottes Kinn und zwang ihren Kopf zur Seite. „Du zeichnest nur die Schalter. Machst du etwas anderes, stirbt Phil. Wir werden danach eine der Zeichnungen ausprobieren. Wenn der echte Schalter nicht reagiert, stirbt Phil. Und danach deine kleine Freundin. Vor deinen Augen. Verstanden?“

Charlotte presste vor Wut die Lippen zusammen, bis diese nur noch ein schmaler Strich waren. Die freie Hand ballte sie zur Faust. Sie hasste diese Hilflosigkeit. Doch vorerst blieb ihr nur, den Forderungen nachzukommen.

Sie nickte und nahm den Stift.

Die beiden Verbrecher begannen, im Raum hin- und herzugehen und wechselten oft die Richtung. Einer aber behielt Charlotte immer im Auge. Auch der Boss hatte eine Waffe gezogen.

Sie wissen, dass ich sie nicht zeichnen kann, wenn sie sich so schnell bewegen und die Körperhaltung verändern, erkannte Charlotte. Der Kerl weiß einiges über meine Fähigkeit.

Rasch zeichnete sie einen Schalter nach dem anderen in der Aufsicht. Sie brachte die Ziffern zu Papier und auch Teile der Kabel, bis sie sicher war, eine Kopplung erreicht zu haben. Dann signierte sie die Bilder nacheinander und lehnte sich im Stuhl zurück.

„Welche Zeichnung?“, fragte Charlotte.

Doch der Boss gab keine Antwort. Stattdessen zog er ihr den Boxhandschuh wieder an. Dann wandte er sich an seinen Komplizen.

„Bring sie zur Tür von Raum 4. Wartet dort.“

Charlotte wurde wieder am Arm den Gang zurückgeführt. In etwa zehn Metern Entfernung zum Schreibtisch blieben sie stehen. Charlotte sah den Boss, wie er ein offenbar recht schweres Objekt aus einem Schrank hervorholte und es auf den Schreibtisch hievte. Es war etwa armdick und sah aus wie eine einseitig mit Scheiben beladene Kurzhantel.

Der Boss stellte das Objekt auf die Zeichnung von Schalter 1.

Und dann geschahen zwei Dinge gleichzeitig.

Der reale Schalter rastete klackend ein. Die Zeichnung hatte den auf sie einwirkenden Druck in die Wirklichkeit übertragen.

Und Charlottes Nase fing an, wie wild zu bluten. Die Tropfen klatschten auf ihren Pullover. Rasch bog sie den Oberkörper ein wenig nach vorne und senkte den Kopf.

Dennoch sah Charlotte, wie der Boss die Faust ballte.

Er wusste nicht, dass es auch auf diese indirekte Art funktioniert, wurde ihr klar. Er hat es nur vermutet. Auch die Folgen für mich kannte er nicht. Beides hätte ich ihm sagen können.

Mit großen Schritten kam der Anführer herangelaufen. Charlotte glaubte, das Grinsen auf seinem Gesicht in den folgenden Worten zu hören.

„Damit kann ich Plan A anwenden. Du wirst sehen, er ist sehr elaboriert.“

Charlotte konnte nicht verhindern, dass ihr Unverständnis sich auf ihrem Gesicht widerspiegelte.

Der Boss lachte. „Du wirst gleich verstehen. Aber erst zu deinen Freunden.“ Er zog Charlotte zurück zu dem Raum mit den Schaltern und klopfte an die Tür rechts davor. Sie öffnete sich sofort, und vier Personen kamen heraus.

„Phil! Julia!“, rief Charlotte erfreut, als sie ihre Freunde sah.

Phils Gesicht zierte eine blutende Wunde unter dem rechten Auge. Auch seine Lippe war aufgeplatzt. Er war offenbar in einen ungleichen Kampf geraten, denn auch er war an Händen und Füßen gefesselt. Als er Charlottes fragenden Blick bemerkte, nickte er nur leicht. Es ging ihm offenbar soweit gut.

Julia allerdings zitterte vor Angst. Sie war kreidebleich, ihr Gesicht verheult. Und auch jetzt schniefte sie, als sie auf den Gang geschoben wurde. Sofort machte Charlotte einen Schritt auf die junge Frau zu. Und zu ihrer eigenen Überraschung gab der Verbrecherboss, der sie immer noch am Arm hielt, diesen frei.

„Keine Angst, Julia. Man will etwas von mir. Das werde ich ihnen geben. Und dann bist du schnell wieder hier raus, und wir beide planen deine erste Collegewoche. Einverstanden?“

Julia nickte heftig.

„Lass sie gehen“, wandte sich Charlotte an den Maskierten, der hier das Sagen hatte. „Sie hat mit dem Ganzen nichts zu tun.“

Der Mann wiegte den Kopf. „Du scheinst sie wirklich zu mögen. Das wird dich weiter anspornen.“ Er überlegte einen Moment. „Aber gut. Schritt für Schritt. Sie wird nach Erledigung der ersten Aufgabe freigelassen, Phil nach der zweiten.“

Charlotte atmete erleichtert auf. Es war nur ein kleiner Sieg, aber mehr war nicht zu erwarten gewesen.

Der Boss gab ein Zeichen, und Julia wurde wieder in das Zimmer zurückgebracht. Von außen wurde die Tür abgeschlossen, und die junge Reporterin war alleine. Phil und ein Maskierter warteten weiter im Gang, während Charlotte und der Chef zu der gegenüberliegenden weißen Tür gingen.

Charlotte blickte in einen fast leeren Raum, der drei auf drei Meter maß. Die Wände waren weiß gestrichen. An der Stirnwand befand sich ein im Boden verankerter Stuhl.

„Schau nach links“, befahl der Mann.

Und da sah Charlotte eine Maschinenpistole, die auf einer kleinen Plattform befestigt war. Der Lauf zeigte schräg nach unten. Als der Mann ein kleines Kästchen aus seiner Tasche zog und auf einen Knopf drückte, lärmte es fürchterlich. Die Pistole feuerte in schneller Folge Kugel um Kugel ab. Der Teller, auf dem sie montiert war, rotierte langsam, und die Garbe beschrieb einen Halbkreis. Krachend schlugen unzählige Geschosse in der Rückenlehne des Stuhls ein.

Charlotte schwieg. Auch ihr Gesicht hatte nun sämtliche Farbe verloren. Es war nicht schwer zu erraten, was diese Demonstration klarmachen sollte.

„Bringt ihn rein und fesselt ihn!“, befahl der Boss.

Seine zwei Komplizen zwangen Phil, der sich nicht wehrte, in den Raum und drückten ihn auf den Stuhl. Unter seinen Achseln wurde ein Seil hindurchgezogen und Phil an der Rückenlehne festgebunden. Ebenso wurden die Unterarme und die Unterschenkel mit Seilen an den Streben des Stuhls festgezurrt. Dann verließen alle bis auf den Kommissar den Raum. Die Tür wurde von außen geschlossen und versperrt.

„Du hast eine mächtige Fähigkeit“, erklärte der Verbrecherboss an Charlotte gewandt. „Sie wird mir nützlich sein, kann mir aber gleichzeitig auch sehr gefährlich werden. Ich muss mich absichern. Schalter 3 ist mit der Maschinenpistole verbunden. Wenn ich das Gewicht auf die entsprechende Zeichnung stelle, wird Phil durchlöchert - wenn du in der Nähe bist. Auf unbegrenzte Entfernung wird dies nicht funktionieren, vermute ich. Dafür ist Schalter 2 da. Er wird mir helfen, eine sichere Distanz zu bestimmen. Näherst du dich diesem Ort hier, gewollt oder zufällig, wirst du Phil töten.“

Er ließ die Worte für einen Moment wirken und fügte dann mit Betonung hinzu: „Du - nicht ich. - Doch nun zu dem, was ich von dir verlange.“

***

Vier Stunden später wachte Charlotte in ihrer Wohnung auf. Sie lag auf der Couch, ihre Hausschlüssel auf dem Beistelltisch. Sie schwang die Beine vom Sofa, und ihr Blick fiel auf den Stadtplan von Vancouver, der auf dem Boden ausgebreitet war. Eine dicke rote Linie auf den Grenzen der Planquadrate umschloss die Stadt vollständig und großräumig.

Neben dem Plan lag ein Zettel mit einer kurzen, aber eindeutigen Botschaft: ‚Bleibe innerhalb der roten Linie, und Phil ist sicher.‘

Charlotte gab sich noch ein paar Minuten zur Erholung. Ihre Gedanken flossen noch sehr zäh und kreisten um die letzten Minuten, bevor sie wieder betäubt worden war. Der Verbrecherboss hatte sich von ihr verabschiedet und versprochen, dass auch nach Beendigung der Aufgaben ihr Geheimnis bei ihm sicher sei. Um seine Komplizen sollte sie sich keine Sorgen machen, denn diese wussten kaum etwas. Und Phil, hatte der Ganove lachend erklärt, würde ja ohnehin nichts verraten.

Charlotte hatte das Gefühl, dass in dieser Aussage eine versteckte Botschaft lag, doch sie war nach den Zeiten der mehrfachen Bewusstlosigkeit noch zu groggy, um konzentriert darüber nachdenken zu können.

Außerdem stand zuerst etwas anderes an. Sie erhob sich vom Sofa und ging ins Bad, um mit den Vorbereitungen für den ersten erzwungenen Auftrag zu beginnen.

***

Gegen 21:30 Uhr hielt die elegante, weiße Stretchlimousine vor der glitzernden Fassade des Casinos ‚Roulette d'étoile‘, und der sofort herbeigeeilte Page öffnete diensteifrig die hintere Tür. Charlotte schwang die Beine hinaus, griff die Hand des jungen Mannes und ließ sich heraushelfen.

Ihr Begleiter, der Privatdetektiv Mike Donahue, verließ den Wagen auf der anderen Seite, ging um das Heck herum und reichte Charlotte galant den Arm. Sie hakte sich ein, und unter lautem Klackern ihrer hochhackigen Schuhe stieg das Paar die mit einem roten Läufer ausgelegten Stufen zum Glücksspieltempel hinauf.

An der Garderobe gab Donahue seinen Trenchcoat ab. Sein leicht glänzender schwarzer Anzug saß perfekt und war von erlesenster Qualität. Die goldene Rolex am Handgelenk unterstrich den ersten Eindruck, dass es am heutigen Abend auf Geld nicht ankam. Charlotte reichte ihren langen Wintermantel über den Tresen und zupfte am Saum des Kleinen Schwarzen, um den Stoff zu glätten. Sie schloss den mittleren Knopf der dunkelblauen Bolerojacke, schob der Garderobière einen Zwanzig-Dollarschein zu und ging mit ihrem Begleiter zur großen Glastür, hinter der Schemen in alle Richtungen huschten.

Sie betraten den Hauptspielsaal. Lärm empfing sie, der sich rasch in Gelächter und unzählige Gespräche aufspaltete. Ein Dutzend Roulettetische standen, in einem Halbkreis angeordnet, an der linken Seite der Halle, die Spielerbereiche offen zur Saalmitte gerichtet. Fast alle Tische waren von Teilnehmern besetzt oder von Zuschauern umringt. Nur wenige Stühle waren noch frei.

Charlotte ließ ihren Blick schweifen. Die Klientel des Casinos trug edle und teure Kleidung. Jeder zeigte, dass er Geld hatte und es sich leisten konnte, sich hier nur auf das Vergnügen und den Nervenkitzel zu konzentrieren. Verluste spielten für die allermeisten nur eine untergeordnete Rolle.

Charlotte trat zur Kasse und wechselte 50.000 Dollar in Jetons. Den Stapel der bunten Chips schob sie betont lässig und wie nebensächlich in ihre flache, schwarze Handtasche, deren Oberfläche wie polierte Schuppen glänzte.

Dann spazierte sie, weiter bei Mike untergehakt, langsam durch den Saal und schaute sich die Tische an. Mindest- und Höchsteinsätze variierten, lagen aber nie unter 100 Dollar. Auch dem dritten Kessel vom Eingang links gerechnet schenkte sie keine besondere Aufmerksamkeit, obwohl es am heutigen Abend nur auf diesen ankommen würde. Stattdessen nahm sie zwei Tische weiter Platz, als gerade eine ältere Dame aufstand.

„500 auf die Doppelnull“, sagte Charlotte und reichte dem Wurfcroupier einen lilafarbenen Jeton.

Der Casinoangestellte platzierte den Chip im Innenbereich des Setzfeldes. Eine Reihe an weiteren Spielmarken lagen bereits dort, viele auf einzelnen Zahlen. Nur wenige hatten die höheren Chancen, die aber mit niedrigeren Gewinnen einhergingen, im Außenbereich gewählt und auf eine Farbe gesetzt. Der Thrill stand hier über dem Geldmanagement.

Der Kessel wurde in Drehung versetzt, und die Kugel in Gegenrichtung eingeworfen.

Mike trat hinter Charlotte und legte ihr die Hände auf die Schultern, als wären die beiden ein Liebespaar. Aber seine Aufmerksamkeit galt nicht dem Spiel oder seiner Auftraggeberin, sondern er blickte sich unauffällig im Saal um. Er wusste, wie die Person aussah, auf die Charlotte wartete. Noch aber konnte er sie nirgends ausmachen.

„Rien ne va plus“, beendete der zweite Croupier die Setzphase.

Gebannt starrten alle auf die Kugel, die immer langsamer über die kreisförmige Schräge rollte. Schließlich fiel sie auf die Zahlenfelder und sprang wild über und gegen einige der kleinen Trennwände.

„7, rouge, impair, manque“, annoncierte der Kesselcroupier.

In für die meisten Menschen sinnverwirrender Geschwindigkeit sammelte der Rechen die Einsätze ein und ließ sie je nach Wert der Spielmarken in den verschiedenen Schlitzen am Kopf des Tisches verschwinden. Ebenso schnell wurden die Gewinne ausgezahlt und den Spielern hingeschoben.

Charlotte zwang sich, ein leidlich enttäuschtes Gesicht zu machen, und behielt für die nächsten Spiele Einsatz und Zahl bei. Sie verlor noch vier weitere Male, dann sagte Mike, für die anderen am Tisch gut vernehmbar: „Schatz, lass uns eine kleine Pause einlegen. Ich glaube, deine Glückszeit ist noch nicht gekommen.“

Charlotte nickte scheinbar widerwillig, schob dem Croupier einen 50-Dollar-Jeton mit den Worten „Für Sie“ zu und stand auf. „Ich fühle es auch noch nicht. Das Spiel entgleitet mir. Es ist nicht der Tisch, der mir vorhergesagt worden ist.“

Die teils mitleidigen Gesichter der anderen Spielteilnehmer ignorierte sie. Diese Reaktion war genau, worauf sie gehofft hatte. Man sollte sie für eine Glücksritterin halten. So fiel sie am wenigsten auf, wenn sie gelegentliche Pausen einlegte.

Mike und Charlotte gingen zur langen Bar auf der anderen Seite der Halle. Sie setzten sich auf zwei freie, hüfthohe Hocker, von denen aus sie Kessel 3 unauffällig beobachten konnten.

„Bourbon, ohne Eis“, bestellte Mike, „und einen Campari Orange für die Lady.“

Beide nippten an ihrem Drink und unterhielten sich über Nebensächlichkeiten. Dabei ließen sie insbesondere das Hauptportal nicht aus den Augen, denn es herrschte ein reges Kommen und Gehen. Aus einer der Seitentüren drang, wenn ein Gast hinein- oder hinausging, das Rattern der Einarmigen Banditen. Charlotte sah, wie eine über und über mit Schmuck behängte Dame eine andere Tür öffnete. Dahinter fanden Kartenspiele statt. Kein Laut kam aus diesem Raum, und Charlotte konnte sich bildlich vorstellen, wie die Spieler hochkonzentriert versuchten, Gegner einzuschätzen oder ihre Chancen abzuwägen. Trübes Licht fiel hinaus, und eine Wolke Zigarrenqualm waberte in die Roulettehalle. Die Diamanten der Dame würden in diesem Raum kaum ihre Pracht entfalten und funkeln.

Endlich kam der Mann, auf den sie gewartet hatte.

Norman Bannister trug ebenfalls einen Anzug, der allerdings eher nach Arbeitskleidung aussah. Die Augen hinter der dickrandigen schwarzen Hornbrille zuckten umher, als er zielstrebig zum Roulettetisch mit der Nummer 3 ging. Er musste ein paar Minuten warten, bis ein Platz frei wurde. Dann setzte er sich und legte einen kleinen Beutel mit den Spielmarken vor sich. Er nickte den Croupiers und den anderen Glückssuchenden knapp zu und konzentrierte sich danach auf das Spiel.

Charlotte, die etwa sechs Meter entfernt saß, achtete genau auf jede von Bannisters Bewegungen und Gesten. Doch nichts verriet den Mann. Er verhielt sich wie ein normaler Spieler.

Er spielt seine Rolle ausgezeichnet, musste Charlotte dem Mann Achtung zollen. Man hält ihn für jemanden, der gekommen ist und glaubt, mit einem System die Bank knacken zu können.

Charlotte drehte sich auf dem Hocker ein wenig nach links, sodass sie nun rechtwinklig zur Bar saß. Sie schlug das äußere Bein über und nahm ihre Handtasche vom Tresen. Block und Stift waren rasch herausgeholt. Sie beugte sich ein wenig nach rechts und legte den Block in ihren Schoß, möglichst nahe an den Tresen. Die Handtasche platzierte sie daneben auf das Knie. Mike stellte sich schräg links neben Charlotte, sodass sie nun von drei Seiten abgedeckt war und von dort niemand sehen konnte, was sie tat.

Nur auf den Barkeeper musste sie achten, falls dieser in ihre Nähe kommen sollte. Aus seinem Winkel konnte er womöglich den Zeichenblock erspähen. Charlotte war sicher, dass er sie dann der Casinoleitung melden würde, denn diese sah es nicht gerne, wenn sich Spieler Notizen machten und ein System vor Ort zu verfeinern versuchten. Dann würde man sie rauswerfen, und ihr Auftrag bliebe unerfüllt. Den Gedanken an die Folgen für Julia oder Phil schob sie schnell beiseite.

Weiter unterhielt sich Charlotte gelegentlich mit Mike, um die Tarnung aufrechtzuerhalten, aber ihr Blick war auf Kessel 3 gerichtet. Auch aus dieser Entfernung konnte sie den Rundlaufbereich detailliert einsehen.

Charlotte begann zu zeichnen. Sie fokussierte sich auf ein ganz bestimmtes Areal der Schräge des Kessels. Die Maserung des Holzes unter der Versiegelungsschicht, die einen gleichmäßigen Lauf der Roulettekugel ermöglichen sollte, war dort besonders ausgeprägt. Charlotte zeichnete die Linien, Wirbel und Verdickungen, immer wieder unterbrochen von kurzer Konversation, einem Lachen oder dem Nippen am Longdrink. Ab und an spielte sie für ein paar Sekunden gedankenverloren mit einer Hand an einem der schweren Ohrgehänge, die sie trug. Die Edelsteine darin glitzerten in allen Farben des Regenbogens.

Plötzlich näherte sich der Barkeeper vom anderen Ende. Charlotte machte nicht den Fehler, erschrocken die Hände emporzureißen, sondern griff mit der linken Hand, die eigentlich den Block hielt, nach ihrer Handtasche. Noch nicht einsehbar für den Barkeeper klemmte sie den Stift zwischen den Papierseiten fest und öffnete völlig ohne Hast die Handtasche. Sie zog einen kleinen Spiegel heraus, betrachtete ihr Gesicht darin und gab vor, den Sitz der mit schmuckbesetzten Spangen kunstvoll hochgesteckten Frisur zu überprüfen.

Der Barkeeper aber wandte sich einem anderen Gast zu, doch Charlotte winkte ihn danach zu sich und bestellte einen weiteren Drink. Erst als dieser serviert worden war, konzentrierte sie sich wieder auf ihre Zeichnung.

Nach zwei weiteren Minuten war das Bild fertig. Charlotte signierte - und wartete geduldig. Sie beobachtete ihre Zielperson. Bannister setzte 1000 Dollar und verlor. Dann setzte er 1.200 Dollar und gewann. So ging es ein paar Runden hin und her, und Bannister kam netto nicht vom Fleck. Charlotte wusste durch die Informationen ihres Entführers, dass es normalerweise noch Stunden dauern würde, bis der Mann sein Spiel beendete.

Als die Kugel das nächste Mal in den Kessel geworfen wurde, drückte Charlotte ihren Daumen auf die Zeichnung. Die Kopplung nahm die Kraft auf, verstärkte sie und ließ den realen Gegenpart reagieren.

Doch optisch geschah nichts. Und Charlotte hatte auch nichts anderes geplant. Der Druck, den sie mittelbar ausübte, würde zum einen die Versiegelung leicht verformen, zum anderen diese erwärmen. Beides störte den Lauf der Kugel. Auf welche Art konnte Charlotte nicht vorhersagen. Doch das war auch nicht wichtig. Wichtig war nur, dass die Kugel nicht so lief, wie Bannister es erwartete.

Als die Zahl angesagt wurde und Bannisters Einsatz in der Bank verschwand, zeigte sich noch keine Regung auf dem Gesicht des Mannes, der als Buchhalter einer Gang arbeitete.

Bei jedem weiteren Spiel setzte Charlotte ihre Gabe ein. Nach außen schien Bannister in einer Verlustserie gefangen zu sein. Seine Miene wurde verbissener. Immer häufiger verschwand seine Hand in der Tasche des Sakkos und kam ein paar Sekunden später mit einem Taschentuch wieder zum Vorschein, womit er sich über die Stirn wischte.

Doch das war nur Tarnung, wie Charlotte wusste. Bannister manipulierte den Tisch, und wie Phils Entführer vermutete, wahrscheinlich mit einem ferngesteuerten Magneten, der in vorhersagbarer Weise auf die Drehung des Kessels einwirkte. Ob nur der Croupier eingeweiht war, oder ob das gesamte Casino bei dieser Art der Geldwäsche mitmischte, wusste Charlotte jedoch nicht.

In den nächsten zehn Minuten brachte sie Bannister sieben weitere Verluste bei. Der Mann erhöhte bei jedem Spiel den Einsatz auf das dreifache. Schließlich stand er auf und ging zur Kasse. Charlotte wusste, dass er weiteres Geld in Jetons umwechselte. Das würde er noch einige Male an diesem Abend tun, um das zu waschende Geld in unauffälligen Portionen umtauschen zu können.

Dann schob Charlotte den Zeichenblock zurück in ihre Handtasche und ließ sich vom Barhocker gleiten. Sie mussten selbst wieder an die Tische, sonst würden sie Verdacht erregen. Sie fasste die Tasche nur an einer Ecke an, hatte sie nicht geschlossen, um möglichst geringen Druck auf die Zeichnung auszuüben.

„Lass uns einmal Tisch sechs versuchen“, sagte Charlotte laut zu ihrem Begleiter, und die beiden gingen zurück zu den Spielgeräten.

Charlotte setzte erneut auf die Doppelnull des überall im Casino gespielten amerikanischen Roulettes, doch sie verlor erneut. Sie konzentrierte sich auf den Kessel vor ihr und achtete nicht auf Bannister. Es wäre viel zu auffällig gewesen, hätte sie immer wieder den Kopf gedreht, da sie Tisch 3 aus ihrer Position - sitzend und von Zuschauern umringt - nicht direkt sehen konnte. Doch Mike behielt Bannister und dessen Einsätze im Blick und gab Charlotte mit leichtem Druck auf die Schulter zu verstehen, wenn die Kugel an Bannisters Tisch geworfen wurde. Dann legte Charlotte wie zufällig die Finger auf ihre Handtasche und übte von außen Kraft auf die Zeichnung aus. Oder sie suchte scheinbar in der Tasche nach Jetons.

Schließlich machte sich Charlotte auf zu den Waschräumen. Der Gang war verlassen, und wenn sie die Tür zum Roulettesaal ein wenig offenließ, konnte sie unbeobachtet ihre Zeichnung verwenden. Die Entfernung zum Kessel war größer, sodass sie den Druck auf das Bild ein wenig verstärkte. Dann ließ sie Bannister für ein paar Minuten in Ruhe, nur um danach erneut einen Blick durch den Türspalt zu werfen, den Lauf der Kugel zu manipulieren, und dem Buchhalter einen weiteren Verlust beizubringen.

Gegen 2 Uhr in der Nacht - Mike und Charlotte saßen an der Bar und aßen eine Kleinigkeit - stand Bannister mit kreidebleichem Gesicht vom Tisch auf und verließ mit raschen Schritten den Roulettesaal.

„Wieviel?“, fragte Charlotte zwischen zwei Bissen.

„4,8 Millionen Miese“, erwiderte Mike.

„Sehr schön. Das Geldwaschen hat heute definitiv nicht funktioniert. Die Drogengelder sind weg.“

Charlotte legte das Besteck zur Seite und tupfte sich den Mund mit der Serviette ab. „Ist dir irgendjemand im Saal aufgefallen, der uns beobachtet hat?“

Mike schüttelte den Kopf. „Nein, niemand.“

„Auch gut“, meinte Charlotte. „Ich bin dennoch überzeugt, dass ich beobachtet wurde. Naja, es war einen Versuch wert, meinem Auftraggeber auf die Schliche zu kommen.“

Der Abend war beendet. Charlotte stand auf, wechselte ihre Jetons zurück und ging mit Mike Donahue zur Garderobe, wo sie ihre Mäntel entgegennahmen. Dann verließen sie das Casino und gingen ein paar Blocks zu Fuß. Kalter Wind blies ihnen ins Gesicht, und Charlotte schlug den pelzbesetzten Kragen hoch. Bunte Reklameschilder lockten Kunden auch zu dieser späten Stunde, und ein paar Fußgänger waren unterwegs.

Charlotte winkte ein Taxi herbei. „Auf Wiedersehen, Mike. Wenn ich wieder einen ungewöhnlichen Auftrag habe, melde ich mich. Vergiss die Zeichnung, die ich gemacht habe.“

Der Privatdetektiv lächelte. „Bei einem Honorar von 5.000 Dollar für einen Abend im Casino mit einer schönen Frau vergesse ich auf Wunsch alles.“

Er öffnete die Tür des Taxis, und Charlotte stieg ein. Sie ließ sich in ihre Wohnung bringen. Nach der erfolgreichen Ausführung des ersten Auftrags würde Julia nun freigelassen werden. In diesem Punkt, davon war Charlotte überzeugt, würde der Kidnapper sein Wort halten.

***

Charlotte bog auf den Parkplatz vor dem Südeingang des Stanley Parks ein, stellte den Motor ab und sprang aus dem Wagen. Sie rannte durch das Tor in die Grünanlage und blickte sich suchend um. Auf die leise Musik aus der Ferne, die bereits an diesem frühen Vormittag von einer kulturellen Veranstaltung herrührte, achtete sie nicht.

„Julia!“, rief sie, als sie die einsame, etwas zusammengesunkene Gestalt auf der Parkbank direkt vor der Seawall sah. Rasch lief sie hin. Der Schnee knirschte unter ihren Schuhen.

Der Mann, der Charlotte vor einer Stunde telefonisch in ihrer Wohnung kontaktiert hatte, hatte also nicht gelogen. Die junge Frau auf der Bank schob die Kapuze zurück und blickte sich langsam um. Es dauerte ein paar Sekunden, bis Erkennen über ihr Gesicht glitt. Dann aber sprang Julia auf und fiel Charlotte, teils aus Freude, teils aus Schwäche in die Arme.

„Geht es dir gut?“, fragte Charlotte besorgt.

Julia nickte. Ihr Gesicht war weiß, aber nicht mehr verheult. Sie brachte sogar ein schwaches Lächeln zustande. „Geht schon wieder. Als die Maskierten heute Morgen mit dieser Betäubungspistole hereinkamen, bekam ich fürchterliche Angst. Und als sie davon sprachen, mich freizulassen, konnte ich es erst gar nicht glauben.“

Wieder drückte sie Charlotte an sich.

„Komm, verschwinden wir von hier“, sagte Charlotte, und die beiden gingen zügig zurück zum Wagen. Julia war noch recht schwach, und sie schwankte beim Gehen etwas. Sie hatte die Narkose noch nicht ganz überwunden. Charlotte stützte sie.

Julia stieg auf der Beifahrerseite ein. Ihr Blick fiel auf die Rückbank, auf der ihre Reisetasche stand. „Wirfst du mich raus?“, fragte sie. Es klang ängstlich.

Charlotte startete den Wagen und drehte die Heizung voll auf. Sie fuhr vom Parkplatz und fädelte sich auf den Boulevard ein. „Sozusagen. In meiner Wohnung ist es für dich nicht mehr sicher.“

„Warum? Sie werden mich doch nicht ein zweites Mal entführen.“

„Ich traue ihnen nicht. Das Beste wäre, du würdest nach Hause fliegen.“

„Nein“, antwortete Julia bestimmt. Die Lethargie, die sie im Griff gehalten hatte, verflog zusehends. Ein wenig des Eifers und der Energie, die sie bei ihrem unerwarteten Auftauchen vor Charlottes Apartment versprüht hatte, glomm nun in ihren Augen auf. „Zuerst muss Phil frei kommen. Und dann will ich bei der Suche nach den Ganoven helfen.“

Charlotte seufzte. Sie hatte nichts anderes erwartet. Julia verdrängte das Erlebte. Aber es war nicht an ihr, Charlotte, der jungen Frau zu sagen, wie sie mit diesem Ereignis umzugehen hatte. Nur, was Sicherheitsaspekte anging, ließ Charlotte nicht mit sich reden.

„Dann bringe ich dich in ein Motel, wo dich niemand findet.“

Sie bog nach rechts ab und gab Gas. Rasch blieb der Park hinter ihnen zurück. Charlotte fuhr quer durch die Stadt, während sie Julias Fragen über ihren ersten Auftrag beantwortete, jedoch nichts von Zeichnung und Kopplung erzählte. Sie beließ es bei knappen Andeutungen über Magnete, die eingesetzt worden waren.

„Casino, das klingt echt cool“, sagte Julia.

„Wie erging es dir?“, erkundigte sich Charlotte.

„Da gibt's nicht viel zu erzählen. Seit sie mich alleine eingesperrt hatten, bekam ich einmal Essen und ein paar Decken. Das war's. Es kümmerte sich niemand um mich. Eigentlich war es eher langweilig als gefährlich. Nur die Fesseln waren nervig.“ Sie rieb ihre Hände aneinander und hielt sie vor die Lüftungsschlitze der Heizung.

„Das ist gut“, sagte Charlotte und war froh, dass die Ganoven Julia nicht weiter beachtet oder gar bedroht hatten. Die Frage nach Phil ersparte sie sich. Julia hatte ihn offensichtlich nicht gesehen.

Charlotte stoppte vor einem Motel, dessen Schild verkündete, dass noch einige Zimmer frei seien. Die beiden Frauen gingen zur Anmeldung, und Charlotte buchte ein Doppelzimmer unter dem Namen Denise Couloir. Sie füllte das Anmeldeformular aus, und der Mann hinter dem Tresen warf sogar einen Blick auf ihren gefälschten Führerschein. Falsche Ausweispapiere hatte sie sich nach ihrer Freilassung für genau diesen Zweck besorgt.

Charlotte nahm den Schlüssel zu Apartment 7A entgegen und lief mit Julia den Außengang zur Zimmertür.

Charlotte schaltete das Licht ein, ging zum Fernseher und stellte ihn an. Julia warf gerade ihre Tasche auf das Bett und wollte schon auspacken, als Charlotte den Kopf schüttelte.

„Wir bleiben nicht hier“, flüsterte sie, während sie zu dem einzigen Fenster trat, es öffnete und hinausschaute. Bäume, Gebüsch und ein schmaler Kiesweg waren das einzige, das sie sehen konnte. Es bedeutete aber auch, dass niemand von außen in ihr Apartment blicken konnte.

„Komm!“, sagte sie und kletterte aus dem Fenster. Julia schaute verblüfft, gehorchte dann aber und reichte Charlotte ihre Tasche. Auch sie kletterte ins Freie, und Charlotte zog das Fenster nach unten. Der Ton aus dem Fernseher war gedämpft zu hören.

Die neuen Freundinnen liefen den Kiesweg hinab, weg vom Eingang und dem Parkplatz. Nach einhundert Metern waren sie am anderen Ende des Motelgeländes angekommen. Es war nicht umzäunt, und aus diesem Grund hatte Charlotte es auch ausgewählt. Die beiden zwängten sich durch ein immergrünes Gebüsch und standen schließlich auf der Parallelstraße. Rasch entfernten sie sich weiter vom Motel.

„Krass!“, meinte Julia leicht außer Atem. Sie stützte sich gelegentlich an einer Mauer ab, um eine kleine Schwäche zu kaschieren. „Willst du Verfolger abschütteln?“

„Ja. Nur zur Sicherheit. Bemerkt habe ich keine. Aber es soll außer mir niemand wissen, wo du wirklich bist.“

Nach ein paar Blocks steuerte Charlotte die Subway an, warf Münzen in das Drehkreuz, und sie und Julia fuhren in eine willkürliche Richtung. Nach drei Stationen stiegen sie aus und rannten die Rolltreppe hinauf zur anderen Linie an diesem Kreuzungsbahnhof. Sie stiegen in einen Waggon ein, und gerade als die Durchsage zur Weiterfahrt ertönte, schob Charlotte ihre Freundin aus dem Wagen auf den Bahnsteig und sprang ebenfalls hinaus. Zischend schloss sich die Tür hinter ihr, und nur eine Sekunde später fuhr die Subway ratternd los.

„Was...“, begann Julia.

Charlotte blickte sich hastig um. Niemand war ihnen aus der Bahn gefolgt. Einige Leute entfernten sich vom Bahnsteig und strebten den Rolltreppen zu.

„Komm!“, sagte Charlotte, denn sie war noch nicht zufrieden.

Sie lief die Treppe hinauf zur anderen U-Bahnlinie. Julia folgte ihr keuchend. Ohne auf das Ziel zu achten, nahmen die beiden den nächsten Zug und stiegen noch zweimal auf diese Weise um.

Dann erst glaubte Charlotte, eventuelle Verfolger, so es sie gegeben hatte, abgeschüttelt zu haben. Julia machte alles mit. Ihr Gesicht hatte wieder ein wenig Farbe angenommen, und es schien, als machte ihr dieses Verwirrspiel sogar Spaß. Schließlich stiegen sie wieder an die Oberfläche hinauf, nahmen den Bus und fuhren bis zu einer Haltestelle in der Innenstadt. Charlotte steuerte nach zwei Blocks zu Fuß ein Mittelklassehotel an.

„Du hast das alles schon vorab geplant, nicht?“, fragte Julia. Es klang bewundernd.

Charlotte nickte. „Warte hier. Ich buche ein Einzelzimmer und gehe pro forma hinauf. In einer Viertelstunde gebe ich dir den Schlüssel. Iss nicht im Hotel, und versuche, den Angestellten aus dem Weg zu gehen. Ich melde mich jeden Abend telefonisch.“

Sie zog einen weiteren gefälschten Ausweis hervor und betrat das Hotel.

***

Es war fast Mitternacht, als Charlotte in das Parkhaus neben dem nun fast ausgestorbenen Pacific Centres einbog und die Wendelauffahrt hinauffuhr. Der Streusplit, den die Autos hineingetragen hatten, knackte unter den Reifen. Der Himmel war wolkenverhangen, Mond und Sterne nicht zu sehen. Auf dem obersten Deck parkte sie in der Nordostecke am äußersten Rand und ließ den Motor laufen, um die Heizung auf Volllast betreiben zu können. Es war eiskalt, und die Außentemperatur war wieder unter 0 Grad Fahrenheit gesunken. Es schien ein Jahrhundertwinter zu werden.

Charlotte schaltete das Innenlicht ein und wartete.

Nur wenige Minuten später sah sie Scheinwerferlicht im Rückspiegel. Ein dunkler Kleinwagen hielt neben ihr. Charlotte stieg aus ihrem Auto und trat zur Fahrerseite des anderen Wagens. Der in schwarz gekleidete Mann, der die Kapuze seines Hoodies weit über den Kopf gezogen hatte, kurbelte das Fenster herunter und sagte kurz angebunden: „Das Geld.“

Fordernd streckte er eine Hand aus.

„85.000 wie vereinbart“, erwiderte Charlotte und reichte ihm ein dickes Paket.

Der Fahrer öffnete es und blätterte flüchtig durch die unzähligen, mehrheitlich braunen Scheine. „Okay.“

Er legte das Paket auf den Beifahrersitz und holte von dort einen schmalen Koffer, den er durch das Fenster hinausschob. Charlotte öffnete ihn auf dem Dach des Autos und leuchtete mit einer Taschenlampe hinein. Zwei Ohrstecker mit großem, blauem Stein lagen darin, ebenso eine ganze Reihe an kleinen Glasfläschchen, die mit einer trüben Flüssigkeit gefüllt waren.

„Sie sind beladen?“, fragte Charlotte.

Der Mann nickte. „Wie gewünscht. Ein starker Druck auf den Stein, und es wird freigesetzt. Der Typ im Labor hat sich gewundert, warum jemand so etwas haben will.“

„Gut“, sagte Charlotte, klappte den Koffer zu und ging zurück zu ihrem Auto.

Ihre Vorbereitungen zu Phils Freilassung waren angelaufen.

***

Am übernächsten Tag, kurz vor 9 Uhr am Morgen, betrat Charlotte das Gerichtsgebäude. Das schwere, doppelflügelige Portal fiel langsam hinter ihr zu. Eine riesige Eingangshalle empfing sie. Charlotte stieg die breiten Stufen, die eine 180-Grad-Drehung vollführten, in den ersten Stock hinauf und folgte dem breiten Gang, bis sie Zimmer 1.14 erreichte. Auf den Bänken neben der Tür saßen bereits ein paar Personen und warteten auf den Beginn der Verhandlung.

Charlotte zeigte dem Wachhabenden ihren Dienstausweis.

„Miss Claire Vernon“, murmelte der Uniformierte und suchte den Namen auf einer Liste. Als er ihn gefunden hatte, blätterte er in einem Ordner, der neben ihm auf der Bank lag, und verglich das dortige Photo mit dem Lichtbildausweis und der vor ihm stehenden Frau.

Charlotte ließ die Überprüfung gelassen über sich ergehen. Mit ihrer blonden Perücke, der großen Brille und dem unauffälligen grauen Businesskostüm sah sie exakt so aus wie die für die heutige Verhandlung offiziell eingeteilte Gerichtszeichnerin.

Er muss weitreichende Verbindungen haben, schätzte Charlotte den Kidnapper ein, der immer noch Phil in seiner Gewalt hielt, wenn er so etwas arrangieren kann. Immerhin existiert diese Claire überhaupt nicht.

Der Gerichtsdiener trat zur Seite und öffnete die Tür. Charlotte nickte ihm freundlich zu und ging in den großen Verhandlungssaal hinein. Ein weiterer Beamter des Obersten Gerichts von British Columbia schloss gerade die Fenster und verriegelte die Griffe mit einem Spezialschlüssel. Charlotte grüßte und ging zu dem kleinen Pult aus dunklem Holz, das mittig vor der vordersten Zuschauerbank stand. Sie verstaute ihre Tasche im Fußraum und legte den großen Zeichenblock und verschiedene Stifte auf die Platte.

Ein paar Minuten später begann sich der Saal zu füllen. Zuerst kamen die zwölf Geschworenen aus ihrem Beratungszimmer im Rücken der Richterbank und setzten sich in der ihnen zugewiesenen Ordnung. Gesprochen wurde nichts. Charlotte spürte die Anspannung der kanadischen Staatsbürger, denen eine riesige Verantwortung auferlegt worden war.

Dann brachten vier Polizisten den Angeklagten. Charlotte musterte den weißhaarigen Mann, dessen Gesicht einen kaum unterdrückten höhnischen Ausdruck zeigte. Er setzte sich auf eine leicht erhöhte Bank auf der von Charlottes Platz aus gesehenen linken Seite des Saales. Die Handschellen wurden ihm nicht abgenommen. Zu beiden Seiten postierten sich zwei Polizisten und legten ihm die Hand auf die Schulter. Neben diesen Beamten nahmen die beiden anderen Aufstellung, eine Hand auf die Dienstwaffe gelegt.

Die Plätze für Anklage und Verteidigung sowie diejenigen der Pressevertreter füllten sich, und schließlich wurden auch die Zuschauer eingelassen.

Es war 9:29 Uhr, als der Gerichtsdiener zur Tür des Richterzimmers ging. Sofort verstummten die leise geführten Gespräche, und alle Anwesenden erhoben sich.

„Der ehrenwehrte Mister Justice Petterson“, proklamierte der Courtofficer, als der Richter in seiner schwarzen Robe den Saal betrat und sich auf den zentralen Stuhl an der Stirnwand hinter dem breiten Holzpult setzte.

Während die Prozessbeteiligten und Zuschauer wieder Platz nahmen, verkündete der Gerichtsdiener weiter: „Verhandelt wird die Strafsache Clark gegen die Krone.“

Der Richter beugte sich nach vorne und sprach in das Mikrophon: „Film- und Photoaufnahmen sind nicht gestattet. Ebenso ist das Anfertigen von Zeichnungen, sei es hier im Saal oder später aus dem Gedächtnis heraus, nur der Gerichtszeichnerin erlaubt.“

Nach ein paar Sekunden blickte er zur Anklage. „Ihr Plädoyer“, forderte er den Staatsanwalt auf.

„Die Beweise gegen Mr Clark sind erdrückend. Mehrere Zeugen haben ihn eindeutig als Beifahrer des Wagens des Drive-by-Shootings identifiziert, dem zwei Menschen zum Opfer fielen. Die Tatwaffe wurde in seiner Wohnung gefunden...“

Charlotte begann mit ihrer offiziellen Arbeit. Sie konzentrierte sich zuerst auf den Angeklagten, der ruhig und Überlegenheit ausstrahlend nach hinten gelehnt auf seinem Stuhl saß und das Geschehen unbeteiligt zu verfolgen schien. Sie zeichnete die wirr ins Gesicht hängenden Haare und das hämische, aber nur angedeutete Lächeln. Auch die Polizisten und den Strafverteidiger brachte sie mit gekonnten Strichen zu Papier. Nach drei Minuten war die erste Zeichnung fertig, die denen professioneller Gerichtszeichner in nichts nachstand.

Während der Staatsanwalt über die Gefährdung der Allgemeinheit bei einem so brutal ausgeführten Anschlag referierte, nahm sich Charlotte als nächstes den Richter vor. Justice Petterson hatte den Kopf leicht zur Seite geneigt und hörte konzentriert zu. Sein Blick schweifte im Raum herum und verhielt oft bei den Geschworenen. Auch dieses Bild war schnell fertiggestellt und wurde zu dem ersten gelegt. Dann wandte sie sich dem Staatsanwalt zu. Charlotte zeichnete die Fenster in seinem Rücken und deutete mit Strichen an, dass die Robe des Anklägers flatterte, da er sich während seiner Rede vor einem Geschworenen aufbaute, dann wieder einen Meter zur Seite ging und den nächsten durchdringend anblickte.

Schließlich konzentrierte sich Charlotte auf die acht Männer und vier Frauen, die ein Urteil in diesem Mordprozess fällen sollten.

„Ihr Urteil kann nur ‚schuldig in allen Punkten‘ lauten“, beendete der Staatsanwalt seinen Vortrag und nahm Platz.

Der Richter wandte sich nach rechts. „Herr Verteidiger, Ihr Plädoyer bitte.“

„Wir haben viele Zeugen gehört“, begann Clarks Anwalt, „und diese haben nach bestem Wissen und Gewissen ihre Pflicht getan. Das honoriert auch die Verteidigung. Nur die Schlüsse, die der Herr Staatsanwalt zieht, sind mitnichten zwingend. Sie sind möglich, ja sogar wahrscheinlich, aber wir haben keinen Beweis dafür, dass mein Mandant geschossen hat, denn niemand sah ihn mit einer Waffe in der Hand. Lassen Sie mich das erklären. Mr Clark bestreitet nicht, eine Waffe zu besitzen, aber diese wurde...“

Charlotte ließ ihren Blick über die Geschworenen gleiten und begann zu zeichnen. Das erste Bild zeigte alle Jurymitglieder, die regungslos dem Plädoyer lauschten. Die Übersichtszeichnung war rasch angefertigt und fand den Weg zu den anderen Bildern.

Dann aber wurde es Zeit für ihren Auftrag.

Charlotte begann, den Mann, der in der oberen Reihe als zweiter von rechts saß, so groß wie möglich auf Papier zu bringen. Seine Arme kreuzten sich vor dem Bauch. Der Oberkörper des Mannes mit dem schütteren Haar war schnell gezeichnet. Das Muster aus Geraden, Kreisbögen und Vielecken auf seinem Hemd würde die Kopplung stark vereinfachen.

Dann signierte sie das Bild.

Charlotte zögerte für einen Moment. Sie hasste sich für das, was sie nun tun würde. Der Mann erfüllte seine Pflicht der Gesellschaft gegenüber, das war ehrenwert. Und dennoch würde er gleich körperlich angegangen werden. Außer der Tatsache, dass sie unter Zwang stand, gab es keine Rechtfertigung für ihr Vorgehen. Aber sie hatte keine Wahl, wenn sie Phils Leben nicht gefährden wollte.

Sie presste auf eine bestimmte Stelle des gezeichneten Halses.

Die reale Aorta wurde zusammengequetscht, der Blutfluss zum Gehirn stark gedrosselt. Der Juror griff sich sofort an den Hals und kratzte sich. Ansonsten aber lief die Verhandlung weiter.

Eine halbe Minute später aber konnte der Mann ein Gähnen nur mehr mühsam unterdrücken. Charlotte sah die angespannten Gesichtsmuskeln deutlich. Sie drückte weiter auf ihr Bild, und schließlich fielen dem Mann für zwei Sekunden die Augen zu. Sein Kopf sackte nach unten, und diese ruckartige Bewegung machte ihn wieder munterer.

Charlotte verstärkte den Druck, doch sie sah, dass der Mann sich offensichtlich zu erholen begann.

Also ein neues, dachte sie.

Das Bild hatte aufgrund der starken Änderung der Körperhaltung seine Wirkung verloren.

Wieder zeichnete Charlotte den gesamten Oberkörper, damit kleinere Veränderungen der Realität die Kopplung nicht auflösten. Schließlich aktivierte sie die Zeichnung und presste erneut mit dem Daumen auf die Ader. Die reale verschloss sich für ein paar Sekunden vollständig. Der Mann kratzte sich weiter, rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her und setzte sich ein wenig gerader auf. Aber seine Abwehrbewegungen wurden rasch schwächer. Sein Oberkörper pendelte nur wenig umher. Es war, als stünde er unter Schock. Schließlich sackte der Mann kraftlos zusammen.

Charlotte riss die Signatur von ihrer Zeichnung ab, faltete das Blatt zusammen und schob es zwischen die Seiten des Blocks.

Der Blutfluss zum Gehirn des Geschworenen war wieder hergestellt. Der Mann würde keine Schäden davontragen. Das, was Charlotte durchgeführt hatte, war nichts anderes als ein unsichtbarer Betäubungsgriff gewesen.

Nun wurden die anderen Geschworenen aufmerksam. Es entstand Unruhe, was wiederum Gerichtsdiener, Richter und die Anwälte alarmierte.

„Wir unterbrechen die Verhandlung“, verkündete Justice Petterson. „Was ist mit dem Geschworenen?“

Der Courtofficer eilte zur Bank der Jury, drängte sich an den Geschworenen vorbei und untersuchte den Zusammengesackten. „Er scheint bewusstlos. Aber er atmet selbsttätig. Der Puls ist spürbar.“

Dann lief der Beamte mit schnellen Schritten zum Richterzimmer. „Ich rufe einen Notarzt.“

Nach einer Minute war er bereits wieder zurück, und der Richter verkündete: „Die Verhandlung wird auf nächste Woche, Montag, 10 Uhr vertagt. Sollte der Geschworene bis dahin nicht wieder seinen Pflichten nachkommen können, müssen wir eine neue Jury wählen.“

Der Saal leerte sich. Und auch Charlotte packte ihre Sachen zusammen. Die offiziell erstellten Bilder gab sie dem Gerichtsdiener und verließ den Verhandlungsraum. Mit dem Strom der Menschen ging sie hinunter und schließlich aus dem Gerichtsgebäude hinaus.

Sie hatte ihren Auftrag erfüllt. Charlotte wusste nicht, warum Phils Kidnapper die Plädoyers und damit eine Beratung der Geschworenen und eine Urteilsverkündung verschieben wollte. Ein normaler Unfall, ohne die Verwendung einer besonderen Gabe herbeigeführt, hätte den Zweck ebenfalls erfüllt. Charlotte hatte keine überzeugende Erklärung gefunden, warum ein so umständlicher Weg eingeschlagen worden war. Aber die Anweisungen, die sie erhalten hatte, waren eindeutig gewesen: Vertagung der Verhandlung, ohne Verdacht zu erregen.

Charlotte fühlte sich in diesem Moment wie eine Marionette, mit der gespielt wurde, die gleichzeitig aber auch Strippenzieherin war und mit ihrer Fähigkeit rücksichtslos andere manipulierte und nach ihrer Pfeife tanzen ließ.

Es war ein ekliges Gefühl.

***

Ein paar Schritte hinter dem Eingang blieb Charlotte stehen. Die aufgelassene Fabrikhalle ähnelte in Form und Größe einem Flugzeughangar. Auf halber Höhe in etwa fünf Metern umlief im Innern eine breite Balustrade an den Wänden das gesamte Gebäude. Oben rechts befand sich eine Art Haus mit großer Glasfront.

Wahrscheinlich das ehemalige Meisterbüro, vermutete Charlotte.

„Wo ist Phil?“, rief sie laut in die Leere hinein. Ihre Worte hallten.

„Hände hoch! Und bleib ruhig stehen!“, befahl ein Mann, den sie nicht sehen konnte. Die Stimme kam von oben, aus Richtung des Büros.

Charlotte gehorchte und wartete. Nur Sekunden später trat eine maskierte Gestalt aus dem Dunkel rechts neben dem Eingang heraus, kam näher und begann, Charlotte zu durchsuchen. Wie bei einer Polizeikontrolle tastete die Gestalt sie ab, fand aber nichts, denn Charlotte war wie gefordert ohne Waffen, ohne Blöcke oder Stifte erschienen.

„Alles in Ordnung“, rief der Mann und trat zurück. Oben öffnete sich die Tür des Büros, und zwei weitere Maskierte liefen über die Balustrade auf die schmale Metalltreppe zu.

Charlotte stemmte die Hände in die Hüften und wiederholte ihre Frage mit deutlichem Unwillen: „Ich habe getan, was du wolltest. Wo ist Phil?“

Sie zeigte Anzeichen von Nervosität und fuhr sich über das Haar. Fahrig spielte sie mit dem rechten Ohrstecker und verschränkte dann die Arme vor dem Oberkörper.

Der Mechanismus war nun aktiviert. Die zwei Minuten bis zur Freisetzung begannen in diesem Moment herunterzulaufen.

Die drei Gestalten bauten sich vor ihr auf. Die beiden äußeren hielten Pistolen in den Händen und richteten sie auf Charlotte. Der mittlere aber trat einen Schritt vor. Etwa zwei Meter trennten ihn von der Frau, die er erpresste. Charlotte erkannte ihn an der Stimme. Es war der Boss.

„Es stimmt. Du hast deine Aufgaben zu meiner Zufriedenheit erledigt.“ Er lachte. „Nun, Phil geht es gut. Er ist im Büro.“ Er deutete nach oben. „Wir beide aber sollten uns noch einmal unterhalten.“

„Worüber?“, fragte Charlotte eisig. Sie machte einen Schritt nach vorne. „Es ist alles gesagt zwischen uns.“

„Einerseits könnte ich dir Phil übergeben, und dann trennen sich unsere Wege.“

„Das war der Deal.“

„Andererseits kann ich eine Waffe wie dich nicht einfach so aufgeben“, deutete der Ganove an.

Charlotte machte einen weiteren Schritt nach vorne. Sie stand nun nur noch einen halben Meter von dem Mann entfernt, der im Begriff war, sein Wort zu brechen. Mit Wut in den Augen baute sich Charlotte vor ihm auf, die Hände wieder in die Hüften gestemmt. Sie drückte ihr Kreuz durch, doch auch der Chef der Ganoven richtete sich kerzengerade auf. Er war einen halben Kopf größer als sie.

Dumme Machtspielchen, dachte Charlotte. Aber es lenkt ihn für ein paar Sekunden ab. Es müsste gleich soweit sein.

Und da spürte sie einen sanften Stoß an ihrem rechten Ohrläppchen.

„Du brichst dein Wort“, stellte sie nüchtern fest.

Wieder ertönte ein Lachen, nun unverkennbar überheblich. „Ich würde es eher als den Ausbau unserer Geschäftsbeziehung bezeichnen.“

„Unter Zwang“, zischte Charlotte zurück. „Schöne Beziehung. Und wie stellst du dir das überhaupt vor? Wirst du Phil für immer gefangenhalten? Es wird seinen Kollegen mit Sicherheit auffallen - wenn sie nicht ohnehin schon nach ihm suchen.“

Lässig winkte der Ganove ab. „Die Bundespolizei? Die haben wir beruhigt. Phil hatte einen familiären Notfall. Es war kein Problem, ein paar Wochen Abwesenheitserlaubnis zu erhalten.“

Charlotte spielte weiter auf Zeit. „Wie also soll es deiner Meinung nach ablaufen?“

Sie versuchte, ihre Stimme ein wenig höher als normal klingen zu lassen. Es sollte Angst um Phils Leben vortäuschen; eine Angst, welche sie zu verbergen versuchte.

„Nun, der Deal ist einfach: Du tust, was ich von dir verlange, dafür bezahle ich dich gut, und deine Freunde hier in der Stadt oder in Nova Scotia werden keinen Besuch von meinen Leuten befürchten müssen. Sieh mich einfach als deinen Dauerauftraggeber. So viel anders als das, was du jetzt tust, wäre dein Leben dann auch nicht.“

Nun lachte Charlotte. Die gespielte Unsicherheit war verflogen. „Du spinnst. Außerdem könnte ich höchstens drei Tage für dich arbeiten. Danach hättest du keine Aufträge mehr für mich.“

„Eine Drohung deinerseits?“, höhnte der Maskierte. Er schien sich über Charlottes Aussage zu amüsieren.

„Keine Drohung. Schlicht eine Tatsache. Du wirst in etwa 70‑80 Stunden tot sein.“

Wieder lachte der Ganove. Doch es klang nicht mehr ganz so selbstgefällig wie zuvor. „Nun, sprich nur weiter, wenn es dich beruhigt. Ich habe noch ein paar Minuten Zeit für Geschichten. Dann aber werden wir deinen nächsten Auftrag besprechen.“

„Da musst du dich aber beeilen. In etwa zwei Stunden wirst du die ersten Symptome verspüren: Husten, trockener Hals, vielleicht auch schon die erste Atemnot. Fieber kommt dann später hinzu, gefolgt von Gliederschmerzen. Dann aber mit starken Atembeschwerden. Viel reden wirst du dann nicht mehr können. Und das alles wird schlimmer und dich schließlich töten.“

Drohend baute der Maskierte sich nun fast auf Tuchfühlung vor Charlotte auf und packte sie am Arm. Charlotte ließ es geschehen und schaute ihm fest in die Augen, die durch die schmalen Schlitze der Wollmaske gerade so zu erkennen waren.

„Ich will Klartext! Oder ich erschieße Phil.“

Er drehte sich zur Seite und rief laut nach oben: „Bring ihn runter!“

Die Tür des Büros öffnete sich wieder, und Phil wurde von einem weiteren Maskierten mit Waffengewalt die Treppe hinuntergezwungen. Die Bewegungen des Kommissars, dessen Hände auf dem Rücken gefesselt waren, wirkten eckig und ungelenk. Eine Minute später standen Phil und vier Maskierte vor Charlotte.

„Geht es dir gut?“, fragte sie Phil, der bemüht fröhlich lächelte. Er schien, bis auf die Wunden im Gesicht, die er schon am Tag der Entführung erlitten hatte, nicht weiter verletzt zu sein.

„Ich bin zäh“, antwortete er.

„Also?“, sagte der Chef der Ganovengruppe.

Charlotte nahm den rechten Ohrstecker ab. „Hierin befanden sich Milzbranderreger. Ich habe sie zerstäubt, als ich vorhin mit dem Ohrring spielte. In einem Umkreis von etwa zwei Metern um mich ist die Luft infektiös. Du hast dich mehrere Minuten in meiner unmittelbaren Nähe aufgehalten. Die Sporen sitzen nun in deiner Lunge und keimen.“

Sie warf ihm den Ohrring hin. „Du kannst es gerne untersuchen lassen.“

Alle Ganoven sprangen einen riesigen Satz zurück, und es gab erste Absetzbewegungen. Die drei Bewaffneten machten weitere Schritte nach hinten, weg von ihrem Chef. Phil vergaßen sie dabei völlig. Dessen Gesicht verlor rapide an Farbe. Ungläubig starrte er die Freundin an. Er biss sich auf die Lippen und achtete darauf, dass er sowohl dem Verbrecherboss als auch Charlotte nicht zu nahe kam.

Charlotte konnte sich vorstellen, welche Gedanken ihm durch den Kopf gingen. Doch sie musste sich zuerst um den Mann kümmern, der hier bis vor wenigen Minuten das Sagen gehabt hatte.

„Du hast davon gesprochen, dass der Deal ganz einfach ist“, wiederholte sie die Worte des Kidnappers. „Das ist er auch weiterhin, wenn auch auf andere Art. Phil und ich werden euch gleich verlassen. Niemand folgt uns. Und in einer Stunde rufe ich eine bestimmte Telefonzelle an und verrate euch, wo das Gegenmittel ist.“

Einer der anderen Maskierten verlor die Nerven. „Ich erschieße dich, wenn du mir das Mittel nicht sofort gibst!“, brüllte er.

„Ich weiß nicht, wo es sich befindet. Das haben Freunde von mir versteckt, als ich in die Halle hier kam. Erschieß mich, und du wirst es nie finden. Und elend zugrunde gehen.“

Der Mann lachte irr auf. „Ärzte werden uns schon helfen können. Wir gehen ins Krankenhaus.“

Doch Charlotte zerstörte auch diese Hoffnung. „Das bringt nichts. Diesen Erreger kennen nur eine Handvoll Menschen auf der Welt. - Ihr wisst, dass ich beim Militär bin. Im Sanitätsdienst. Da kommt man an gewisse Dinge leicht heran, wenn man es darauf anlegt. Geht ins Krankenhaus, lasst euch durchchecken. Man wird Abstriche machen, Kulturen anlegen, und man wird nach ein paar Tagen wissen, dass es Milzbrand ist. Dann aber seid ihr schon tot. Die gängigen Antibiotika wirken nicht, eine nachträgliche Impfung ist nicht möglich, Antitoxine gibt es nur an wenigen Orten. Vielleicht kann man euch retten, ich will es nicht ausschließen, aber wahrscheinlich steckt man euch nur in Quarantäne. Auf jeden Fall werdet ihr einige Fragen beantworten müssen. Und das, obwohl ihr bis auf euren Boss meiner Einschätzung nach zu weit von meinem Ohrring entfernt gewesen seid. Aber, wenn ihr wollt, werft euer Leben weg.“

Sie ging einen Schritt auf den Chef zu. Sofort entfernten sich die Ganoven und Phil von ihr. Charlotte lächelte, als sie fortfuhr: „Ich selbst bin geimpft, falls ihr euch das fragt. - Nun, beeilt euch mit einer Entscheidung.“

„Sie blufft“, meinte der Boss.

„Willst du das Risiko eingehen, es herauszufinden?“

Sie lächelte weiter. Mit lässig vor der Brust verschränkten Armen wartete sie auf eine Antwort.

Die Waffen der Verbrecher senkten sich. Das war für Charlotte das Zeichen. Sie sprang zu Phil, griff ihn am Arm und zog den Freund mit sich. Gleichzeitig sagte sie: „278, Richards Street. Die Telefonzelle davor. In einer Stunde.“

Phil war durch die langen Tage der Gefangenschaft und der erzwungenen körperlichen Untätigkeit, gefesselt auf einem Metallstuhl, nicht mehr in der Lage, ihrem festen Griff und ihrer Energie etwas entgegenzusetzen. So stolperte er Charlotte mehr hinterher, als dass er ihr folgte. Die Freundin aber nahm nicht den direkten Weg zur Fabrikhallentür, sondern lief einen Bogen und vermied den Bereich, in dem der Ohrstecker seine Ladung versprüht hatte.

Charlotte riss die Tür auf, lief hindurch und rannte zu ihrem Wagen. Phil schleppte sich heran und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen, die Hände weiter auf dem Rücken gebunden. Charlotte fuhr los. Die Fabrikhalle verschwand rasend schnell im Rückspiegel. Charlotte holte aus der Seitentür einen Beutel hervor, der ein Messer, eine kleine Metallsäge und eine Reihe an Schlüsseln für Handschellen der verschiedenen Fabrikate enthielt. Phil probierte letztere der Reihe nach durch und konnte seine Fesseln schließlich abstreifen.

„Hättest du auch ein wenig des Gegenmittels für mich? Vielleicht jetzt schon?“, versuchte er die Tödlichkeit der Situation herunterzuspielen. Doch seine Stimme verriet die Furcht.

„Im Handschubfach sind drei kleine Fläschchen. Nimm alle acht Stunden eines“, antwortete Charlotte und schaltete höher. Sie raste über den Highway nach Norden, ihrem nächsten Ziel entgegen. „Du kannst aber auch darauf verzichten, wenn du willst.“

Phil brach das Siegel der Metallkappe auf, schraubte den Verschluss ab, schwenkte die milchigtrübe Flüssigkeit im Kreis und trank alles in einem Schluck.

„Bist du verrückt? Ich bin zwar selten krank, aber auf ein Vabanquespiel mit dem Tod lasse ich mich nicht ein.“

„Niemand wird sterben.“

Phil blickte die Freundin entgeistert an. „Du hast nur geblufft?“

„Teilweise. Der Boss wird Grippesymptome bekommen, vielleicht auch ein wenig Atemnot. Aber das war es dann auch schon. Das, was ich ihm gegeben habe, ist zwar in der Tat ein Milzbrandbakterium. Und auch vom Militär. Aber für deren Zwecke eine totale Fehlentwicklung. Man wollte einen aggressiveren Erreger herstellen. Doch es ging immer nur in die andere Richtung. Dieser hier ist harmlos. Er verhält sich wie Grippe, kann keine Sporen bilden, und ist nur in hoher Konzentration, wie das, was ich zerstäubt habe, ansteckend. Das einzige, das ihn auszeichnet, ist, dass er gegen manche weit verbreiteten Antibiotika resistent ist.“

„Was enthält nun das Gegenmittel?“, wollte Phil wissen.

Charlotte wechselte auf die rechte Spur und blinkte. Sie nahm die nächste Abfahrt. „Ein Gemisch aus Antibiotika, abgetöteten Bakterien zur nachträglichen Impfung, ein paar Adjuvantien als Immunbooster. Aber, wie gesagt, nicht nötig. Dein körpereigenes Abwehrsystem wird die Infektion auch so besiegen.“

Phils erleichtertes Ausatmen war deutlich zu hören. „Ich dachte für einen Moment wirklich, du spielst mit unseren Leben. - Also kein Anruf in einer Stunde?“

„Doch. Sie erhalten auch das Gegenmittel. Mit Sicherheit wird der Kerl irgendeinen Unterweltarzt konsultieren und sich testen lassen. Er soll weiter glauben, dass ich nicht geblufft habe. Serologisch ist der Stamm mit den gängigen Tests nicht als harmlos zu identifizieren.“

„Er wird sich rächen wollen und nach dir suchen“, vermutete Phil.

„Mag sein. Aber wir werden ihn vorher schnappen.“

Charlotte bremste und stellte den Wagen am Straßenrand der East 14th Street ab. „Oder willst du lieber zum Arzt wegen deiner Gefangenschaft?“

Phil schüttelte den Kopf. „Ich nehme an, es hat einen Grund, dass wir an meinem Arbeitsplatz angehalten haben.“

Charlotte bestätigte. „Es hat etwas gedauert, bis es mir klargeworden ist. Aber der Kerl, der uns und Julia entführt hat, hat sich verraten. Er sprach davon, dass außer mir und ihm nur noch du von meiner Gabe weißt.“

„Da es niemand von uns weitererzählt hat“, nahm Phil den Gedankengang auf, „muss er es sozusagen live erfahren haben.“

Charlotte nickte. „Richtig. Er war im Park in Oakville vor Ort, als ich es dir gesagt habe.“

„Ein Jogger, der uns belauscht hat?“

„Nein. Erinnerst du dich an die Kinder, die hinter uns liefen? Und an deren Eltern?“

Phil dachte kurz nach und rief sich die Ereignisse bei Charlottes High-School-Treffen noch einmal ins Gedächtnis. „Nur rudimentär. Mann, Frau, drei... Mädchen, höchstens zehn, glaube ich.“

„Richtig. Und im zeitweilig entführten Flugzeug nach Vancouver gab es eine identische Familie: drei Mädchen, Vater, Mutter.“

„Das kann Zufall sein“, schränkte der Kommissar ein.

„Glaube ich nicht. Denn das älteste Mädchen - Amber hieß sie - nahm mein Buch mit der Zeichnung von Ben mit. Ich habe mir damals nichts dabei gedacht. Die Zeichnung war ja, trotz der noch vorhandenen Signatur, nicht mehr aktiv. Ich glaube mittlerweile, der Mann hat seine Tochter vorgeschickt, um das Bild zu bekommen.“

Phil nickte. „Klingt schlüssig. Und die Passagierliste erhalten wir schnell.“

Die beiden stiegen aus dem Wagen und betraten das Gebäude der Royal Canadian Mounted Police im Norden von Vancouver. Phil grüßte den Desk Sergeant und ging in sein Büro am Ende des Gangs. Er ließ sich mit dem zuständigen Detective für die Flughafenregion verbinden und bat um die Passagierliste. Wenige Minuten später kam das Telex.

Charlotte blickte auf die Uhr und setzte sich auf die Kante des Schreibtisches. „Ich sollte mal telefonieren. Das mit den Freunden war wirklich ein Bluff. Ich hab das Gegenmittel selbst deponiert.“

Sie wählte die Nummer der Telefonzelle. Es läutete nur zweimal, dann ertönte eine Stimme.

„Wo?“

„Hinter dem Apparat klebt ein Schlüssel, falls ihr ihn nicht schon gefunden habt. Er ist für ein Schließfach am Hauptbahnhof. Alle acht Stunden eine Ampulle für insgesamt 24 Stunden. Ich habe nur mit drei Personen gerechnet. Es sind also nur neun Fläschchen. Ich melde mich in sechs Stunden wieder an dieser Telefonzelle. Dann sage ich euch, wo ihr weitere bekommt.“

Sie hängte ein.

Phil hatte die Passagierliste durchgeschaut. „Wir haben drei Mädchen mit demselben Nachnamen: Peacock.“

Charlotte schaute auf das Telex. „Er wird unter seinem echten Namen fliegen. Es gab ja keinen Grund für eine Tarnidentität. Zumal man es Kindern auch kaum beibringen kann, dass der Papa kurz mal anders heißt.“

Sie überflog die Liste. „William Peacock. Da haben wir ihn ja.“

„Aber es ist schon seltsam, dass er dir mit Frau und Kindern nachspioniert“, wandte Phil ein.

Charlotte hob die Achseln. „Hybris? Zufall? Es ist mir aber auch völlig egal.“

Phil hob den Hörer erneut ab. Er ließ sich mit dem Bereitschaftsdienst verbinden. „Phil Messier hier, Abteilung Sonderermittlungen. Gebt eine Fahndung heraus nach William Peacock, 40-50 Jahre, wahrscheinlich verheiratet, drei Kinder. Vielleicht haben wir ihn in unserer Kartei. Sofortige Festnahme. Achtung: Der Mann ist gefährlich. Widerstand ist zu erwarten. Schaltet das ERT ein. Er könnte sich vor dem Apartmentkomplex 237, Main Street aufhalten.“

Charlotte sprang vom Schreibtisch. „Ich denke, ihr habt den Kerl bald. Er weiß ja nicht, dass wir seine Identität kennen. - Aber jetzt fahre ich zu Julia und buche mir ein Zimmer im Hotel. Die Main Street sollte ich besser die nächste Zeit meiden.“

„Haben sie dich eigentlich schon akzeptiert?“, fragte Phil. Auch er hatte die Entführung für den Moment beiseite geschoben.

„Noch nicht. Die Meldefrist läuft erst am Montag ab. Und dann müssen die Bewerber noch gesichtet werden. Ich denke, in zwei, drei Wochen wird sich die Militärverwaltung melden. Aber ich habe ein gutes Gefühl.“

ENDE
 



 
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