Hinweis: Die Serie spielt in den 1960ern in Kanada.
Im militärischen Forschungsstützpunkt verlaufen die ersten Wochen von Charlottes Dienst ohne besondere Ereignisse. Routine bestimmt den Tag. Aber dann gerät das große Experiment, welches die Energieerzeugung revolutionieren soll, außer Kontrolle. Gegenmaßnahmen greifen nicht, und die Katastrophe scheint unausweichlich.
Der kleine Fluss schlängelte sich wild durch das Tal, das ringsum von mehrere Hundert Meter hohen Bergen umschlossen wurde. Es war früher Morgen, die Sonne schon aufgegangen. Aber der Talboden lag noch in dämmrigem Licht. Tau glänzte auf den schmalen Grünstreifen zwischen den asphaltierten Flächen. Die 80 Männer und Frauen, die an diesem Militärstützpunkt Dienst taten, waren für die nächsten sechs Monate unter sich. Funk, ein Hubschrauberlandeplatz, eine Versorgungsstraße durch die Berge, zwei Boote und ein Fußweg auf halber Höhe zu den Gipfeln waren die einzigen Verbindungen zur Außenwelt.
Charlotte schritt die Reihe der wartenden Soldaten ab, die vor dem riesigen Betongebäude standen, in welchem einer der beiden Zweige des Forschungsprojektes ‚atomZeta‘ vor zwei Wochen seinen offiziellen Betrieb aufgenommen hatte. Die ersten Tests mit dem experimentellen Reaktor waren zur Zufriedenheit der Wissenschaftler verlaufen. Die spezifische Leistung lag sogar noch über den Erwartungen. Mehr als das 10‑fache der bis dato stärksten Atomkraftwerke war erreicht worden. Und das mit einer deutlich kompakteren Bauweise des Reaktorkerns. Das Militär versprach sich mit diesem Typus der Energieerzeugung insbesondere für U‑Boote eine signifikant verlängerte Unterwasserbetriebsdauer.
Charlotte führte ihre täglichen Kontrollen durch. Sie hielt die Farbtafel, die aussah wie ein Lineal, neben die Plakette, die knapp unterhalb der linken Schulter an der Uniformjacke des Soldaten gut sichtbar angebracht war. Sie verglich die Farbe des Spezialpapiers mit ihrer Referenztafel: Grün, gelbliches Grün, Gelb, Orange, fleckiges Orange mit roten Einsprengseln und dem großflächigen Tiefrot, das unter allen Umständen zu vermeiden war.
Charlotte notierte ‚Grün‘. Der Träger war dementsprechend seit Anbringen der passiven Messapparatur in Summe kaum radioaktiver Strahlung ausgesetzt gewesen. Erst wenn sich deutlich erkennbare rote Punkte zeigten, bestand Anlass zur Sorge. Doch dafür gab es Protokolle. Auch für die anderen Soldaten der ‚Äußeren Sicherheit‘, die abmarschbereit auf den Beginn ihrer Feldübung warteten, konnte sie ‚Grün‘ eintragen. Charlotte gab die Gruppe frei, und die Männer marschierten im Gleichschritt in Richtung des südlichen Berghangs davon.
Die Stabsunteroffizierin wandte sich um und ging zu einem der Nebengebäude, in welchem ihr hauptsächlicher Arbeitsplatz - die Sanitätsstation - untergebracht war.
Charlotte hatte sich unglaublich gefreut, als vor einigen Wochen die Zusage der Militärverwaltung gekommen war, dass sie an dem Projekt teilnehmen konnte. Sie hatte zuerst befürchtet, ihre kurzzeitige Entführung samt Erpressung würde sie disqualifizieren. Aber die psychologischen Belastungstests hatte sie mit Bravour bestanden, und so stand ihrem Einsatz nichts entgegen. Ein Fünftel der Stationierten gehörten der Reserve an, und so gab es für sie die Gelegenheit, ihre Kenntnisse auf dem Gebiet der Nuklearmedizin zu vertiefen, denn die Atomkraft, sei es als Waffe oder zivil zur Energieerzeugung, würde in Zukunft noch weit wichtiger werden.
Der Lautsprecher in der Krankenstation knackte. „Hier Chandler, Quartier Sicherheit B4. Möglicher Strahlennotfall. Meine Plakette ist tiefrot.“
Das Notfallprotokoll lief an.
„Schließen Sie Türen und Fenster, und bleiben Sie, wo Sie sind“, ordnete Charlotte an. Sie sprang auf und lief zum Arztzimmer. Ohne anzuklopfen stürzte sie hinein. „Code ‚Red‘“, rief sie.
Dr. Kent, ihr Vorgesetzter, saß an dem großen Schreibtisch und las gerade einen Bericht, den er nun aber fallen ließ, um in die Krankenstation zu rennen.
„Maggot, Sie bleiben hier!“, ordnete der Arzt an, und Charlottes Kollegin nickte.
Charlotte und Kent griffen nach den beiden Notfallrucksäcken und rannten, so schnell sie mit dem Gewicht konnten, hinüber zu dem Gebäude, welches das Sicherheitspersonal zum Arbeiten und Wohnen nutzte. Der Wachhabende öffnete ihnen beim Näherkommen schon die Tür.
Im Strahlenzimmer links neben dem Eingang drückte Kent auf den Knopf der Gegensprechanlage für Zimmer B4. „Kent hier. Chandler, hantieren Sie mit Nuklearmaterial in Ihrem Quartier?“
„Nein, Sir“, kam die leicht verzerrte Antwort aus dem Lautsprecher. „Mein Dienst in der Funküberwachung beginnt erst am Mittag. Ich habe dienstfrei.“
„Beschreiben Sie Ihre Plakette. Und Ihre körperliche Verfassung.“
„Die Plakette ist tiefrot. Außer der Farbe erkenne ich keinen Unterschied zu gestern. Mir selbst geht es gut. Keine Übelkeit, Kopfschmerzen oder sonstige Symptome.
Charlotte blätterte durch die Unterlagen der Plakettenüberprüfung vom Vortag, die sie gemäß dem Protokoll zur Unfallstelle mitgenommen hatte. „Seine Plakette habe ich...“ Sie schaute auf die Uhr am Handgelenk. „...vor 22 Stunden als Grün eingestuft.“
Kent drückte wieder auf den Sprechknopf. „Was haben Sie seit gestern Mittag getan?“
Er stieg in den Strahlenschutzanzug, den er aus dem Metallschrank an der Seitenwand genommen hatte, stülpte den Helm über und schaltete die Sauerstoffversorgung ein. Auch Charlotte hatte einen Schutzanzug angezogen und überprüft. Sie gab ihr Okay.
„Sir, ich hatte Dienst in der Funkzentrale. Dann war ich im Sportraum mit einigen Kameraden. Anschließend Ruhezeit, und heute Morgen Vorbereitungen für die nächste Schicht.“
Kents Stimme klang dumpf durch die Sichtscheibe des Anzuges, als er das Verhör fortsetzte. „Wann haben Sie bemerkt, dass Ihre Plakette sich verfärbt hat?“
„Erst vor wenigen Minuten. Ich kam aus der Dusche, und nach dem Anziehen war sie rot. Am Abend, vor dem Zapfenstreich, definitiv aber noch grün. Daran erinnere ich mich genau.“
„Wie sehen die Plaketten Ihrer Zimmergenossen aus?“, fragte Kent weiter.
„Sir, ich bin aktuell alleine auf der Stube. Meine Kameraden sind vor einer halben Stunde zu einem Außeneinsatz aufgebrochen.“
Kent stellte den Geigerzähler, den er aus dem mitgebrachten Rucksack holte, auf höchste Empfindlichkeit. Charlotte schaute im Belegungsplan des Sicherheitsgebäudes nach, der im Strahlenraum neben der Tür hing. Dann trat sie zur Sprechanlage und meldete an die Kommunikationszentrale: „Medizinische Anordnung, Notfallstufe. Kontaktieren Sie umgehend Tungstall, Bings und Anderson, Angehörige des Sicherheitspersonals. Sofortige Kontaktaufnahme über Kanal 7, Sanitätsdienst, ist erforderlich.“
Als Charlotte geendet hatte, gab Dr. Kent das Kommando zum Aufbruch, und die beiden stiegen die Treppe hinauf in den zweiten Stock. Die Glastür des Treppenaufgangs sowie sämtliche Türen zu den Quartieren waren geschlossen. Der Flur lag menschenleer vor ihnen. Charlotte hielt den Geiger-Müller-Zähler in der Hand und schwenkte das Messrohr langsam in alle Richtungen. Es knackte gelegentlich, zeigte aber keine erhöhte Belastung durch ionisierende Strahlung an.
Aber hinter der Tür konnte es ganz anders aussehen. Und da Chandler nur in seinem Zimmer und im Waschraum gewesen war, musste es dort eine starke Quelle radioaktiver Strahlung geben.
Kent öffnete die Tür ein Stück und schob den Messfühler hindurch. Doch das Knacken des Geräts intensivierte sich nicht. Die Anzeige blieb unbedenklich. Der Arzt zog die Tür ganz auf, und Charlotte und er gingen mit langsamen Schritten den Gang hinunter. Konzentriert schaute und hörte Charlotte auf das Strahlenmessgerät, doch alles blieb unverändert.
Vor der Tür zu Zimmer B4 blieben sie stehen. Kent rief laut: „Chandler, gehen Sie ans Fenster, und bleiben Sie dort stehen. Ich komme jetzt rein.“
Ein paar Sekunden später öffnete er die Tür zum Quartier der vier Soldaten einen Spalt weit. Wie bei der Flurtür hielt er zuerst das Zählrohr in den Raum hinein, doch das Knacken blieb ein seltenes Ereignis. Kent betrat daraufhin die Stube. Er blickte direkt auf das kleine Fenster, vor dem der Soldat stand. Links und rechts davon befand sich ein Stockbett an der Wand. Vier kleine Spinde, ein Schreibtisch mit quadratischer Platte und ein Stuhl vervollständigten die karge, auf praktischen Nutzen ausgerichtete Ausstattung.
Der Arzt maß die Strahlenbelastung des Raumes. Er öffnete die Spinde und schlug die Bettdecken um. Doch die Anzeige blieb in allen Richtungen im unbedenklichen Bereich. Auch, als er den Geigerzähler direkt auf Chandler richtete, kam es zu keiner Änderung.
„Bernstedt“, rief der Arzt auf den Flur hinaus, „der Raum ist sauber. Ich erbitte Bestätigung.“
Charlotte betrat nun ebenfalls das Viererzimmer und führte mit dem zweiten Geigerzähler, wie es das Protokoll vorschrieb, die gleichen Messungen durch. Aber beide Geräte kamen zu identischen Ergebnissen: Keine erhöhte Strahlenbelastung. Die nukleare Quelle, die Chandlers Plakette rot verfärbt hatte, befand sich nicht hier im Raum.
Charlottes Blick fiel auf die Uniformjacke des Soldaten am Fenster. Die Messplakette unter der Schulter war unzweifelhaft tiefrot, doch Charlotte nahm auch einen schwachen Schimmer wahr.
Feuchtigkeit, dachte sie, aber nicht radioaktiv, sonst hätte Kent dies ja angemessen.
Sie machte ihren Vorgesetzten darauf aufmerksam. Der Arzt ging näher an den Soldaten heran und schob das Visier direkt vor die Plakette. „Sie haben recht“, bestätigte er Charlottes Beobachtung.
Das Funkgerät in Charlottes linker Uniformtasche quäkte laut. „Hier Tungstall, ich sollte mich melden.“
Charlotte drückte den Sprechknopf. „Beschreiben Sie Ihre Plakettenfarbe.“
„Grün, vielleicht grüngelb, Madam.“
„Sind Anderson und Bings bei Ihnen?“, fragte Charlotte nach.
„Positiv.“
„Deren Plakettenfarben?“
Für einen Moment kam nur Rauschen aus dem Äther, dann ertönte wieder Tungstalls Stimme. „Identisch, Madam. Grün bis gelblich.“
Charlotte blickte zu ihrem Vorgesetzten, der das Gespräch aufmerksam verfolgt hatte.
„Sollen weitermachen“, entschied der Arzt, und Charlotte gab die Freigabe weiter.
Kent wandte sich wieder an Chandler, der äußerlich ruhig schien. Nur seine immer wieder umherspringenden Augen verrieten, dass es in seinem Innern anders aussah.
„Beschreiben Sie Ihren Morgen im Detail.“
„Nach dem Wecken die übliche Morgenroutine: Duschen, Stube säubern, Ausrüstung vorbereiten, danach Frühstück in der Messe. Meine Kameraden sind dann los, ich blieb noch hier. Sir, es gab keine Abweichung vom vorgeschriebenen Tagesablauf.“
„Ist etwas Ungewöhnliches passiert? Denken Sie nach, Chandler! Jede Kleinigkeit kann wichtig sein.“
„Nun, Sir“, erwiderte der Soldat nach ein paar Sekunden. „Mir ist die Uniformjacke im Waschraum heruntergefallen. Ein Kamerad lief mit seinen Stiefeln darüber. Ich reinigte die Jacke rasch noch, bevor ich zurück auf die Stube ging.“
„Auch in der Plakettenregion? Ich vermute, mit Seife?“
Chandler nickte. „Ja, Sir. Auch die Plakette.“
„War Sie da noch grün?“
Chandler wurde sichtlich nervös. Er rieb seine Hände aneinander. „Daran kann ich mich nicht erinnern. Das Licht im Duschraum war schon ausgeschaltet.“
„Gut, bleiben Sie hier“, befahl der Arzt.
Charlotte folgte ihm, als er den Weg zum Duschraum einschlug. Weiter maßen die Geigerzähler nur die natürliche Belastung an. Kent schaltete das Licht in der Umkleide ein, ging aber direkt weiter zum Waschraum. Doch nirgends gab es eine gefährliche Strahlenmenge.
Kents Haltung entspannte sich. Er drehte sich um, und ging zurück zu B4. An Charlotte gewandt, ordnete er an: „Geben Sie Entwarnung. Es war ein Fehlalarm. Erstellen Sie ein Memo, dass die Anordnung in den Richtlinien, Plaketten mit Wasser vorsichtig zu reinigen, mit dem Zusatz ‚und nichts sonst‘ zu lesen ist. Die chemische Reaktion von Laugen mit der Plakette ist ja bekannt. Ich hätte aber nicht gedacht, dass das einmal ein Problem werden könnte. - Überprüfen Sie zur Sicherheit die Plaketten aller hier im Tal Anwesenden. Aber nehmen Sie Rücksicht auf laufende Übungen oder Experimente. Es genügt, wenn die Überprüfung im Laufe des Tages erfolgt. - Und schätzen Sie die maximale Farbveränderung der Plaketten von Tungstall, Bings und Anderson zum Vortag ab. Sie kennen ja das Prozedere. Nehmen Sie sich eine der unterschriebenen Blanko-Diensteinschränkungsanordnungen aus meiner Mappe.“
Dann befahl er dem Soldaten: „Gehen Sie mit Bernstedt zur Krankenstation und lassen Sie sich eine neue Plakette geben.“
Charlotte bestätigte die Befehle, lief die Treppe hinunter und zog den Strahlenschutzanzug wieder aus. Über die Gegensprechanlage gab sie die Entwarnung an die Funkzentrale durch mit der Anordnung, diese sofort auf allen Kanälen publik zu machen. Der Dienstbetrieb im Tal konnte ohne Einschränkungen weitergeführt werden. Danach meldete sie die Benutzung der Schutzanzüge der Materialprüfstelle. Diese würde ihren und Kents Anzug nach der, wenn auch nur kurzzeitigen, Benutzung im unverstrahlten Bereich, dennoch auf Dichtigkeit und volle Funktionalität überprüfen und den Sauerstoffvorrat wieder aufstocken.
Anschließend ging sie mit dem Korporal hinüber in das Nebengebäude.
Aus einer Bleischatulle in dem roten Schrank neben dem Eingang zur Sanitätsstation nahm sie eine frische Plakette, trug deren Nummer und das Ausgabedatum in die entsprechende Verwendungsliste ein und vermerkte Chandlers Namen. Sie entfernte die rote Plakette aus dem Cliprahmen an der Uniform und hängte die frische ein. Dann holte sie eine Einschränkungsanordnung aus Kents Büro, vermerkte Dauer und Grund, und erklärte dem Korporal das weitere Vorgehen.
„Ihre neue Plakette misst die Strahlenbelastung, der Sie ab jetzt ausgesetzt sind. Alles, was zuvor auf Ihren Körper einwirkte, muss jedoch dazu addiert werden. Ihre Belastung bis zur gestrigen Kontrolle ist mir bekannt, nicht aber die Menge an Strahlung, der Sie seit diesem Kontrollzeitpunkt ausgesetzt waren. Als Schätzwert dafür nehmen wir die maximale Veränderung der Farben der Plaketten Ihrer Kameraden, mit denen Sie ja bis auf ein paar Stunden zusammen waren. - Finden Sie sich morgen, 8 Uhr wieder hier ein. Dann dunkle ich Ihre Plakette nach. Bis das geschehen ist, sind Sie im Dienst auf das Sicherheitsgebäude beschränkt. Außeneinsätze und das Betreten des Reaktorgebäudes sind Ihnen untersagt.“
Chandler nickte, nahm die Anordnung und verließ die Krankenstation.
Charlotte verfasste das Memo und ließ es auf Papier ausfertigen und austeilen. Dann widmete sie sich ihren sonstigen Pflichten.
***
Kurz vor 20 Uhr, als Charlotte gerade den letzten der heutigen medizinischen Untersuchungsberichte aus ihren Kurznotizen in Reinschrift übertrug, betraten ihre beiden Kollegen, welche die Nachtschicht übernehmen würden, die Station.
„Irgendetwas Besonderes?“, fragte Jake Peters, Unteroffizier im aktiven Dienst.
Charlotte notierte noch die letzten Ergebnisse der subjektiven Befindlichkeitsbefragungen und schloss schließlich die Akte. „Nur der Code-Red-Fehlalarm, den ihr ja mitbekommen habt. Es werden sich nachher drei Soldaten hier melden. Bewertet bitte ihre Plakettenfarbe. Ich brauche die Werte morgen zum Nachdunkeln. Eigentlich wollte ich das selbst erledigen, aber die drei verspäten sich. Ansonsten war es das Übliche. Heute Nacht allerdings beginnt ja der groß angekündigte erste mehrtägige Reaktorversuch.“
„Nervös?“, wollte Kelly Tovalo wissen.
Charlotte zuckte die Achseln. „Angespannt, ja. Schließlich ist das Reaktordesign Neuland für alle.“ Sie rollte den Schreibtischstuhl zurück und stand auf. „Viel Spaß mit Gable!“, grinste sie.
Kelly verzog das Gesicht. „Falls wir den Herrn Arzt heute Nacht überhaupt zu Gesicht bekommen. Er hält sich ja für etwas Besseres und fraternisiert nicht mit uns vom Fußvolk.“
Charlotte lachte. „Er glaubt bedingungslos an die Hierarchie. Das sollte dich im Militärdienst doch nicht überraschen.“
Charlotte und ihre Kollegin Jocelyn Maggot verließen Krankenstation und Gebäude.
„Kommst du mit in die Messe?“, fragte Jocelyn.
„Später. Ich brauche erst ein wenig Himmel über mir.“
Maggot schlug den Weg nach links ein zum Verpflegungsgebäude, Charlotte aber wandte sich in die andere Richtung, in der sie einen unbehinderten Blick auf die Berge hatte.
Nach dem langen, anstrengenden Dienst in geschlossenen Räumen freute sie sich auf den kleinen Spaziergang, der fast schon zu einer täglichen Routine geworden war. Tief sog sie die angenehm kühle und frische Luft ein. Die Dämmerung war weit fortgeschritten, und besonders am Grund des Tals war es schon düster. Vogelgezwitscher erklang, und am Himmel kreiste ein als Schemen erkennbarer Greifvogel. In den Büschen am Fuß des Berges raschelte es. Charlotte passierte das große Reaktorgebäude, dessen dicke Betonmauern genügend Schutz vor der Strahlung auch im Katastrophenfall boten. Der Reaktorraum an sich war noch einmal zusätzlich mit Beton oder bleidotiertem Spezialglas ummantelt. Die Wissenschaftler waren überzeugt davon, auf alles vorbereitet zu sein.
Nach ein paar Minuten hatte Charlotte ihre kleine Runde beendet und ging kurz hinüber in die Messe, hielt sich dort aber nicht lange auf. Sie wollte so viel wie möglich lernen. Und von dem zweiten Projekt, an dem hier im Tal geforscht wurde, wusste sie nur das, was die offiziellen Fortbildungen behandelt hatten.
Charlotte ging in ihr Quartier im Wohngebäude, das sie sich mit drei anderen Soldatinnen teilte, und das wie alle Viererstuben nur das Nötigste an Mobiliar enthielt. Im Moment war sie alleine, und darüber war Charlotte auch froh. Ruhe war genau das, was sie nun brauchte.
Am Schreibtisch nahm sich Charlotte die Unterlagen zu dem anderen großen Forschungsvorhaben vor. Der Leiter der gesamten Forschungsanlagen, Colonel Banks, war ein Verfechter des neuen Führungsstils, der von der Maxime ausging, dass Entscheidungen bei Forschungsprojekten auf der niedrigstmöglichen Ebene getroffen werden sollten. Und dazu bedarf es Informationen. Jeder im Tal konnte - bis auf Dinge, die als geheim klassifiziert worden waren - die Grundlagen aller Versuche einsehen.
Charlotte schlug den Ordner mit dem sperrigen Titel ‚Quantenmechanische Verschränkung zur nuklearen Spaltungskontrolle‘ auf und las noch einmal die ausführliche Zielvorgabe. Man wollte einen neuartigen Mechanismus entwickeln, welcher die nukleare Kettenreaktion aus der Ferne starten konnte. Als ersten Schritt planten die Forscher, zwei Uranatome quantenmechanisch so miteinander zu verschränken, dass, wenn das eine zerfiel, das andere dies instantan ebenfalls tat. Eins der beiden Atome besaß dabei die Führungsrolle und verhinderte den Zerfall des zweiten. Und diese Kontrolle sollte theoretisch auch funktionieren, wenn beide weit voneinander entfernt waren. Militärisch interessant war dies für die Konstruktion eines Fernzünders, der durch nichts abgeschirmt werden konnte. Kein Störsender, kein Einbringen in ein tiefes Bergwerk, keine Mauern aus Beton oder Metall würden diesem physikalischen Effekt, der in der Literatur auch als ‚spukhafte Fernwirkung‘ bezeichnet wurde, Einhalt gebieten können.
Als Charlotte den Abschnitt beendet hatte, ergriff sie plötzlich eine Unruhe, die sie sich zuerst nicht erklären konnte. Doch sie vertraute ihrem Instinkt. Ein Wort oder ein Satz aus dem Text hatte eine ganz konkrete Bedeutung und war irgendwie mit etwas in ihrem Leben verbunden. Charlotte starrte auf die Worte, bis diese vor ihren Augen verschwammen, und versuchte krampfhaft, den Gedanken, der unter der Oberfläche ihres Verstandes schlummerte, hinaufzuziehen.
Doch es gelang ihr nicht.
Charlotte schloss die Augen und führte eine beruhigende Atemübung durch. Sie ließ ihren Gedanken freien Lauf. Zuerst huschten fragmentierte Bilder des Dienstalltags vor ihrem inneren Auge vorbei, und sie glaubte, die Hektik des Strahlenalarms noch einmal zu durchleben.
Doch langsam beruhigte sich ihr Gehirn. Und dann, nach ein paar Minuten, drang die Idee endlich in ihr Bewusstsein.
„Spukhafte Fernwirkung“, wiederholte sie mehrmals leise.
Konnte man so nicht auch ihre Gabe beschreiben? Die Manipulation eines Objektes - der Zeichnung - pflanzte sich auf das reale Objekt fort.
„Funktioniert mein Blick auf diese Art?“
Vielleicht stellte das, was die Pyramidenzellen in ihrer Hornhaut aussandten, auf irgendeine Art und Weise eine Verschränkung zwischen dem Papier und dem Objekt her.
Charlotte klappte den Ordner zu. Darauf konnte sie sich nun nicht mehr konzentrieren. Sie löschte das Licht, warf sich auf ihr Bett, kreuzte die Arme unter dem Kopf und starrte die Decke an. Es war definitiv ein aufregender Monat für sie gewesen, seit Julia mit den Photos angekommen war, auf denen Charlotte die blauen Ringe das allererste Mal gesehen hatte. Und nun hatte sie vielleicht eine weitere, wenn auch höchst spekulative, Entdeckung gemacht. Hatte sie ihre Fähigkeit jahrelang immer besser anzuwenden gelernt, ohne zu wissen, worauf diese basierte, so schien es nun möglich zu sein, das Ganze zumindest im Ansatz zu erklären.
Auch wenn sie noch nicht wusste, was sie mit einer solchen Erklärung anfangen konnte, spannend war diese Entdeckung in jedem Fall.
Charlotte blickte auf die Uhr. Für sie begann in wenigen Minuten die Ruhezeit, und so beschloss sie, ihre Gedanken erst am Folgetag zu notieren.
***
Am nächsten Morgen übernahm Charlotte den Dienst von ihren Kameraden, die sich müde verabschiedeten. Nachtdienst schlauchte, das wusste sie aus eigener Erfahrung. Und nächste Woche würde es für sie wieder so weit sein.
Sehr schön, freute sich Charlotte, als sie sah, dass Kelly die Plakettenfarben von Chandlers Kameraden nicht nur protokolliert, sondern auch schon die Veränderungen zum Vortag bewertet hatte. Das Ergebnis war das einfachstmögliche: Es gab keinen sichtbaren Unterschied.
Es klopfte an der Tür, und Chandler trat ein. „Guten Morgen, Miss Bernstedt.“
„Guten Morgen, Korporal. Es wird nicht lange dauern.“
Charlotte entfernte die Plakette aus der Halterung an Chandlers Uniform und schob das dünne Plättchen, das aus einer strahlensensitiven Oberschicht auf einem inerten Plastikträger bestand, in eine schwarze Kammer von Schuhkartongröße. Sorgfältig verschloss sie deren Schiebetür und rastete den Riegel ein. Der Drehknopf für die Zeitdauer knackte leise, als Charlotte die zwei Minuten einstellte. Danach drückte sie auf ‚Start‘.
Es ploppte wie beim Anschalten einer Fernsehröhre, aber abgesehen davon drang kein Laut aus der Röntgenkammer. Nach Ablauf der zwei Minuten war die Prozedur beendet. Charlotte nahm die Messplakette heraus und befestigte sie wieder an Chandlers Jacke.
„Ihre zerstörte Plakette lag farblich gestern hier“, erklärte sie und deutete auf die zweitunterste Farbe auf der Linealskala. „Diesen Wert habe ich kopiert, und eine Einheit zusätzlich gedunkelt, wie es die Richtlinien vorschreiben, da wir bei den Plaketten Ihrer Kameraden keine Veränderung innerhalb der letzten 24 Stunden feststellen konnten, und sie mit diesen nicht die gesamte Zeit zusammen waren.“
„Warum überhaupt ein Nachdunkeln? Es würde doch ausreichen, wenn Sie bei den morgendlichen Kontrollen wissen, wieviel insgesamt aufaddiert werden muss.“
Charlotte lächelte. „Psychologie. Untersuchungen haben gezeigt, dass sich Menschen bei einer grünen Plakette im Falle von Stress, Zeitdruck oder sonstiger Hektik sorgloser verhalten, selbst wenn sie wissen, dass die Plakette eigentlich gelb ist. Dem will die Militärführung mit dem Nachdunkeln vorbeugen. - Sie sind wieder voll diensttauglich.“
Als der Korporal das Untersuchungszimmer verlassen hatte, überprüfte Charlotte gewissenhaft das medizinische Verbrauchsmaterial, so wie es auch Kelly bei der gestrigen Dienstübernahme getan hatte. Doch es musste nichts aus dem unterirdischen Großlager nachgeordert werden. Sie hatte gerade den letzten Schrank geschlossen, als die Tür zur Sanitätsstation mit Ruck aufgerissen wurde. Zwei Soldaten stützten einen dritten, der in ihrer Mitte auf einem Bein hereinhumpelte.
„Was ist passiert?“, fragte Charlotte und deutete auf die Untersuchungsliege.
Der Verletzte setzte sich und bemühte sich, sein Gesicht zu entspannen. Doch Charlotte sah, dass er ziemliche Schmerzen haben musste.
„Übung im Feld in den Bergen. Ich kam in eine Felsspalte, konnte aber nicht rechtzeitig bremsen und bin umgeknickt“, meldete er.
„Dann legen Sie sich mal hin.“
Charlotte schnürte den rechten Stiefel auf. Der Soldat biss sich auf die Zähne, als sie den Schuh abzog. Der Knöchel begann bereits anzuschwellen. Vorsichtig tastete sie die Region ab. „Beißen Sie jetzt bitte die Zähne zusammen“, sagte sie und drehte den Fuß leicht im Gelenk. Dabei tastete sie mit leichtem Druck über den Spann, den Knöchel sowie die Ferse.
„Es ist nur eine Verstauchung“, diagnostizierte Charlotte schließlich. Sie nahm zwei Eispacks aus dem Kühlschrank neben dem Schreibtisch und legte sie auf beide Seiten des Knöchels. „Halten Sie das hier fest.“
Dann klopfte sie an die Tür des Arztzimmers und trat nach Aufforderung ein. Dr Kent, der gerade über Telefon mit einem Kollegen sprach, bat diesen, kurz zu warten, und legte die Hand auf die Sprechmuschel. Er hob den Kopf und blickte seine Untergebene fragend an.
„Verstauchung am Fuß. Soll ich röntgen?“
„Keine Knochenveränderungen oder -fehlstellungen spürbar?“, vergewisserte er sich.
Charlotte verneinte. „Das Gewebe ist durchgehend weich. Auch die Schwellung ist nicht ungewöhnlich stark oder verformt.“
„Dann verzichten wir auf eine Strahlenbelastung. Dienstunfähigkeit und so weiter. Sie kennen das ja. Weisen Sie den Verletzten entsprechend ein.“
Er reichte Charlotte eine schon vorab unterschriebene Dienstunfähigkeitsbescheinigung. Dann verließ die Stabsunteroffizierin das Büro ihres Vorgesetzten wieder.
Der verletzte Soldat hatte sich unterdessen nicht gerührt. Seine Kameraden hatten die Krankenstation verlassen und waren wieder zu ihrer Gruppe gegangen.
Charlotte entnahm aus einem der Schränke mit Verbrauchsmaterial eine Rolle breite Mullbinde und umwickelte den Knöchel des Verletzten fest, um den Fuß zu stabilisieren und Druck auf das Gewebe auszuüben.
„Ihren Namen und Dienstgrad, bitte?“
„Korporal David Tremaine.“
Charlotte trug den Namen in die Bescheinigung ein und setzte die Dauer mit drei Tagen fest, was dem üblichen Zeitrahmen entsprach, den Dr. Kent für eine solche Verletzung erst einmal ansetzte. Bei seinem Kollegen Gable hätte Charlotte eine tägliche Wiedervorstellung vermerkt.
„Kühlen Sie den Fuß regelmäßig. Heute zehn Minuten pro Stunde. Morgen können Sie es nach Bedarf durchführen. Kommen Sie nach Ablauf der drei Tage wieder zur Kontrolle. Wir schauen dann, wie sich Schwellung und Entzündung entwickelt haben.“
Tremaine richtete sich auf. Charlotte holte eine Krücke aus dem Nebenzimmer und reichte sie dem Soldaten, der daraufhin die Krankenstation verließ.
Dann widmete sie sich wieder den Fragebögen, welche jeder Projektbeteiligte einmal pro Woche ausfüllen musste. Es ging um psychische und physische Gesundheit. Konzentriert studierte sie die Antworten und notierte kurze Empfehlungen, wie der ein oder andere persönliche oder strukturelle Missstand behoben werden konnte. Kleinere Ratschläge gab sie direkt per Gegensprechanlage durch, falls es die ihrem Rang zustehende Weisungsbefugnis erlaubte, andere legte sie gebündelt für ihren Vorgesetzten zur Freigabe beiseite.
Nach Dienstende machte Charlotte ihren Spaziergang, duschte rasch und hatte sich gerade eine frische Uniform angezogen, als ihr Pager, den sie auf das Kopfkissen gelegt hatte, durchdringend piepte. Charlotte trat zur Tür und drückte den Sprechknopf links neben dem Eingang. „Bernstedt, Quartier G9. Ich höre.“
„Melden Sie sich umgehend in der Funkzentrale.“
„Verstanden.“
Es knackte, und dann kam nichts mehr. Charlotte nahm den Pager, verließ ihre Unterkunft und lief hinüber zum Gebäude der Sicherheitsabteilung, dessen Dach unzählige Antennen und Parabolschüsseln spickten.
„Ich soll mich in der Funkzentrale melden“, erklärte sie dem Wachhabenden am Eingang.
Nach kurzer Rücksprache per Sprechfunk ließ er Charlotte passieren. Sie lief die Treppe in den dritten Stock hinauf und betrat die Überwachungszentrale. Radargeräte, unzählige Funkempfänger, Telex und sonstige elektronische Systeme arbeiteten auf Hochtouren. Sie überwachten 24 Stunden am Tag den Luftraum sowie alle Frequenzen und werteten die Meldungen der auf den Bergen stationierten Fernüberwachungseinrichtungen aus.
Einer der Funker reichte ihr einen Telexstreifen. „Wir haben es dechiffriert. Der Major hat autorisiert, dass Sie die private Nachricht erhalten.“
Charlotte nahm den schmalen Papierstreifen entgegen. Es war ungewöhnlich, dass persönliche Funkbotschaften eingingen. Die nichtmilitärische Kommunikation lief schriftlich per Brief ab.
Charlotte las: ‚Von Phil Messier, Bundespolizei an Charlotte Bernstedt über die Militärverwaltung - Betrifft: Kidnapping - Peacock und drei Komplizen bei Gefängnisausbruch getötet - Weiter kein Geständnis - Wir haben Entführungsort ermittelt - Spuren eindeutig - Julia und ich haben Ort wiedererkannt - Fall für Staatsanwaltschaft abgeschlossen.‘
Ich hätte ihn lieber vor Gericht gesehen, dachte Charlotte. Er hat, wenn auch wohl ungewollt, den einfachen Ausweg gewählt.
Aber Phils letzte Bemerkung, dass der Fall nun zu den Akten gelegt wurde, bedeutete auch, dass ihr Geheimnis weiterhin gewahrt blieb. Nun wusste außer Phil niemand mehr von ihrer Gabe. Denn diesbezüglich glaubte sie Peacocks selbstgefälliger Äußerung, seine Komplizen wüssten von nichts, als er noch dachte, er könnte sie, Charlotte, zur langfristigen Mitarbeit zwingen.
„Danke“, sagte sie zu dem Funkoffizier. Die Nachricht warf sie in den Abfallbehälter. Bei Schichtwechsel würde alles verbrannt werden.
***
Der Vormittag des folgenden Tages war durch Routine geprägt, als plötzlich der Lautsprecher in der Krankenstation knackte.
„Brent an Krankenstation. Dr. Walker klagt über Schwindel. Kommen Sie in die Hauptkontrollzentrale im Reaktorgebäude.“
„Verstanden.“
Charlotte nahm den Notfallrucksack und machte sich auf den Weg. Im Laufschritt legte sie die dreihundert Meter bis zum Reaktorgebäude zurück, das sich direkt am Fuße des höchsten Berges befand. Charlotte öffnete die schwere, metallene Außentür und musste sich etwas bücken, um hindurchzugelangen. Dann bog sie scharf nach links, um wenige Meter darauf eine ebenso abrupte Richtungsänderung nach rechts durchzuführen. Sie öffnete die baugleiche Innentür und stand schließlich im Hauptgang des Gebäudes.
Wuchtbrecher, kam ihr die informelle Bezeichnung, die unter dem nichtwissenschaftlichen Personal kursierte, in den Sinn - wie immer, wenn sie diesen ungewöhnlichen Eingang benutzte. Sollte es zum Katastrophenfall und zu Explosionen kommen, wären die Türen als Sollbruchstellen am gefährdetsten. Durch diesen Zickzackweg, begrenzt von dicken Mauern, lief sich der Explosionsdruck, zumindest bis zu einer gewissen Obergrenze, jedoch tot, bevor radioaktives Material in die Umwelt gelangen konnte.
Im hellerleuchteten und fensterlosen Kontrollraum flogen die Meldungen lautstark hin und her. Ein halbes Dutzend Wissenschaftler standen und saßen vor der Wand mit den unzähligen Messgeräten, Skalen und Steuerknöpfen. Lampen blinkten, und über den Ausgabeschirm des Rechengehirns flimmerten lange Zahlenkolonnen.
Charlotte achtete zuerst nicht auf die Gespräche der Forscher, denn auf einem Stuhl in der Ecke saß vornübergebeugt ein älterer Mann mit grauem Haar. Die Finger rieben über seine Schläfen.
„Dr. Walker?“, vergewisserte sich Charlotte.
Der Mann hob den Kopf, doch bereits diese kleine Bewegung schien ihm Mühe zu bereiten. Seine Stirn war mit Schweiß bedeckt, sein Gesicht auffallend rot. „Ich fühle mich energielos, mir ist schwindelig und leicht übel.“
Charlotte zog den Reißverschluss ihres Rucksacks auf. „Weitere Symptome wie Husten, Heiserkeit oder Niesreiz?“
„Ein leichtes Kratzen im Hals. Sehr tief, wenn ich schlucke.“
Charlotte desinfizierte das Thermometer mit einem Alkoholtuch, schob es dem Wissenschaftler unter die Zunge und bat ihn, sich für ein paar Minuten nicht zu bewegen. Währenddessen tastete sie Walkers Hals ab und fühlte die Lymphknoten. Sie waren leicht geschwollen.
Nun nahm Charlotte auch die Worte der Wissenschaftler im Hintergrund wahr.
„Drosseln der Leistung um 20%. Nur die Steuerstäbe verwenden.“
„Verstanden“, kam es von dem Mann, der an dem breiten Schreibtisch saß, der nur aus Zeigern und Knöpfen zu bestehen schien. Er gab etwas in die Tastatur des Steuergehirns ein, drückte mehrere Knöpfe, und auf dem Bildschirm vor ihm verfolgten die Wissenschaftler gebannt die Veränderung der Messungen, die sowohl innerhalb als auch außerhalb des Reaktorkerns durchgeführt wurden.
„Temperatur des Kerns sinkt“, meldete der Techniker. „Aber langsamer als vorherberechnet.“ Er blickte auf einen anderen Schirm. „Ein Drittel der Steuerstäbe fährt nicht auf die gewünschte Tiefe.“
„Ziehen Sie diese bis auf 95% heraus und senken sie danach langsam wieder ab“, ordnete der Chef der Wissenschaftler, Dr. Brent, mit ruhiger Stimme an.
Wieder ertönte das Klacken von Tasten, dann folgte gebannte Stille. Für mehrere Sekunden starrten alle am Experiment direkt Beteiligten auf die Temperaturanzeige. Auch Walker wandte den Kopf, aber ihm war die Sicht versperrt.
Aus den Augenwinkeln sah Charlotte auf dem Überwachungsmonitor an der rechten Seitenwand den Reaktordruckbehälter, der etwa 15 Meter entfernt in dem großen Nachbarraum stand, dessen Wände besonders dick und noch zusätzlich mit Bleiplatten versehen waren. Das Bild zeigte in gespenstischer Stille einen Zylinder unbestimmbaren Ausmaßes. Nichts regte sich in dem Raum, das andeutete, welch verheerende Kraft sich unsichtbar im Innern der Brennelemente gerade austobte.
„Sollwerte erreicht. Alle Steuerstäbe auf Zielposition. Reaktorkerntemperatur sinkt.“
Ein Aufatmen ging durch die Schar der Forscher.
Charlotte zog das Thermometer aus Walkers Mund und warf einen Blick darauf. „Sie haben Fieber“, stellte sie fest und verstaute ihre Utensilien wieder im Rucksack. „Ich bringe Sie zur Krankenstation, damit Dr. Kent Sie eingehender untersuchen kann.“
Sie wollte nach Walkers Arm greifen, um ihm aufzuhelfen, doch der Mann schüttelte ihre Hand unwillig ab.
„Später. Sehen Sie nicht, dass wir tief im Hauptversuch stecken? Ich kann diesen Ort jetzt nicht verlassen. Geben Sie mir irgendetwas, das mich für die nächsten zwei Stunden fit macht“, herrschte er sie an. Mühsam stand er auf, musste sich aber an der Wand abstützen. Seine Beine zitterten leicht.
„Sir, das widerspricht den Regularien.“
Bevor Charlotte weitersprechen konnte, hörte sie eine beunruhigende Meldung vom Messtisch.
„Wieder Fehlfunktion bei den Steuerstäben. Nur zwei Drittel fahren wie angeordnet tiefer ein.“ Ein lautes Piepen ertönte, und auf dem Messmonitor begann eine Zahl zu blinken. „Die Temperatur im Kern steigt. - Kühlsystem 1 meldet Fehlfunktion. Eine Pumpe arbeitet unregelmäßig.“
„Schalten Sie auf den Reservekreislauf um“, ordnete Brent an. „Und erhöhen Sie die Borkonzentration im Druckwasser. Maximalwert.“
Der Techniker führte die Anordnungen aus, doch seine Stimme klang angespannt, als er meldete: „Ausgeführt. Aber die Temperatur steigt weiter, wenn auch langsamer.“
Walker griff nach Charlottes Arm. „Nun machen Sie schon. Ich muss mich auf meine Arbeit konzentrieren können.“
Charlotte schüttelte den Kopf. „Sir, ich lasse Sie abführen, wenn Sie nicht freiwillig mitkommen. Sie sind nicht dienstfähig, solange Dr. Kent Sie nicht untersucht hat.“
Die Gespräche im Kontrollraum wurden hektischer. Wissenschaftler riefen sich in schneller Folge Messwerte zu und diskutierten. Aufgeregte Handzeichen auf verschidene Messskalen deuteten an, dass es ein ernstes Problem gab.
Der Chefwissenschaftler machte ein nachdenkliches Gesicht, dann wandte er sich an Charlotte. „Spritzen Sie Dr. Walker fit. Wir stehen kurz vor dem Voralarm. Die medizinischen Notwendigkeiten müssen hintenanstehen. Wir brauchen ihn.“
Charlotte ging zur Gegensprechanlage. „Bernstedt im Kontrollraum an Dr. Kent. Ich benötige eine Sondergenehmigung aufgrund Überranginteressen.“
Einige Sekunden rauschte es, dann meldete sich der diensthabende Arzt. „Kent hier.“
Charlotte erklärte den Sachverhalt, und Dr. Kent gab die erbetene Erlaubnis, eine medizinisch nicht indizierte Behandlung durchzuführen. „Sie sind bis auf weiteres Walker persönlich als medizinische Betreuung zugeordnet.“
Charlotte bestätigte den Befehl, schaltete die Sprechanlage ab und nahm aus dem Rucksack eine Spritze mit einem Aufputschmittel. „Der Schwindel wird davon nicht beeinflusst“, erklärte sie dem ungeduldig wartenden Wissenschaftler. „Bewegen Sie sich vorsichtig. Schwäche, Übelkeit und Kopfschmerzen werden Sie für eine gewisse Zeit nicht mehr spüren.“
„Jaja“, erwiderte Walker nur und rollte den Ärmel seines Kittels hoch. „Machen Sie schon!“
Charlotte desinfizierte die Armbeuge und injizierte den Medikamentencocktail. Walker ging sofort, eine Hand an der Wand, zu seinen Kollegen. Charlotte folgte ihm. Die Diskussionen der Forscher wurden hitziger. Vorschläge wurden erörtert, aber schnell verworfen.
Schließlich bat Brent über die Gegensprechanlage die Funkzentrale, eine Meldung durchzugeben, die niemand bei Ankunft in diesem Tal je hatte hören wollen.
„Geben Sie an alle durch: Voralarm aufgrund Störfalls im Reaktorkern.“
Sämtliche Arbeiten im Reaktorgebäude würden nun eingestellt werden. Innerhalb der nächsten zehn Minuten mussten alle Mitarbeiter außerhalb der Kontrollzentrale das Gebäude verlassen und sich in die Quartiere begeben. Auch in den anderen Gebäuden im Tal würden die Aktivitäten auf Null gefahren werden. Jeder würde sich in der Nähe einer Sprechanlage aufhalten und gebannt darauf warten, welche Folgemeldung verkündet würde: Entwarnung oder Evakuierung.
Nicht nur Charlottes Puls schoss in die Höhe. Angst hatte sie jedoch nicht, denn für diesen Fall gab es sauber ausgearbeitete Pläne, die ihr durch die vielen Übungen in Fleisch und Blut übergegangen waren.
Die Gesichter der Forscher zeigten tiefe Besorgnis. Die Gefahren waren allen vor Antritt dieser Verpflichtung bekannt gewesen, aber so nahe vor einem Durchgehen des Reaktors hatte noch niemand gestanden.
„Notabschaltung“, ordnete der Chef der Kontrollzentrale an.
Wieder wurde ein Schalter betätigt, und Charlotte wusste, dass nun die Magnetarretierungen sämtlicher Steuerstäbe gelöst wurden - ein Sicherheitsmechanismus, der bei Stromausfall die Kernreaktionen sofort auf Null drosselte.
Es war eine verzweifelte Aktion ohne wirkliche Aussicht auf Erfolg. Jedem hier im Raum war klar, dass, wenn die Stäbe aktiv nicht tiefer eingefahren werden konnten, ein rein gravitativer Fall nach unten dies erst recht nicht bewerkstelligen konnte. Und der weitere Anstieg der Temperatur bestätigte den Fehlschlag auch auf dramatische Weise. Die Anzeige blinkte weiter.
„Verdammt!“, fluchte Walker und betätigte einen Regler. Das Bild auf dem Seitenwandmonitor sprang um und zeigte nun nicht mehr den Reaktorraum mit dem Druckbehälter, sondern das Innere des Kerns und das charakteristische blaue Leuchten, ausgesandt durch lokal überlichtschnelleTeilchen. „Ich nehme den Arm.“
Die Brennelemente auf dem Schirm waren gut zu sehen, und sofort war klar, dass dort zumindest eine Ursache des Temperaturanstiegs lag. Ein großer Teil der Steuerstäbe hing verkantet in den Führungsröhren. Nur zu etwa einem Drittel der Länge steckten sie zwischen den Brennstäben. Die davon ausgehende drosselnde Wirkung, indem die Spaltungsneutronen absorbiert wurden, reichte offensichtlich nicht aus, die Reaktionshäufigkeit auf ein kühlbares Maß zu senken.
„Sekundärkreislauf arbeitet nur auf 30%. Pumpversagen“, verkündete der Mann am Messpult.
„Testen Sie Kühlsystem 1 wieder, und wählen Sie manuell nach eigenem Ermessen, welches wie lange arbeiten soll“, befahl Brent. Die Ruhe in seiner Stimme war verschwunden. Seine Anordnungen kamen gepresst.
Walker setzte sich in den Stuhl neben den Techniker und griff nach einem Steuerknüppel. Langsam drückte er diesen nach vorne, und auf dem Monitor erschien ein Greifarm.
„Wann wird es kritisch?“, fragte Brent.
Der Mann am Eingabepult des Elektronenrechners tippte wild. Ein paar Sekunden später hatte die Maschine mit den aktuellen Messdaten und dem mathematischen Modell des Reaktors eine Schätzung abgegeben. „47 Minuten bei Versagen der kompletten Kühlung. Etwa zwei Stunden, wenn die Systeme keine weiteren Störungen zeigen.“
Charlotte starrte gebannt auf den Reaktorkern auf dem Schirm.
Walker näherte den mechanischen Arm - ein von ihm konzipiertes, neuartiges Sicherheitssystem, das in diesem experimentellen Reaktor das erste Mal eingesetzt wurde - dem ersten verkanteten Steuerstab. Der Greifer schloss sich um die Spitze des Stabes und fuhr nach oben. Doch der Stab rutschte aus der Umklammerung. Walker wiederholte das Manöver, und diesmal konnte er den Steuerstab ein wenig anheben, bevor er abrutschte. Der Stab fiel nach unten und verkantete erneut, aber deutlich tiefer.
„Verdammt!“, fluchte Walker und wischte sich über die Stirn. „Das Bild auf dem Schirm ist zu klein, der Winkel zu schräg. Ich muss direkte, gerade Sicht haben. Dann geht es schneller mit dem Arm.“
„Genehmigt“, bestätigte Brent, und Walker drückte auf einen großen Schalter am Rand des Schreibtisches.
Breite Bleiplatten, welche radioaktive Strahlung vollständig abblockten, fuhren mit lauten Getöse zur Seite. Das dahinter zum Vorschein kommende große Fenster aus Spezialglas, das nur für begrenzte Zeit einen ausreichenden Strahlenschutz gewährleistete, erlaubte nun vom Kontrollraum aus einen direkten Blick auf den Reaktordruckbehälter, an dessen Vorderseite im mittleren Drittel die Abdeckung über einem Fenster im Gehäuse ebenfalls zur Seite gefahren wurde. Die Brennelemente, Steuerstäbe und der Roboterarm waren gut zu sehen. Sie befanden sich ein wenig tiefer als der Boden des Kontrollraums.
Walker drehte sich vom Bildschirm weg und blickte mit zusammengekniffenen Augen durch das große Wandfenster. Er nahm seine Arbeit wieder auf und steuerte den Roboterarm mit erhöhter Geschwindigkeit zu den Problemstellen. Doch er vermochte nur wenige Steuerstäbe komplett in die Röhren einzudrücken. Das Verfahren funktionierte, es war nur viel zu langsam.
„Der Arm kann nicht genügend Kraft aufbringen, um die Verkantung bei einem einzigen Griff zu lösen“, murmelte Walker. Doch er versuchte es verbissen weiter.
„Abbruch!“, befahl Brent schließlich. „Es sind zu viele. Wir haben nur noch dreißig Minuten im worst case.“
Brent klappte die Plastikabdeckung des Katastrophenknopfes hoch und betätigte den roten Schalter. Sofort begannen die vielen gelben Lampen in sämtlichen Gebäuden zu rotieren. Überall plärrte eine metall verzerrte Bandaufzeichnung aus den Lautsprechern: „Sofortige Evakuierung nach Notfallplan.“
Adrenalin durchströmte Charlottes Körper. Nun wurde es ernst. Die Wissenschaftler verließen den Kontrollraum. Charlotte hielt sich in Walkers Nähe, doch der Mann benötigte im Moment keine Hilfe.
Sie überlegte blitzschnell und wägte ab. Noch blieben 29 Minuten, bis die Temperatur kritisch wurde, und Wasserstoffexplosionen drohten. Wahrscheinlich hatte sie sogar noch mehr Zeit, denn, wie ein rascher Blick auf den Überwachungsmonitor zeigte, arbeitete das Kühlsystem 1 aktuell mit 45% seiner Leistung.
Es gab zwei Optionen für sie.
Sie konnte dem Notfallplan folgen, das Gebäude verlassen und mit einem der Transporter oder dem Hubschrauber aus dem Tal evakuiert werden. So wie alle anderen auch.
Oder sie konnte versuchen, das, was Walker mit dem mechanischen Arm nicht schnell genug durchführen konnte, mittels ihrer Zeichengabe rascher zu erledigen.
Die Entscheidung war schnell getroffen, obwohl es faktisch Befehlsverweigerung war. Aber Charlotte sah eine realistische Möglichkeit, die drohende Katastrophe zu stoppen, oder zumindest abzuschwächen. Sie kannte den Ablauf der Evakuierung im Detail und wusste, dass der letzte Transporter in genau 18 Minuten vom südlichen Sammelpunkt abfahren würde. Es sollte also für ein oder zwei Versuche reichen.
Sie blieb zurück und war wenig später alleine im Kontrollraum. Die Schritte auf dem Gang verklangen, und dann herrschte Stille. Charlotte war nun die einzige Person im Reaktorgebäude.
Sie holte den Geigerzähler aus ihrem Gepäck und legte ihn mit dem Zählrohr in Richtung Sichtfenster zum Reaktorraum auf den Messtisch. Die Skala schlug nur schwach aus. Die Strahlung lag im Normbereich. Die Abschirmung des bleidotierten Glases im Zusammenspiel mit der Ummantelung des Reaktorkerns funktionierte also noch in ausreichendem Maße.
Charlotte zog Block und Stift aus der Seitentasche der Uniformjacke und stellte sich so dicht wie möglich an die Sichtscheibe. Das seltene Klacken des Geigerzählers war beruhigend. Sie schaute direkt durch den transparenten Bereich des Reaktorkerns auf die Steuerstäbe. Das zirkulierende Druckwasser und kleine Dampfblasen ließen die Konturen leicht verschwimmen. Charlotte zeichnete die dreidimensionale Anordnung einer Gruppe von etwa einem Dutzend Stäben auf ein Blatt. Es dauerte weniger als eine Minute, dann legte sie das Papier auf den Messtisch, signierte es und erhöhte langsam, den Blick auf die realen Steuerstäbe gerichtet, den mit der flachen Hand ausgeübten Druck.
Noch geschah nichts.
Ihre Lippen waren vor Anspannung fest zusammengepresst, und die Halsschlagader pochte stark. Charlotte lehnte sich mit dem ganzen Oberkörper auf die rechte Hand und presste, so stark sie konnte.
Nichts.
Sie ballte die Faust und schlug, erst mit dosierter Kraft, dann immer stärker auf die Zeichnung. Es dröhnte laut im Kontrollraum, und der Messtisch erzitterte leicht.
Doch die realen Objekte reagierten überhaupt nicht.
Charlotte blickte auf die Uhr. Noch 14 Minuten, bis sie das Gebäude verlassen musste, um noch den letzten Transport aus dem Tal heraus zu erwischen.
„Verdammt! Warum klappt das nicht? Irgendetwas hätte geschehen müssen, und wenn auch nur einer der Stäbe zerbröselt und durch den Kern geflogen wäre!“
Sie wischte sich mit dem Unterarm über die Stirn. Sie schwitzte gewaltig. Das rechte Auge brannte fürchterlich, als ein Schweißtropfen hineinfloss. Charlotte blinzelte ein paar Mal und konzentrierte sich auf das, was ihr linkes Auge sah. Sie kontrollierte Zeichnung und Realität, konnte aber keinen Fehler entdecken. Das Bild hätte funktionieren müssen! Wieder wischte sie sich mit dem Ärmel über das Gesicht.
Und da bemerkte sie, was anders war als sonst.
Aus Erfahrung hatte sie bei solch starken Schlägen auf eine Zeichnung erwartet, dass ihr Körper die übliche Reaktion auf eine hohe Kraftübertragung zeigte. Eigentlich hätte ihre Nase bluten müssen.
Doch das tat sie nicht.
Und dafür konnte es nur einen Grund geben.
„Es gibt keine Kopplung zwischen Zeichnung und dem Kern. - Warum nicht? Ich sehe das Ziel klar vor mir. Die Anordnung der Stäbe ist optisch eindeutig. Die Entfernung ist gering. Es passt alles. Und diese zwei Fensterscheiben können...“
Ein Gedanke blitzte in ihrem Verstand auf.
Es waren Fensterscheiben, ja. Aber Strahlenschutzfenster! Spezialglas, dessen Aufgabe es war, hochenergetische Teilchen und Strahlung zu blockieren.
Und ihre Pyramidenzellen sendeten etwas mit hoher Energie aus! Die blauen Ringe um ihre Augen!
„Mein Blick dringt nicht hindurch!“, rief Charlotte.
Und nach dieser Schlussfolgerung war der nächste Schritt klar.
„Ich muss hinein in den Reaktorraum.“
Sie blickte auf die Anzeige des Überwachungsmonitors. Die Strahlenbelastung im Reaktorraum war gestiegen. Die Abschirmung des Druckbehälters alleine konnte die entstehende Strahlung nicht mehr komplett zurückhalten.
Charlotte rannte zu dem großen Schrank an der linken Wand, riss die Schiebetüren zur Seite und nahm einen Strahlenanzug heraus. Dieser würde sie für einige Minuten ausreichend schützen. Sie clippte ihre Plakette von der Uniformjacke ab und befestigte sie innen im Visier an der dortigen Halterung am rechten Rand. Rasch zog sie die Schutzkleidung an, überprüfte die Sauerstoffversorgung und verschloss den Anzug hermetisch.
Dann trat sie in die Schleuse, die im Normalbetrieb nur bei abgeschaltetem Kern von Wissenschaftlern oder Wartungspersonal betreten werden konnte. Jetzt, im Katastrophenfall, allerdings waren sämtliche Türsicherungen außer Kraft gesetzt. Ungeduldig wartete Charlotte, bis sich die Innentür geschlossen und die Außentür zum Reaktorbereich endlich geöffnet hatte.
Mit drei Schritten war Charlotte am Druckbehälter und näherte das Visier dem Sichtfenster. Sie musste eine Armlänge Abstand halten, denn die Temperatur der Außenhülle des Kerns war trotz der Isolierung hoch.
Sie konzentrierte sich auf dieselbe Gruppe von Steuerstäben, die sie bereits zuvor gezeichnet hatte. Ihre rechte Hand flog in höchster Eile über das Papier, und das Bild war in Rekordzeit fertig.
Die Sichtscheibe im Kern war aus dünnerem Glas gefertigt als diejenige zum Kontrollraum. Und die erhöhte Strahlung hier legte nahe, dass dieses Spezialglas die aktuelle Strahlungsmenge nicht vollständig abblocken konnte. Charlotte hoffte inständig, dass die Energie ihres Blicks ausreichend stark in die andere Richtung hindurchkam.
Charlotte legte die Zeichnung auf den Boden ab und presste ihre Hand mit steigender Kraft darauf. Nach ein paar Sekunden reagierte ihr Körper. Blut spritzte aus ihrer Nase und verschmierte die untere Hälfte des Visiers. Charlotte ignorierte es, sprang auf und schaute durch das Sichtfenster in den Kern.
Die realen Gegenparts der gezeichneten Steuerstäbe steckten komplett in den Führungsröhren!
Vermutlich waren einige an den Verkantungsstellen durchgebrochen, doch das spielte keine Rolle. Wichtig war nur, dass die Cadmiumstäbe nun ihre bremsende Wirkung ausüben konnten.
Charlotte wandte sich der nächsten Gruppe von verkanteten Stäben zu. Wieder huschten ihre Finger über ein neues Blatt Papier, und wieder war das Bild in kürzester Zeit fertig. Die Stäbe reagierten wie erwünscht.
Bis auf einen. Dieser brach ab, doch das lange, obere Ende rutschte nicht in die Röhre hinein, sondern blieb auf dem Deckel des Brennelementes liegen. Charlotte glaubte, eine leichte Zitterbewegung zu sehen. Vielleicht schob das Wasser, das durch den Druckbehälter gepumpt wurde, den Stab hin und her.
Mist!, fluchte sie. Doch sie sah keine schnelle Möglichkeit, dieses Bruchstück in das Loch der Führungsröhre zu schieben. Dafür hätte sie mehrere Zeichnungen in Folge benötigt.
Also wandte sie sich der nächsten Stabgruppe zu. Nach und nach verschwanden diese in ihrer Zielposition.
Dann hatte sie alles getan, was sie tun konnte. Insgesamt waren elf der rund fünfzig Problemstäbe abgebrochen und lagen oder schwammen irgendwo im Kern herum. Die anderen aber fingen hoffentlich genügend Spaltungsneutronen ein, um die Zerfallsrate ausreichend zu senken.
Hoffentlich reicht das, dachte Charlotte. Und hoffentlich waren sie noch rechtzeitig in der Notabschaltungsposition angekommen.
Charlotte rannte zur Schleuse. Und noch während sie hineinsprang, zog sie die Außentür zu. Mit erhobenen Armen drehte sie sich vor den Strahlendetektoren, die auf unterschiedlichen Höhen angebracht waren.
Sie atmete auf, als sie das Ergebnis sah.
Ihr Anzug war sauber. Der Reaktordruckbehälter war demzufolge dicht, und noch war kein radioaktives Material in die Umgebung gelangt. So unterbrach Charlotte den Luftaustausch und verzichtete auf die Dekontaminationsdusche. Sie hieb auf die Notentriegelung und riss die Tür auf. Dann sprang sie in den Kontrollraum, öffnete hastig den Schutzanzug und stieg in höchster Eile heraus.
Die Plakette nahm sie aus dem Visier heraus und befestigte sie wieder an ihrer Uniform.
Mittelgelb, mit leichter Tendenz zum dunklen Ende.
Über zwei Einheiten intensiver als vor - sie schaute auf die Uhr - sieben Minuten.
Eine Strahlenexposition, die bei entsprechender Sensitivität durchaus schon unmittelbare Folgen haben konnte. Aber Charlotte war jung und gesund. Ihr Körper würde mögliche Zellschäden reparieren können.
Sie warf einen Blick auf die Temperaturanzeige des Kerns. Diese blinkte noch immer, aber der Wert hatte sich in den letzten Minuten nur wenig verändert, wenn auch nach oben. Allerdings arbeitete das Pumpsystem nur noch mit 37% seiner Maximalleistung.
Charlotte schulterte den Notfallrucksack, nahm den Geigerzähler sowie Block und Stift und rannte aus dem Kontrollraum auf den Hauptgang hinaus.
Noch 5 Minuten bis zur Abfahrt.
Ihre Schritte hallten laut in dem menschenleeren Korridor. Keuchend erreichte sie schließlich den nächstgelegenen Ausgang, folgte dem Zickzack und stolperte hinaus ins Freie. Charlotte wandte sich nach rechts und lief nach Süden. Als sie um das Gebäude herumgelaufen war, sah sie schon den grünen Militärjeep in etwa einhundert Metern Entfernung - das einzige Fahrzeug, das noch im Tal wartete. Sie erhöhte das Tempo, als es nur noch geradeaus ging.
Doch sie hatte erst die Hälfte des Weges zurückgelegt, als sie einen lauten Knall hörte.
Sofort warf sich Charlotte auf den Boden, machte sich so klein wie möglich, richtete den Kopf vom Reaktorgebäude weg, sodass der Rucksack als Schutz dienen konnte, und legte die Hände an die Ohren.
Wenig später folgte ein zweiter Knall - infernalisch laut.
Fragen schossen Charlotte durch den Verstand.
Wasserstoffexplosionen! Aber warum so früh? Laut den Berechnungen des Elektronengehirns hätte es noch gar nicht zu diesen kommen dürfen. Waren elf fehlende Steuerstäbe zu viel gewesen? Waren sie zu spät eingefahren? Oder hatte das Kühlsystem vollständig versagt? Würden weitere Explosionen folgen?
Nach einer Minute sprang sie vom Boden auf und blickte zum Jeep. Ein Soldat stand vor der Fahrertür und winkte ihr hektisch zu. Seine Lippen bewegten sich, doch Charlotte konnte ihn nicht verstehen. Sie hörte nur ein konstant lautes, hohes Fiepen in den Ohren. Für den Moment war sie taub.
Sie rannte zu dem Jeep und sprang auf den Beifahrersitz.
Der Soldat, ein Mann in den Zwanzigern mit den typischen kurzen Haaren und einem kantigen Gesicht, bewegte erneut die Lippen, doch Charlotte schüttelte den Kopf, deutete auf ihre Ohren und sagte bewusst leise: „Charlotte Bernstedt, Sanitätsreserve.“
Sie nahm eine Schachtel mit Jodtabletten aus ihrem Rucksack und gab dem Soldaten eine. Sie selbst nahm das vorbeugende Strahlenschutzmittel ebenfalls ein.
„John Lovell, Sicherheit“, las Charlotte von den Lippen ab. Der Leutnant, wie sie an seinen Rangabzeichen erkannte, hatte besonders langsam und deutlich gesprochen.
Er holte die Kamera und den Geigerzähler von der Ablage unter der Windschutzscheibe. Die Strahlung lag hier im unteren Bereich. Es war unklar, ob die Explosion zu einer Freisetzung radioaktiven Materials geführt hatte. Doch Lovell wollte dies herausfinden.
„Schutzanzug anlegen - Erkundung - Rundfahrt nach Explosion“, erläuterte der Offizier das weitere Vorgehen.
Charlotte nickte. Lovell war ihr vom Rang her übergeordnet. Auch wenn sie bei ihrem Aufenthalt neben dem Druckbehälter einer hohen Dosis Strahlung ausgesetzt gewesen war, ihre und Lovelss Plaketten erlaubten einem zeitlich begrenzten weiteren Aufenthalt. Colonel Banks brauchte möglichst aktuelle Angaben, wie es hier aussah, um geeignete Eindämmungsmaßnahmen treffen zu können. Und je früher er diese Informationen erhielt, desto besser.
Lovell startete den Jeep. Mit größtmöglichem Abstand zum Reaktorgebäude fuhr er die paar Hundert Meter über den asphaltierten Platz zum Gebäude der Sicherheit. Charlotte und er sprangen aus dem Wagen heraus und rannten in den Strahlenraum, den sie vor wenigen Tagen bei Chandlers Fehlalarm bereits genutzt hatte. Rasch waren die Plaketten im Visier angebracht und die Strahlenschutzanzüge verschlossen.
Zurück im Jeep nahm Charlotte die Kamera und photographierte das Reaktorgebäude. Auf dieser Seite sah alles unbeschädigt aus. Vielleicht würden Vergrößerungen der Bilder Risse in der Betonhülle zeigen, doch auch Charlottes scharfer Blick konnte nichts Ungewöhnliches erkennen.
Doch das änderte sich, als sie die erste Hälfte des Gebäudes umfahren hatten. An der Nordseite sahen sie die Bescherung.
Eine Außentür war regelrecht aus ihrer Verankerung gerissen worden und lag einige Meter vom Containment entfernt flach auf dem Boden. Die Angeln hingen schief im Beton. Das Schlimmste aber war, dass die beiden Soldaten einen ungehinderten Blick in das Gebäude hinein hatten. Die Explosion hatte die Innenmauer zerstört und sich geradlinig an der Außentür ausgetobt. Die Zickzackbauweise hatte hier zumindest nicht den erhofften Effekt gehabt.
Und der Ausschlag des Geigerzählers ging bis hoch in den roten Bereich. John fuhr sofort weiter, und die Radioaktivität sank. Noch lag das ausgebrachte Material genau in Explosionsrichtung. Aber es würde sich verteilen.
Hier ist alles verseucht!, dachte Charlotte. Und die Nacht und die Kälte kommen erst noch. Dann wird der Luftausstrom aus dem heißen Inneren noch zunehmen und alles aufwirbeln.
Sie wandte sich an Lovell und erklärte kurz ihre Einschätzung.
Der Leutnant war derselben Ansicht. „Wir können die Tür nicht hochwuchten und vor das Loch stellen. Dafür genügen zwei Leute nicht.“
Charlotte wusste das. Und auch mit ihrer Gabe konnte sie in dieser Situation nichts ausrichten. Es gab keine Möglichkeit, ein Bild zu zeichnen, das darauf applizierten Druck in eine Bewegung nach oben umwandelte. Dazu hätte sie tiefer als die Tür stehen müssen. Doch ein Loch im Boden gab es weit und breit nirgends.
Aber sie hatte eine andere Idee. „Wir fahren den Jeep vor das Loch. So nahe wie möglich. Unter den Wagen legen wir Decken und was wir sonst noch finden. Für zwei Minuten ist es direkt am Gebäude vertretbar. Wir haben die Anzüge, und die wandnahe Jeeptür bleibt geschlossen.“
Leutnant Lovell überdachte den Vorschlag kurz und stimmte ihm schließlich zu. Er wendete den Jeep, hielt dann direkt auf das Betoncontainment zu und fuhr langsam rückwärts zur zerstörten Stelle. Nur noch wenige Meter entfernt, lenkte er leicht ein, um den Wagen so nahe wie möglich an die Mauer zu steuern. Endlich stand der hintere Teil mit der grünen Plane unmittelbar vor dem Loch, das nun vollständig abgedeckt war. Charlotte öffnete die Beifahrertür, zog ihren Rucksack heraus und lief zum Heck. Sie kramte Decken im Laderaum zusammen, warf sie auf den Boden und schob sie mit den Füßen unter den Jeep. Lovell war unterdessen ebenfalls auf der Beifahrerseite ausgestiegen und wuchtete eine Kiste mit kleinerem Werkzeug herunter. Auch diese verschwand unter dem Wagenboden.
All dies bremste den Luftausstrom und bedeutete einen Zeitgewinn.
Charlotte schulterte den medizinischen Rucksack, Lovell sein Feldgepäck, und dann liefen beide dicht an der Betonmauer entlang um das Gebäude herum. Als sie auf der gegenüberliegenden Seite angekommen waren, deutete Lovell nach Osten.
„Wir nehmen den Bergpfad.“
Wieder nickte Charlotte. Boote und Hubschrauber hatten das Tal bereits verlassen, wie es der Evakuierungsplan vorsah. Mit dem Jeep wären sie die Versorgungsstraße zum anderen Ende des Tals und durch den Tunnel gefahren, aber zu Fuß war der mäandernde Bergweg die bessere Wahl, denn die Gesteinsmassen würden sie in Kürze schon vor der Strahlung und auch vor weiteren Explosionen schützen.
Sie überquerten den Fluss an der nächstgelegenen Brücke und kamen dem Fuß des höchsten Berges immer näher. Das Fiepen in Charlottes Ohren hatte nachgelassen,, und sie konnte bereits wieder laute Umgebungsgeräusche unterscheiden. Das Knirschen der Stiefel auf dem steiniger werdenden Boden lag gerade so über der Hörschwelle.
Die Strahlenbelastung sank kontinuierlich, und schließlich war ein Wert erreicht, der es erlaubte, sich der Schutzanzüge zu entledigen. Sie würden nun deutlich schneller vorankommen.
Der Leutnant zog das Funkgerät aus seiner Jacke und sendete eine kurze Nachricht: „Lovell an Sammelstelle. Bitte kommen!“ Doch aus dem Empfänger drang nur Rauschen. John Lovell wiederholte den Ruf, erhielt aber weiter keine Verbindung.
Die Schutzanzüge ließen sie im spärlichen Gras liegen und liefen weiter. Noch konnten sie das Reaktorgebäude in ihrem Rücken sehen.
Es war merklich kühler geworden. Die heiße Reaktorluft würde durch die Tür pfeifen, um den Jeep herum, und der Bereich direkt davor würde mit der Zeit noch stärker kontaminiert werden. Der Talboden war sehr windarm, einer der Gründe, warum die Forschungsstation genau hier gebaut worden war. Aber er war nicht windstill. Je nach Wetterlage konnte der radioaktive Fall-out in alle Richtungen getragen werden. Doch die hohen Berge stellten eine natürliche Barriere dar. Sie würden eine Kontamination des Gebietes außerhalb stark verlangsamen. Aber es drohte weiter die Gefahr erneuter Explosionen. Vielleicht würde der Betonpanzer nun, da er an einer Stelle bereits zerstört war, keinen Widerstand mehr leisten. Es war ohnehin schon ein Wunder, dass keine größeren Schäden entstanden waren.
Auch Lovell schien Ähnliches zu befürchten, wie sein verkniffenes Gesicht und das hohe Tempo, das er vorlegte, verrieten. Charlotte konnte gerade noch mithalten, denn der Leutnant war mehr als einen Kopf größer als sie, und seine Schritte waren deutlich länger als die ihren.
Keuchend und schwitzend erreichten sie schließlich den Fuß des Berges und folgten dem schmalen Pfad, der nun stark ansteigend in die Höhe führte. Rechts lag der Berg, links der immer steiler und tiefer werdende Abgrund.
Die Minuten vergingen, und der Abstand zum Reaktor stieg. Schließlich waren sie um die erste Biegung herum und damit aus direkter Sichtlinie zum Reaktorgebäude. Aber die gefährlicher werdende Umgebung und die zunehmende Dunkelheit der beginnenden Nacht zwangen Lovell das Tempo deutlich zu drosseln. Er holte zwei Stirnlampen aus seinem Feldrucksack und reichte Charlotte eine. Schweigend marschierten sie weiter. Die Lichtkegel der Lampen wanderten im regelmäßigen Wechsel von links nach rechts und zurück über den Boden, um den häufigen und nicht gerade kleinen Steinen ausweichen oder über sie hinwegsteigen zu können.
Steinbrocken rieselten an der Bergwand zur Rechten herunter, wurden aber von den engmaschigen Fangnetzen in ihrer Bahn so gelenkt, dass sie niemanden verletzten.
Plötzlich aber grummelte es laut in der Höhe, und erneut prasselten Steine herunter. Lovell schrie besorgt: „Schneller! Das klingt nach etwas Größerem.“
Charlotte hatte die Worte verstanden. Ihr Gehör normalisierte sich weiter. Sie löste die rechte Hand vom Schultergurt ihres Rucksacks, den sie die ganze Zeit gehalten hatte, um das Gewicht auf ihrem Rücken etwas zu verringern. Ihr Körper spannte sich, und sie wappnete sich für einen möglichen Sturz, der bei dem höheren Tempo immer wahrscheinlicher wurde, denn die Stiefel rutschten gelegentlich über Steinbrocken hinweg. Mit höchster Konzentration lief sie an der Bergwand entlang, den Kopf leicht nach links gedreht, sodass sie Pfad und Abgrund gleichermaßen im Blick hatte.
Wieder prasselte etwas unter dem Fangnetz herunter. Mehrere Brocken knallten unsanft auf Charlottes rechte Körperseite. Ein unterdrückter Schmerzensschrei entfuhr ihr. Auch Lovell hatte mit dem Steinschlag zu kämpfen, wie sein Stöhnen verriet.
Der Lärm aus der Höhe, der nun von vorne zu kommen schien, nahm zu.
„Bernstedt! Zurück!“, befahl Lovell plötzlich.
Charlotte stoppte, doch ihre Stiefel rutschten. Geistesgegenwärtig warf sie ihren Körper nach hinten, prallte gegen die Bergwand und konnte den Sturz stoppen. Sie drehte sich um und lief zurück. Lovell folgte ihr - doch plötzlich rissen die Fangnetze.
Stein um Stein stürzte zwischen den beiden Soldaten herab. Manche zersplitterten auf dem Boden. Die kleineren Stücke flogen umher. Charlotte riss ihre Arme hoch, um das Gesicht zu schützen. Aber sie hatte Glück. Der Steinschlag fand nur in ihrem Rücken statt, und da schützte sie der Rucksack.
Nach einer Minute hörte das Prasseln auf.
„Lovell!“, rief Charlotte den Pfad hinauf. „Sind Sie verletzt?“
Sie lauschte in die Dunkelheit hinein. Es dauerte ein paar Sekunden, bis der Leutnant mit schwacher Stimme antwortete: „Nicht direkt.“ Ein keuchender Atemzug war zu hören. „Aber mein Brustkorb... fühlt sich... eng an.“
Herzinfarkt!, dachte Charlotte alarmiert. Über das Wie und Warum eines Herzschlags bei einem Soldaten, der vor seiner Stationierung im Tal ebenfalls einen Gesundheitscheck absolviert und offensichtlich bestanden hatte, dachte sie in dieser Situation nicht nach. Sie musste helfen. Es kam auf jede Minute an.
„Ich bin gleich bei Ihnen“, rief sie. „Legen Sie sich flach auf den Boden. Öffnen Sie Ihre Uniform und atmen Sie ruhig und tief.“
Charlotte lief zur Unglücksstelle, doch eine Unmenge an Steinen, manche so groß wie ein Kühlschrank, versperrten ihr den Weg. In großen Sprüngen huschte der Kegel ihrer Stirnlampe über das Hindernis. Mindestens sechs Meter musste sie klettern. Charlotte nahm den Rucksack ab und warf ihn auf den Geröllberg. Dann kletterte sie auf den ersten Stein.
„Lovell, liegen Sie?“, fragte sie und kletterte ein Stück weiter. Sie lehnte sich an die Bergwand, zog den Rucksack zu sich, wuchtete ihn auf die andere Seite und legte ihn wieder ab. Ihr Gepäck war schwer, und ohne würde sie es sicherlich schneller hinüberschaffen. Aber sie benötigte die Medikamente darin. Und ein Herumsuchen, um nur das Notwendigste mitzunehmen und den Rest später zu holen, wenn Lovell versorgt war, würde viel Zeit kosten.
„Lovell?“, rief Charlotte erneut, doch der Leutnant antwortete nicht mehr.
Ist er bewusstlos?, fragte sie sich. Schlägt sein Herz noch? Atmet er selbsttätig?
Sie wusste nicht, wie lange der Leutnant die Luft anhalten konnte, war sich aber sicher, dass er noch ein, zwei tiefe Atemzüge gemacht hatte, bevor er möglicherweise ohnmächtig geworden war. Zwei, vielleicht drei Minuten hatte sie Zeit, dann musste sie spätestens Notfallmaßnahmen durchführen, oder der Soldat würde sein Leben verlieren.
Doch in dieser Zeit konnte sie es unmöglich über das Steinhindernis schaffen. Es war nun stockdunkel, und zwischen den Steinen klafften Lücken. Die größeren musste sie durchklettern, und wenn ein Bein in einer der schmaleren Spalten hängenblieb, konnte sie sich den Fuß brechen. Und dann war Lovell mit Sicherheit verloren. Charlotte leuchtete nach vorne, wo sie den Leutnant vermutete. Er lag auf dem Rücken, die Arme neben sich gelegt, die Uniformjacke offen. Sein Feldrucksack lag neben ihm.
Sie musste es auf eine andere Art als durch Klettern versuchen.
Charlotte nahm Block und Stift aus ihrer Tasche und zeichnete Lovells Oberkörper: die Messplakette unter der linken Schulter, die Rangabzeichen, den Schnitt der Uniform und die Umrisse der Taschen. Nur 25 Sekunden benötigte sie, dann riss sie das Blatt ab und signierte es mit zitternden Händen. Sie nahm es zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand, presste die Finger rhythmisch zusammen und ließ wieder los. Die Kopplung würde diese Kraft auf Lovells körper übertragen und seinen Brustkorb im selben Rhythmus eindrücken.
Ob diese Fernherzdruckmassage die richtige Entscheidung war, konnte Charlotte nicht sagen, denn sie wusste nicht, ob das Herz seine Funktion eingestellt hatte oder nicht. Aber sie konnte auch nicht warten, bis sie bei dem Leutnant angekommen war.
Mit dem Ellenbogen des rechten Arms stützte sie sich an der Bergwand ab, während sie weiter das Papier presste und losließ. Vorsichtig, aber so schnell sie glaubte, es vertreten zu können, kletterte sie weiter. Mit der linken Hand riss sie den Notfallrucksack förmlich über die Steine. Es schrammte laut, als das Material an einer scharfen Kante aufgerissen wurde. Charlotte setzte den nächsten Schritt, doch ihr linker Stiefel glitt ab. Sofort riss sie das Knie hoch und streckte das Bein voll aus. Die Sohle des Stiefels knallte gegen einen größeren Stein, und Charlotte schob die Hüfte nach vorne, um den Spagat zu stabilisieren. Schweiß lief ihr in Strömen über das Gesicht, aber sie hatte den Sturz gerade noch abfangen können. Verbissen kletterte sie weiter und hatte es schließlich geschafft.
Sie stürzte zu Lovell, holte tief Luft und beatmete den weiter reglos daliegenden Soldaten sofort durch die Nase. Währenddessen legte sie zwei Finger auf seine Halsschlagader und versuchte, den Puls zu spüren.
Doch da war nichts.
In fieberhafter Eile führte Charlotte nun eine direkte Herzdruckmassage durch. Dreißig Mal presste sie Lovells Brustkorb ein und beatmete danach erneut. Nach weiteren dreißig schnellen Pressstößen lief sie zu ihrem Rucksack, zerrte ihn zu Lovell und holte eine Adrenalinspritze heraus. Sie injizierte das anregende Mittel und hoffte, dass es Lovells Kreislauf unterstützte und es noch nicht zu spät war. Die Notfallmaßnahmen setzte sie ohne Pause fort - Beatmen, Massieren, Beatmen, Massieren.
Parallel dazu griff sie nach dem Funkgerät und rief keuchend hinein: „Bernsted und Lovell an Sammelstelle. Medizinischer Notfall. Kommen!“
Doch noch immer kam nur Rauschen aus dem Äther. Der Berg schirmte zu stark ab.
Charlotte warf sich den Rucksack verkehrt herum über und trug ihn nun vor der Brust. Sie griff Lovell unter den Achseln und zog ihn, selbst vorwärts gehend, hinter sich her.
Ein Schleppschlitten wäre jetzt hilfreich, dachte sie und lachte trocken auf.
Nach einhundert schnellen Schritten stoppte sie, beatmete zweimal und führte erneut die Druckmassage durch. Sie wollte gerade weitergehen, da schoss ihr durch den Kopf: Die Zeichnung! Verdammt, die ist noch aktiv.
Charlotte lief zum Hindernis zurück und leuchtete den Bereich ab. Es dauerte nicht lange, bis sie das Blatt ausgemacht hatte. Sie riss die Ecke mit ihrer Unterschrift ab und ließ die Fetzen zu Boden fallen. Diese Aktion hatte wertvolle Zeit gekostet. Aber es wäre für Lovell zu gefährlich gewesen, das Bild in aktivierter Form irgendwo herumliegen zu lassen. Falls es noch einmal zu einem Steinschlag kommen sollte und ein Brocken das Blatt traf, könnte der Leutnant auf diese Art sogar erschlagen werden.
Mechanisch lief Charlotte weiter, zog den bewusstlosen Lovell und wiederholte ihre medizinischen Maßnahmen. Sie fühlte immer wieder den Puls, und einmal glaubte sie, ein ganz schwaches Pochen ertastet zu haben.
Charlotte klammerte sich an diesen kleinen Erfolg und machte weiter.
Sie verlor jegliches Zeitgefühl. Mit eiserner Willenskraft hielt sie sich auf den Beinen. Sie keuchte wie verrückt, und nach fünf Schleifen-Beatmen-Zyklen musste sie eine kleine Pause einlegen. Mit pfeifendem Atem hockte sie für ein paar Sekunden auf dem Boden, nahm die wassergefüllte Feldflasche aus dem Rucksack und trank sie halb leer.
Doch Aufgeben war keine Option.
„Nein!“, sagte sie laut. Ihre Stimme verriet absolute Entschlossenheit. Aber ihr Gesicht zeigte, dass sie so langsam an ihre Belastungsgrenze kam. Charlotte griff zum Rucksack, nahm eine weitere Spritze heraus und injizierte sich das Aufputschmittel. Es würde die Erschöpfung übertünchen, sodass sie schneller vorankommen konnte. „Das hier wird nicht dein Ende sein, John Lovell. Das lasse ich nicht zu! Es geht weiter!“
Charlotte klopfte sich mehrfach auf die Wangen, wie es manche Sprinter vor dem Start eines wichtigen Rennens taten. Die Wirkung des anregenden Mittels hatte eingesetzt. Energiegeladen sprang sie auf und machte sich wieder auf den Weg.
Sie wusste nicht, wie oft sie den Zyklus durchlaufen hatte, aber endlich erhielt sie eine Antwort auf ihre Funkrufe.
„Sammelstelle, Sergeant Davies. Berichten Sie!“
„Medizinischer Notfall. Vermutlich Herzinfarkt bei John Lovell, Leutnant der Sicherheit. Ich habe Notfallmaßnahmen eingeleitet.“
„Wir peilen Ihren Standort an. Sprechen Sie weiter!“, erwiderte Davies.
Charlotte berichtete im Detail, beschrieb Lovells Zustand, ihre Flucht und das, was sie im Tal erkundet hatten. Sie erfuhr, dass sie und Lovell die letzten Personen waren, die noch nicht an der externen Sammelstelle warteten.
Wenige Minuten später hörte Charlotte das charakteristische Klopfen der Rotoren eines Hubschraubers und sah bald darauf den grellen Scheinwerfer. Suchend glitt das Licht über die Berge, und schließlich landete die Maschine etwa dreißig Meter höher auf einem gerade ausreichend großen Plateau. Soldaten ließen sich mit Seilen an der Bergwand herab, und Charlotte konnte die Verantwortung für Lovells Leben abgeben.
Der Leutnant und sie wurden per Seilwinde in den Hubschrauber gezogen, der sofort danach Kurs auf das Basislager nahm. Charlotte überreichte dem Kommandanten des Rettungsteams die Kamera mit den Aufnahmen des Reaktorgebäudes.
Der Flug dauerte nicht lange, und nach der Landung nahm Charlotte auf Befehl Colonel Banks' hin eine ausgiebige Dekontaminationsdusche, zog frische Kleidung an und begab sich zu einem anderen Hubschrauber, der nur noch auf sie wartete.
Hoffentlich schafft John es, dachte sie noch, als sie sich auf einen freien Platz im Laderaum der Maschine setzte. Sie schloss den Sicherheitsgurt um die Hüfte, setzte das Headset auf, legte den Kopf in den Nacken - und war Sekunden später eingeschlafen.
Den Flug zum Militärkrankenhaus bekam sie nicht mehr mit. Aber wie Lovell war sie in guten Händen. Und außer einer tiefen Erschöpfung konnten die Ärzte bei Charlotte glücklicherweise nichts Bedrohliches feststellen.
***
Gestützt von einem Pfleger betrat John Lovell auf Krücken den großen Festsaal. Der Leutnant trug Galauniform, wie auch alle anderen Anwesenden im Publikum oder die Mitglieder des Militärmusikkorps. Charlotte lächelte dem Soldaten zu, den sie am Vortag bereits kurz im Hospital besucht hatte. Lovell hob einen Arm zur Begrüßung. Charlotte wusste, dass die Rehabilitationsmaßnahmen erste Erfolge zeigten. Gehen und Sprechen waren John in bescheidenem Maße wieder möglich. Doch wie weit die Genesung gehen und ob die Lähmung der linken Gesichtshälfte sich zurückbilden würde, konnten die Ärzte nicht sicher sagen. Es war möglich, dass die Mangelversorgung des Gehirns mit Sauerstoff bei seinem Infarkt in den Bergen einen hohen Preis nach sich zog.
Die Deckenbeleuchtung wurde gedimmt. Nur die kleine Bühne am Saalende erstrahlte in hellem Licht. Der Vorsitzende der Untersuchungskommission, Dr Riverdale, trat zum Rednerpult.
„Meine Damen und Herren, nach Rücksprache mit der Regierung haben wir uns dazu entschlossen, zuerst Sie als die unmittelbar Betroffenen über die nun gesicherten Ergebnisse der zweimonatigen Untersuchung zu unterrichten.“
Er ließ seinen Blick über die gefüllten Zuschauerreihen schweifen. „Sie alle können den Bericht später in Gänze einsehen, ich möchte Ihnen vorab nur eine kurze Zusammenfassung geben.
Ursächlich für das Reaktorunglück waren Materialfehler sowohl in der Absenkvorrichtung der Steuerstäbe als auch in beiden Kühlsystemen. Ein solches Mehrfachversagen auch noch redundanter Systeme war in der Konstruktionsphase als unmöglich eingestuft worden. Ein katastrophaler Fehler, wie wir heute wissen.
Dass es nur zu einer einzigen starken Wasserstoffexplosion gekommen war, lag mit hoher Wahrscheinlichkeit daran, dass die Steuerstäbe bei Erwärmen des Reaktors ihre Verkantung vermutlich wieder gelöst und aufgrund der Notfallabschaltung doch in ihre Zielposition gefallen waren. Das wird sich jedoch nicht mehr mit letzter Sicherheit klären lassen.
Die Geschwindigkeit, mit der weiteres radioaktives Material in die Umwelt gelangte, konnte durch das beherzte Eingreifen Ihrer Kameraden Bernstedt und Lovell so stark verlangsamt werden, dass die Experten, nach Eindämmen der Kernschmelze durch mehrmalige Flutung des Reaktors mit Flusswasser, eine vollständige Dekontamination des Tals noch in diesem Jahr für möglich halten. Die Messungen außerhalb des Tals waren durchweg im Normbereich. Eine besonders windarme Wetterlage hat uns diesbezüglich geholfen.
Die Kommission empfiehlt für zukünftige Nuklearversuche zwei Maßnahmen: Kritische Sicherheitssysteme müssen dreifach angelegt und regelmäßig für längere Zeit im echten Betrieb eingesetzt werden. Außerdem empfehlen wir auf Reaktorsysteme umzusteigen, in welchen das Spaltmaterial mit einem inerten Träger verschmolzen ist, der sich bei Erwährmung stark ausdehnt und so die Rate des Zerfalls auf rein passiv-physikalischem Weg senkt.“
Wieder blickte er in die Zuschauerschar, doch es blieb ruhig. Riverdale wandte sich an den Premierminister, der bis dahin am Rand der Bühne gewartet hatte. Dieser nahm den Bericht entgegen und dankte mit wenigen Worten. Dann übergab er bereits an den Generalgouverneur.
„Ich habe die große Ehre, zwei Auszeichnungen zu verleihen“, sagte der Vertreter der englischen Königin.
„Leutnant John Lovell erhält die Medaille der militärischen Tapferkeit. Das Verschließen des Explosionslochs sowie die Informationsgewinnung direkt nach der Explosion haben die Eindämmungsmaßnahmen wesentlich erleichtert.“
Lovell erhob sich aus seinem Stuhl. Der Pfleger hielt sich zurück und lief nur neben Lovell, der die Strecke bis zu Bühne alleine zurücklegte. Nur die drei Stufen hinauf ließ er sich helfen. Gerührt nahm er die Medaille, die auf blauem Samt lag, entgegen, und trat einen Schritt zurück.
„Stabsunteroffizierin Charlotte Bernstedt erhält das Viktoria-Kreuz. Wie sie ihren lebensgefährlich verletzten Kameraden unter größten Mühen den Bergfad entlang transportiert hat - und das unter Anwendung medizinischer Notfallmaßnahmen - ist einzigartig.“
Auch Charlotte, die in der vordersten Reihe saß, stieg zur Bühne hinauf. „Vielen Dank“, sagte sie nur, als sie die höchste Auszeichnung des Landes entgegennahm.
„Außerdem freut es mich, Ihnen Ihre Beförderungsurkunde zum Sergeant überreichen zu dürfen. - Und wenn Sie mir diese Bemerkung erlauben, Miss Bernstedt. Möchten Sie nicht von der Reserve in den aktiven Dienst wechseln?“
Charlotte lächelte. „Ich werde darüber nachdenken, Sir.“
Dann trat sie zur Seite neben John Lovell. Beide lauschten ergriffen, als die Nationalhymne gespielt wurde.
John wandte den Kopf zur Seite und flüsterte ihr ins Ohr: „Danke.“
Und da erlaubte sich Charlotte, obwohl sie in einem Raum voller Militärs war, für welche Selbstbeherrschung zur zweiten Natur geworden war, einen Moment der Schwäche. Ihre Augen füllten sich mit Wasser, und Tränen der Rührung rannen ihr die Wangen herunter.
ENDE
Charlottes Blick 6 - Außer Kontrolle
(eine Geschichte basierend auf dem Charakter ‚Vickie‘ der TV-Serie ‚Haven‘ von 2010-2015)
Klappentext: (eine Geschichte basierend auf dem Charakter ‚Vickie‘ der TV-Serie ‚Haven‘ von 2010-2015)
Im militärischen Forschungsstützpunkt verlaufen die ersten Wochen von Charlottes Dienst ohne besondere Ereignisse. Routine bestimmt den Tag. Aber dann gerät das große Experiment, welches die Energieerzeugung revolutionieren soll, außer Kontrolle. Gegenmaßnahmen greifen nicht, und die Katastrophe scheint unausweichlich.
Der kleine Fluss schlängelte sich wild durch das Tal, das ringsum von mehrere Hundert Meter hohen Bergen umschlossen wurde. Es war früher Morgen, die Sonne schon aufgegangen. Aber der Talboden lag noch in dämmrigem Licht. Tau glänzte auf den schmalen Grünstreifen zwischen den asphaltierten Flächen. Die 80 Männer und Frauen, die an diesem Militärstützpunkt Dienst taten, waren für die nächsten sechs Monate unter sich. Funk, ein Hubschrauberlandeplatz, eine Versorgungsstraße durch die Berge, zwei Boote und ein Fußweg auf halber Höhe zu den Gipfeln waren die einzigen Verbindungen zur Außenwelt.
Charlotte schritt die Reihe der wartenden Soldaten ab, die vor dem riesigen Betongebäude standen, in welchem einer der beiden Zweige des Forschungsprojektes ‚atomZeta‘ vor zwei Wochen seinen offiziellen Betrieb aufgenommen hatte. Die ersten Tests mit dem experimentellen Reaktor waren zur Zufriedenheit der Wissenschaftler verlaufen. Die spezifische Leistung lag sogar noch über den Erwartungen. Mehr als das 10‑fache der bis dato stärksten Atomkraftwerke war erreicht worden. Und das mit einer deutlich kompakteren Bauweise des Reaktorkerns. Das Militär versprach sich mit diesem Typus der Energieerzeugung insbesondere für U‑Boote eine signifikant verlängerte Unterwasserbetriebsdauer.
Charlotte führte ihre täglichen Kontrollen durch. Sie hielt die Farbtafel, die aussah wie ein Lineal, neben die Plakette, die knapp unterhalb der linken Schulter an der Uniformjacke des Soldaten gut sichtbar angebracht war. Sie verglich die Farbe des Spezialpapiers mit ihrer Referenztafel: Grün, gelbliches Grün, Gelb, Orange, fleckiges Orange mit roten Einsprengseln und dem großflächigen Tiefrot, das unter allen Umständen zu vermeiden war.
Charlotte notierte ‚Grün‘. Der Träger war dementsprechend seit Anbringen der passiven Messapparatur in Summe kaum radioaktiver Strahlung ausgesetzt gewesen. Erst wenn sich deutlich erkennbare rote Punkte zeigten, bestand Anlass zur Sorge. Doch dafür gab es Protokolle. Auch für die anderen Soldaten der ‚Äußeren Sicherheit‘, die abmarschbereit auf den Beginn ihrer Feldübung warteten, konnte sie ‚Grün‘ eintragen. Charlotte gab die Gruppe frei, und die Männer marschierten im Gleichschritt in Richtung des südlichen Berghangs davon.
Die Stabsunteroffizierin wandte sich um und ging zu einem der Nebengebäude, in welchem ihr hauptsächlicher Arbeitsplatz - die Sanitätsstation - untergebracht war.
Charlotte hatte sich unglaublich gefreut, als vor einigen Wochen die Zusage der Militärverwaltung gekommen war, dass sie an dem Projekt teilnehmen konnte. Sie hatte zuerst befürchtet, ihre kurzzeitige Entführung samt Erpressung würde sie disqualifizieren. Aber die psychologischen Belastungstests hatte sie mit Bravour bestanden, und so stand ihrem Einsatz nichts entgegen. Ein Fünftel der Stationierten gehörten der Reserve an, und so gab es für sie die Gelegenheit, ihre Kenntnisse auf dem Gebiet der Nuklearmedizin zu vertiefen, denn die Atomkraft, sei es als Waffe oder zivil zur Energieerzeugung, würde in Zukunft noch weit wichtiger werden.
Der Lautsprecher in der Krankenstation knackte. „Hier Chandler, Quartier Sicherheit B4. Möglicher Strahlennotfall. Meine Plakette ist tiefrot.“
Das Notfallprotokoll lief an.
„Schließen Sie Türen und Fenster, und bleiben Sie, wo Sie sind“, ordnete Charlotte an. Sie sprang auf und lief zum Arztzimmer. Ohne anzuklopfen stürzte sie hinein. „Code ‚Red‘“, rief sie.
Dr. Kent, ihr Vorgesetzter, saß an dem großen Schreibtisch und las gerade einen Bericht, den er nun aber fallen ließ, um in die Krankenstation zu rennen.
„Maggot, Sie bleiben hier!“, ordnete der Arzt an, und Charlottes Kollegin nickte.
Charlotte und Kent griffen nach den beiden Notfallrucksäcken und rannten, so schnell sie mit dem Gewicht konnten, hinüber zu dem Gebäude, welches das Sicherheitspersonal zum Arbeiten und Wohnen nutzte. Der Wachhabende öffnete ihnen beim Näherkommen schon die Tür.
Im Strahlenzimmer links neben dem Eingang drückte Kent auf den Knopf der Gegensprechanlage für Zimmer B4. „Kent hier. Chandler, hantieren Sie mit Nuklearmaterial in Ihrem Quartier?“
„Nein, Sir“, kam die leicht verzerrte Antwort aus dem Lautsprecher. „Mein Dienst in der Funküberwachung beginnt erst am Mittag. Ich habe dienstfrei.“
„Beschreiben Sie Ihre Plakette. Und Ihre körperliche Verfassung.“
„Die Plakette ist tiefrot. Außer der Farbe erkenne ich keinen Unterschied zu gestern. Mir selbst geht es gut. Keine Übelkeit, Kopfschmerzen oder sonstige Symptome.
Charlotte blätterte durch die Unterlagen der Plakettenüberprüfung vom Vortag, die sie gemäß dem Protokoll zur Unfallstelle mitgenommen hatte. „Seine Plakette habe ich...“ Sie schaute auf die Uhr am Handgelenk. „...vor 22 Stunden als Grün eingestuft.“
Kent drückte wieder auf den Sprechknopf. „Was haben Sie seit gestern Mittag getan?“
Er stieg in den Strahlenschutzanzug, den er aus dem Metallschrank an der Seitenwand genommen hatte, stülpte den Helm über und schaltete die Sauerstoffversorgung ein. Auch Charlotte hatte einen Schutzanzug angezogen und überprüft. Sie gab ihr Okay.
„Sir, ich hatte Dienst in der Funkzentrale. Dann war ich im Sportraum mit einigen Kameraden. Anschließend Ruhezeit, und heute Morgen Vorbereitungen für die nächste Schicht.“
Kents Stimme klang dumpf durch die Sichtscheibe des Anzuges, als er das Verhör fortsetzte. „Wann haben Sie bemerkt, dass Ihre Plakette sich verfärbt hat?“
„Erst vor wenigen Minuten. Ich kam aus der Dusche, und nach dem Anziehen war sie rot. Am Abend, vor dem Zapfenstreich, definitiv aber noch grün. Daran erinnere ich mich genau.“
„Wie sehen die Plaketten Ihrer Zimmergenossen aus?“, fragte Kent weiter.
„Sir, ich bin aktuell alleine auf der Stube. Meine Kameraden sind vor einer halben Stunde zu einem Außeneinsatz aufgebrochen.“
Kent stellte den Geigerzähler, den er aus dem mitgebrachten Rucksack holte, auf höchste Empfindlichkeit. Charlotte schaute im Belegungsplan des Sicherheitsgebäudes nach, der im Strahlenraum neben der Tür hing. Dann trat sie zur Sprechanlage und meldete an die Kommunikationszentrale: „Medizinische Anordnung, Notfallstufe. Kontaktieren Sie umgehend Tungstall, Bings und Anderson, Angehörige des Sicherheitspersonals. Sofortige Kontaktaufnahme über Kanal 7, Sanitätsdienst, ist erforderlich.“
Als Charlotte geendet hatte, gab Dr. Kent das Kommando zum Aufbruch, und die beiden stiegen die Treppe hinauf in den zweiten Stock. Die Glastür des Treppenaufgangs sowie sämtliche Türen zu den Quartieren waren geschlossen. Der Flur lag menschenleer vor ihnen. Charlotte hielt den Geiger-Müller-Zähler in der Hand und schwenkte das Messrohr langsam in alle Richtungen. Es knackte gelegentlich, zeigte aber keine erhöhte Belastung durch ionisierende Strahlung an.
Aber hinter der Tür konnte es ganz anders aussehen. Und da Chandler nur in seinem Zimmer und im Waschraum gewesen war, musste es dort eine starke Quelle radioaktiver Strahlung geben.
Kent öffnete die Tür ein Stück und schob den Messfühler hindurch. Doch das Knacken des Geräts intensivierte sich nicht. Die Anzeige blieb unbedenklich. Der Arzt zog die Tür ganz auf, und Charlotte und er gingen mit langsamen Schritten den Gang hinunter. Konzentriert schaute und hörte Charlotte auf das Strahlenmessgerät, doch alles blieb unverändert.
Vor der Tür zu Zimmer B4 blieben sie stehen. Kent rief laut: „Chandler, gehen Sie ans Fenster, und bleiben Sie dort stehen. Ich komme jetzt rein.“
Ein paar Sekunden später öffnete er die Tür zum Quartier der vier Soldaten einen Spalt weit. Wie bei der Flurtür hielt er zuerst das Zählrohr in den Raum hinein, doch das Knacken blieb ein seltenes Ereignis. Kent betrat daraufhin die Stube. Er blickte direkt auf das kleine Fenster, vor dem der Soldat stand. Links und rechts davon befand sich ein Stockbett an der Wand. Vier kleine Spinde, ein Schreibtisch mit quadratischer Platte und ein Stuhl vervollständigten die karge, auf praktischen Nutzen ausgerichtete Ausstattung.
Der Arzt maß die Strahlenbelastung des Raumes. Er öffnete die Spinde und schlug die Bettdecken um. Doch die Anzeige blieb in allen Richtungen im unbedenklichen Bereich. Auch, als er den Geigerzähler direkt auf Chandler richtete, kam es zu keiner Änderung.
„Bernstedt“, rief der Arzt auf den Flur hinaus, „der Raum ist sauber. Ich erbitte Bestätigung.“
Charlotte betrat nun ebenfalls das Viererzimmer und führte mit dem zweiten Geigerzähler, wie es das Protokoll vorschrieb, die gleichen Messungen durch. Aber beide Geräte kamen zu identischen Ergebnissen: Keine erhöhte Strahlenbelastung. Die nukleare Quelle, die Chandlers Plakette rot verfärbt hatte, befand sich nicht hier im Raum.
Charlottes Blick fiel auf die Uniformjacke des Soldaten am Fenster. Die Messplakette unter der Schulter war unzweifelhaft tiefrot, doch Charlotte nahm auch einen schwachen Schimmer wahr.
Feuchtigkeit, dachte sie, aber nicht radioaktiv, sonst hätte Kent dies ja angemessen.
Sie machte ihren Vorgesetzten darauf aufmerksam. Der Arzt ging näher an den Soldaten heran und schob das Visier direkt vor die Plakette. „Sie haben recht“, bestätigte er Charlottes Beobachtung.
Das Funkgerät in Charlottes linker Uniformtasche quäkte laut. „Hier Tungstall, ich sollte mich melden.“
Charlotte drückte den Sprechknopf. „Beschreiben Sie Ihre Plakettenfarbe.“
„Grün, vielleicht grüngelb, Madam.“
„Sind Anderson und Bings bei Ihnen?“, fragte Charlotte nach.
„Positiv.“
„Deren Plakettenfarben?“
Für einen Moment kam nur Rauschen aus dem Äther, dann ertönte wieder Tungstalls Stimme. „Identisch, Madam. Grün bis gelblich.“
Charlotte blickte zu ihrem Vorgesetzten, der das Gespräch aufmerksam verfolgt hatte.
„Sollen weitermachen“, entschied der Arzt, und Charlotte gab die Freigabe weiter.
Kent wandte sich wieder an Chandler, der äußerlich ruhig schien. Nur seine immer wieder umherspringenden Augen verrieten, dass es in seinem Innern anders aussah.
„Beschreiben Sie Ihren Morgen im Detail.“
„Nach dem Wecken die übliche Morgenroutine: Duschen, Stube säubern, Ausrüstung vorbereiten, danach Frühstück in der Messe. Meine Kameraden sind dann los, ich blieb noch hier. Sir, es gab keine Abweichung vom vorgeschriebenen Tagesablauf.“
„Ist etwas Ungewöhnliches passiert? Denken Sie nach, Chandler! Jede Kleinigkeit kann wichtig sein.“
„Nun, Sir“, erwiderte der Soldat nach ein paar Sekunden. „Mir ist die Uniformjacke im Waschraum heruntergefallen. Ein Kamerad lief mit seinen Stiefeln darüber. Ich reinigte die Jacke rasch noch, bevor ich zurück auf die Stube ging.“
„Auch in der Plakettenregion? Ich vermute, mit Seife?“
Chandler nickte. „Ja, Sir. Auch die Plakette.“
„War Sie da noch grün?“
Chandler wurde sichtlich nervös. Er rieb seine Hände aneinander. „Daran kann ich mich nicht erinnern. Das Licht im Duschraum war schon ausgeschaltet.“
„Gut, bleiben Sie hier“, befahl der Arzt.
Charlotte folgte ihm, als er den Weg zum Duschraum einschlug. Weiter maßen die Geigerzähler nur die natürliche Belastung an. Kent schaltete das Licht in der Umkleide ein, ging aber direkt weiter zum Waschraum. Doch nirgends gab es eine gefährliche Strahlenmenge.
Kents Haltung entspannte sich. Er drehte sich um, und ging zurück zu B4. An Charlotte gewandt, ordnete er an: „Geben Sie Entwarnung. Es war ein Fehlalarm. Erstellen Sie ein Memo, dass die Anordnung in den Richtlinien, Plaketten mit Wasser vorsichtig zu reinigen, mit dem Zusatz ‚und nichts sonst‘ zu lesen ist. Die chemische Reaktion von Laugen mit der Plakette ist ja bekannt. Ich hätte aber nicht gedacht, dass das einmal ein Problem werden könnte. - Überprüfen Sie zur Sicherheit die Plaketten aller hier im Tal Anwesenden. Aber nehmen Sie Rücksicht auf laufende Übungen oder Experimente. Es genügt, wenn die Überprüfung im Laufe des Tages erfolgt. - Und schätzen Sie die maximale Farbveränderung der Plaketten von Tungstall, Bings und Anderson zum Vortag ab. Sie kennen ja das Prozedere. Nehmen Sie sich eine der unterschriebenen Blanko-Diensteinschränkungsanordnungen aus meiner Mappe.“
Dann befahl er dem Soldaten: „Gehen Sie mit Bernstedt zur Krankenstation und lassen Sie sich eine neue Plakette geben.“
Charlotte bestätigte die Befehle, lief die Treppe hinunter und zog den Strahlenschutzanzug wieder aus. Über die Gegensprechanlage gab sie die Entwarnung an die Funkzentrale durch mit der Anordnung, diese sofort auf allen Kanälen publik zu machen. Der Dienstbetrieb im Tal konnte ohne Einschränkungen weitergeführt werden. Danach meldete sie die Benutzung der Schutzanzüge der Materialprüfstelle. Diese würde ihren und Kents Anzug nach der, wenn auch nur kurzzeitigen, Benutzung im unverstrahlten Bereich, dennoch auf Dichtigkeit und volle Funktionalität überprüfen und den Sauerstoffvorrat wieder aufstocken.
Anschließend ging sie mit dem Korporal hinüber in das Nebengebäude.
Aus einer Bleischatulle in dem roten Schrank neben dem Eingang zur Sanitätsstation nahm sie eine frische Plakette, trug deren Nummer und das Ausgabedatum in die entsprechende Verwendungsliste ein und vermerkte Chandlers Namen. Sie entfernte die rote Plakette aus dem Cliprahmen an der Uniform und hängte die frische ein. Dann holte sie eine Einschränkungsanordnung aus Kents Büro, vermerkte Dauer und Grund, und erklärte dem Korporal das weitere Vorgehen.
„Ihre neue Plakette misst die Strahlenbelastung, der Sie ab jetzt ausgesetzt sind. Alles, was zuvor auf Ihren Körper einwirkte, muss jedoch dazu addiert werden. Ihre Belastung bis zur gestrigen Kontrolle ist mir bekannt, nicht aber die Menge an Strahlung, der Sie seit diesem Kontrollzeitpunkt ausgesetzt waren. Als Schätzwert dafür nehmen wir die maximale Veränderung der Farben der Plaketten Ihrer Kameraden, mit denen Sie ja bis auf ein paar Stunden zusammen waren. - Finden Sie sich morgen, 8 Uhr wieder hier ein. Dann dunkle ich Ihre Plakette nach. Bis das geschehen ist, sind Sie im Dienst auf das Sicherheitsgebäude beschränkt. Außeneinsätze und das Betreten des Reaktorgebäudes sind Ihnen untersagt.“
Chandler nickte, nahm die Anordnung und verließ die Krankenstation.
Charlotte verfasste das Memo und ließ es auf Papier ausfertigen und austeilen. Dann widmete sie sich ihren sonstigen Pflichten.
***
Kurz vor 20 Uhr, als Charlotte gerade den letzten der heutigen medizinischen Untersuchungsberichte aus ihren Kurznotizen in Reinschrift übertrug, betraten ihre beiden Kollegen, welche die Nachtschicht übernehmen würden, die Station.
„Irgendetwas Besonderes?“, fragte Jake Peters, Unteroffizier im aktiven Dienst.
Charlotte notierte noch die letzten Ergebnisse der subjektiven Befindlichkeitsbefragungen und schloss schließlich die Akte. „Nur der Code-Red-Fehlalarm, den ihr ja mitbekommen habt. Es werden sich nachher drei Soldaten hier melden. Bewertet bitte ihre Plakettenfarbe. Ich brauche die Werte morgen zum Nachdunkeln. Eigentlich wollte ich das selbst erledigen, aber die drei verspäten sich. Ansonsten war es das Übliche. Heute Nacht allerdings beginnt ja der groß angekündigte erste mehrtägige Reaktorversuch.“
„Nervös?“, wollte Kelly Tovalo wissen.
Charlotte zuckte die Achseln. „Angespannt, ja. Schließlich ist das Reaktordesign Neuland für alle.“ Sie rollte den Schreibtischstuhl zurück und stand auf. „Viel Spaß mit Gable!“, grinste sie.
Kelly verzog das Gesicht. „Falls wir den Herrn Arzt heute Nacht überhaupt zu Gesicht bekommen. Er hält sich ja für etwas Besseres und fraternisiert nicht mit uns vom Fußvolk.“
Charlotte lachte. „Er glaubt bedingungslos an die Hierarchie. Das sollte dich im Militärdienst doch nicht überraschen.“
Charlotte und ihre Kollegin Jocelyn Maggot verließen Krankenstation und Gebäude.
„Kommst du mit in die Messe?“, fragte Jocelyn.
„Später. Ich brauche erst ein wenig Himmel über mir.“
Maggot schlug den Weg nach links ein zum Verpflegungsgebäude, Charlotte aber wandte sich in die andere Richtung, in der sie einen unbehinderten Blick auf die Berge hatte.
Nach dem langen, anstrengenden Dienst in geschlossenen Räumen freute sie sich auf den kleinen Spaziergang, der fast schon zu einer täglichen Routine geworden war. Tief sog sie die angenehm kühle und frische Luft ein. Die Dämmerung war weit fortgeschritten, und besonders am Grund des Tals war es schon düster. Vogelgezwitscher erklang, und am Himmel kreiste ein als Schemen erkennbarer Greifvogel. In den Büschen am Fuß des Berges raschelte es. Charlotte passierte das große Reaktorgebäude, dessen dicke Betonmauern genügend Schutz vor der Strahlung auch im Katastrophenfall boten. Der Reaktorraum an sich war noch einmal zusätzlich mit Beton oder bleidotiertem Spezialglas ummantelt. Die Wissenschaftler waren überzeugt davon, auf alles vorbereitet zu sein.
Nach ein paar Minuten hatte Charlotte ihre kleine Runde beendet und ging kurz hinüber in die Messe, hielt sich dort aber nicht lange auf. Sie wollte so viel wie möglich lernen. Und von dem zweiten Projekt, an dem hier im Tal geforscht wurde, wusste sie nur das, was die offiziellen Fortbildungen behandelt hatten.
Charlotte ging in ihr Quartier im Wohngebäude, das sie sich mit drei anderen Soldatinnen teilte, und das wie alle Viererstuben nur das Nötigste an Mobiliar enthielt. Im Moment war sie alleine, und darüber war Charlotte auch froh. Ruhe war genau das, was sie nun brauchte.
Am Schreibtisch nahm sich Charlotte die Unterlagen zu dem anderen großen Forschungsvorhaben vor. Der Leiter der gesamten Forschungsanlagen, Colonel Banks, war ein Verfechter des neuen Führungsstils, der von der Maxime ausging, dass Entscheidungen bei Forschungsprojekten auf der niedrigstmöglichen Ebene getroffen werden sollten. Und dazu bedarf es Informationen. Jeder im Tal konnte - bis auf Dinge, die als geheim klassifiziert worden waren - die Grundlagen aller Versuche einsehen.
Charlotte schlug den Ordner mit dem sperrigen Titel ‚Quantenmechanische Verschränkung zur nuklearen Spaltungskontrolle‘ auf und las noch einmal die ausführliche Zielvorgabe. Man wollte einen neuartigen Mechanismus entwickeln, welcher die nukleare Kettenreaktion aus der Ferne starten konnte. Als ersten Schritt planten die Forscher, zwei Uranatome quantenmechanisch so miteinander zu verschränken, dass, wenn das eine zerfiel, das andere dies instantan ebenfalls tat. Eins der beiden Atome besaß dabei die Führungsrolle und verhinderte den Zerfall des zweiten. Und diese Kontrolle sollte theoretisch auch funktionieren, wenn beide weit voneinander entfernt waren. Militärisch interessant war dies für die Konstruktion eines Fernzünders, der durch nichts abgeschirmt werden konnte. Kein Störsender, kein Einbringen in ein tiefes Bergwerk, keine Mauern aus Beton oder Metall würden diesem physikalischen Effekt, der in der Literatur auch als ‚spukhafte Fernwirkung‘ bezeichnet wurde, Einhalt gebieten können.
Als Charlotte den Abschnitt beendet hatte, ergriff sie plötzlich eine Unruhe, die sie sich zuerst nicht erklären konnte. Doch sie vertraute ihrem Instinkt. Ein Wort oder ein Satz aus dem Text hatte eine ganz konkrete Bedeutung und war irgendwie mit etwas in ihrem Leben verbunden. Charlotte starrte auf die Worte, bis diese vor ihren Augen verschwammen, und versuchte krampfhaft, den Gedanken, der unter der Oberfläche ihres Verstandes schlummerte, hinaufzuziehen.
Doch es gelang ihr nicht.
Charlotte schloss die Augen und führte eine beruhigende Atemübung durch. Sie ließ ihren Gedanken freien Lauf. Zuerst huschten fragmentierte Bilder des Dienstalltags vor ihrem inneren Auge vorbei, und sie glaubte, die Hektik des Strahlenalarms noch einmal zu durchleben.
Doch langsam beruhigte sich ihr Gehirn. Und dann, nach ein paar Minuten, drang die Idee endlich in ihr Bewusstsein.
„Spukhafte Fernwirkung“, wiederholte sie mehrmals leise.
Konnte man so nicht auch ihre Gabe beschreiben? Die Manipulation eines Objektes - der Zeichnung - pflanzte sich auf das reale Objekt fort.
„Funktioniert mein Blick auf diese Art?“
Vielleicht stellte das, was die Pyramidenzellen in ihrer Hornhaut aussandten, auf irgendeine Art und Weise eine Verschränkung zwischen dem Papier und dem Objekt her.
Charlotte klappte den Ordner zu. Darauf konnte sie sich nun nicht mehr konzentrieren. Sie löschte das Licht, warf sich auf ihr Bett, kreuzte die Arme unter dem Kopf und starrte die Decke an. Es war definitiv ein aufregender Monat für sie gewesen, seit Julia mit den Photos angekommen war, auf denen Charlotte die blauen Ringe das allererste Mal gesehen hatte. Und nun hatte sie vielleicht eine weitere, wenn auch höchst spekulative, Entdeckung gemacht. Hatte sie ihre Fähigkeit jahrelang immer besser anzuwenden gelernt, ohne zu wissen, worauf diese basierte, so schien es nun möglich zu sein, das Ganze zumindest im Ansatz zu erklären.
Auch wenn sie noch nicht wusste, was sie mit einer solchen Erklärung anfangen konnte, spannend war diese Entdeckung in jedem Fall.
Charlotte blickte auf die Uhr. Für sie begann in wenigen Minuten die Ruhezeit, und so beschloss sie, ihre Gedanken erst am Folgetag zu notieren.
***
Am nächsten Morgen übernahm Charlotte den Dienst von ihren Kameraden, die sich müde verabschiedeten. Nachtdienst schlauchte, das wusste sie aus eigener Erfahrung. Und nächste Woche würde es für sie wieder so weit sein.
Sehr schön, freute sich Charlotte, als sie sah, dass Kelly die Plakettenfarben von Chandlers Kameraden nicht nur protokolliert, sondern auch schon die Veränderungen zum Vortag bewertet hatte. Das Ergebnis war das einfachstmögliche: Es gab keinen sichtbaren Unterschied.
Es klopfte an der Tür, und Chandler trat ein. „Guten Morgen, Miss Bernstedt.“
„Guten Morgen, Korporal. Es wird nicht lange dauern.“
Charlotte entfernte die Plakette aus der Halterung an Chandlers Uniform und schob das dünne Plättchen, das aus einer strahlensensitiven Oberschicht auf einem inerten Plastikträger bestand, in eine schwarze Kammer von Schuhkartongröße. Sorgfältig verschloss sie deren Schiebetür und rastete den Riegel ein. Der Drehknopf für die Zeitdauer knackte leise, als Charlotte die zwei Minuten einstellte. Danach drückte sie auf ‚Start‘.
Es ploppte wie beim Anschalten einer Fernsehröhre, aber abgesehen davon drang kein Laut aus der Röntgenkammer. Nach Ablauf der zwei Minuten war die Prozedur beendet. Charlotte nahm die Messplakette heraus und befestigte sie wieder an Chandlers Jacke.
„Ihre zerstörte Plakette lag farblich gestern hier“, erklärte sie und deutete auf die zweitunterste Farbe auf der Linealskala. „Diesen Wert habe ich kopiert, und eine Einheit zusätzlich gedunkelt, wie es die Richtlinien vorschreiben, da wir bei den Plaketten Ihrer Kameraden keine Veränderung innerhalb der letzten 24 Stunden feststellen konnten, und sie mit diesen nicht die gesamte Zeit zusammen waren.“
„Warum überhaupt ein Nachdunkeln? Es würde doch ausreichen, wenn Sie bei den morgendlichen Kontrollen wissen, wieviel insgesamt aufaddiert werden muss.“
Charlotte lächelte. „Psychologie. Untersuchungen haben gezeigt, dass sich Menschen bei einer grünen Plakette im Falle von Stress, Zeitdruck oder sonstiger Hektik sorgloser verhalten, selbst wenn sie wissen, dass die Plakette eigentlich gelb ist. Dem will die Militärführung mit dem Nachdunkeln vorbeugen. - Sie sind wieder voll diensttauglich.“
Als der Korporal das Untersuchungszimmer verlassen hatte, überprüfte Charlotte gewissenhaft das medizinische Verbrauchsmaterial, so wie es auch Kelly bei der gestrigen Dienstübernahme getan hatte. Doch es musste nichts aus dem unterirdischen Großlager nachgeordert werden. Sie hatte gerade den letzten Schrank geschlossen, als die Tür zur Sanitätsstation mit Ruck aufgerissen wurde. Zwei Soldaten stützten einen dritten, der in ihrer Mitte auf einem Bein hereinhumpelte.
„Was ist passiert?“, fragte Charlotte und deutete auf die Untersuchungsliege.
Der Verletzte setzte sich und bemühte sich, sein Gesicht zu entspannen. Doch Charlotte sah, dass er ziemliche Schmerzen haben musste.
„Übung im Feld in den Bergen. Ich kam in eine Felsspalte, konnte aber nicht rechtzeitig bremsen und bin umgeknickt“, meldete er.
„Dann legen Sie sich mal hin.“
Charlotte schnürte den rechten Stiefel auf. Der Soldat biss sich auf die Zähne, als sie den Schuh abzog. Der Knöchel begann bereits anzuschwellen. Vorsichtig tastete sie die Region ab. „Beißen Sie jetzt bitte die Zähne zusammen“, sagte sie und drehte den Fuß leicht im Gelenk. Dabei tastete sie mit leichtem Druck über den Spann, den Knöchel sowie die Ferse.
„Es ist nur eine Verstauchung“, diagnostizierte Charlotte schließlich. Sie nahm zwei Eispacks aus dem Kühlschrank neben dem Schreibtisch und legte sie auf beide Seiten des Knöchels. „Halten Sie das hier fest.“
Dann klopfte sie an die Tür des Arztzimmers und trat nach Aufforderung ein. Dr Kent, der gerade über Telefon mit einem Kollegen sprach, bat diesen, kurz zu warten, und legte die Hand auf die Sprechmuschel. Er hob den Kopf und blickte seine Untergebene fragend an.
„Verstauchung am Fuß. Soll ich röntgen?“
„Keine Knochenveränderungen oder -fehlstellungen spürbar?“, vergewisserte er sich.
Charlotte verneinte. „Das Gewebe ist durchgehend weich. Auch die Schwellung ist nicht ungewöhnlich stark oder verformt.“
„Dann verzichten wir auf eine Strahlenbelastung. Dienstunfähigkeit und so weiter. Sie kennen das ja. Weisen Sie den Verletzten entsprechend ein.“
Er reichte Charlotte eine schon vorab unterschriebene Dienstunfähigkeitsbescheinigung. Dann verließ die Stabsunteroffizierin das Büro ihres Vorgesetzten wieder.
Der verletzte Soldat hatte sich unterdessen nicht gerührt. Seine Kameraden hatten die Krankenstation verlassen und waren wieder zu ihrer Gruppe gegangen.
Charlotte entnahm aus einem der Schränke mit Verbrauchsmaterial eine Rolle breite Mullbinde und umwickelte den Knöchel des Verletzten fest, um den Fuß zu stabilisieren und Druck auf das Gewebe auszuüben.
„Ihren Namen und Dienstgrad, bitte?“
„Korporal David Tremaine.“
Charlotte trug den Namen in die Bescheinigung ein und setzte die Dauer mit drei Tagen fest, was dem üblichen Zeitrahmen entsprach, den Dr. Kent für eine solche Verletzung erst einmal ansetzte. Bei seinem Kollegen Gable hätte Charlotte eine tägliche Wiedervorstellung vermerkt.
„Kühlen Sie den Fuß regelmäßig. Heute zehn Minuten pro Stunde. Morgen können Sie es nach Bedarf durchführen. Kommen Sie nach Ablauf der drei Tage wieder zur Kontrolle. Wir schauen dann, wie sich Schwellung und Entzündung entwickelt haben.“
Tremaine richtete sich auf. Charlotte holte eine Krücke aus dem Nebenzimmer und reichte sie dem Soldaten, der daraufhin die Krankenstation verließ.
Dann widmete sie sich wieder den Fragebögen, welche jeder Projektbeteiligte einmal pro Woche ausfüllen musste. Es ging um psychische und physische Gesundheit. Konzentriert studierte sie die Antworten und notierte kurze Empfehlungen, wie der ein oder andere persönliche oder strukturelle Missstand behoben werden konnte. Kleinere Ratschläge gab sie direkt per Gegensprechanlage durch, falls es die ihrem Rang zustehende Weisungsbefugnis erlaubte, andere legte sie gebündelt für ihren Vorgesetzten zur Freigabe beiseite.
Nach Dienstende machte Charlotte ihren Spaziergang, duschte rasch und hatte sich gerade eine frische Uniform angezogen, als ihr Pager, den sie auf das Kopfkissen gelegt hatte, durchdringend piepte. Charlotte trat zur Tür und drückte den Sprechknopf links neben dem Eingang. „Bernstedt, Quartier G9. Ich höre.“
„Melden Sie sich umgehend in der Funkzentrale.“
„Verstanden.“
Es knackte, und dann kam nichts mehr. Charlotte nahm den Pager, verließ ihre Unterkunft und lief hinüber zum Gebäude der Sicherheitsabteilung, dessen Dach unzählige Antennen und Parabolschüsseln spickten.
„Ich soll mich in der Funkzentrale melden“, erklärte sie dem Wachhabenden am Eingang.
Nach kurzer Rücksprache per Sprechfunk ließ er Charlotte passieren. Sie lief die Treppe in den dritten Stock hinauf und betrat die Überwachungszentrale. Radargeräte, unzählige Funkempfänger, Telex und sonstige elektronische Systeme arbeiteten auf Hochtouren. Sie überwachten 24 Stunden am Tag den Luftraum sowie alle Frequenzen und werteten die Meldungen der auf den Bergen stationierten Fernüberwachungseinrichtungen aus.
Einer der Funker reichte ihr einen Telexstreifen. „Wir haben es dechiffriert. Der Major hat autorisiert, dass Sie die private Nachricht erhalten.“
Charlotte nahm den schmalen Papierstreifen entgegen. Es war ungewöhnlich, dass persönliche Funkbotschaften eingingen. Die nichtmilitärische Kommunikation lief schriftlich per Brief ab.
Charlotte las: ‚Von Phil Messier, Bundespolizei an Charlotte Bernstedt über die Militärverwaltung - Betrifft: Kidnapping - Peacock und drei Komplizen bei Gefängnisausbruch getötet - Weiter kein Geständnis - Wir haben Entführungsort ermittelt - Spuren eindeutig - Julia und ich haben Ort wiedererkannt - Fall für Staatsanwaltschaft abgeschlossen.‘
Ich hätte ihn lieber vor Gericht gesehen, dachte Charlotte. Er hat, wenn auch wohl ungewollt, den einfachen Ausweg gewählt.
Aber Phils letzte Bemerkung, dass der Fall nun zu den Akten gelegt wurde, bedeutete auch, dass ihr Geheimnis weiterhin gewahrt blieb. Nun wusste außer Phil niemand mehr von ihrer Gabe. Denn diesbezüglich glaubte sie Peacocks selbstgefälliger Äußerung, seine Komplizen wüssten von nichts, als er noch dachte, er könnte sie, Charlotte, zur langfristigen Mitarbeit zwingen.
„Danke“, sagte sie zu dem Funkoffizier. Die Nachricht warf sie in den Abfallbehälter. Bei Schichtwechsel würde alles verbrannt werden.
***
Der Vormittag des folgenden Tages war durch Routine geprägt, als plötzlich der Lautsprecher in der Krankenstation knackte.
„Brent an Krankenstation. Dr. Walker klagt über Schwindel. Kommen Sie in die Hauptkontrollzentrale im Reaktorgebäude.“
„Verstanden.“
Charlotte nahm den Notfallrucksack und machte sich auf den Weg. Im Laufschritt legte sie die dreihundert Meter bis zum Reaktorgebäude zurück, das sich direkt am Fuße des höchsten Berges befand. Charlotte öffnete die schwere, metallene Außentür und musste sich etwas bücken, um hindurchzugelangen. Dann bog sie scharf nach links, um wenige Meter darauf eine ebenso abrupte Richtungsänderung nach rechts durchzuführen. Sie öffnete die baugleiche Innentür und stand schließlich im Hauptgang des Gebäudes.
Wuchtbrecher, kam ihr die informelle Bezeichnung, die unter dem nichtwissenschaftlichen Personal kursierte, in den Sinn - wie immer, wenn sie diesen ungewöhnlichen Eingang benutzte. Sollte es zum Katastrophenfall und zu Explosionen kommen, wären die Türen als Sollbruchstellen am gefährdetsten. Durch diesen Zickzackweg, begrenzt von dicken Mauern, lief sich der Explosionsdruck, zumindest bis zu einer gewissen Obergrenze, jedoch tot, bevor radioaktives Material in die Umwelt gelangen konnte.
Im hellerleuchteten und fensterlosen Kontrollraum flogen die Meldungen lautstark hin und her. Ein halbes Dutzend Wissenschaftler standen und saßen vor der Wand mit den unzähligen Messgeräten, Skalen und Steuerknöpfen. Lampen blinkten, und über den Ausgabeschirm des Rechengehirns flimmerten lange Zahlenkolonnen.
Charlotte achtete zuerst nicht auf die Gespräche der Forscher, denn auf einem Stuhl in der Ecke saß vornübergebeugt ein älterer Mann mit grauem Haar. Die Finger rieben über seine Schläfen.
„Dr. Walker?“, vergewisserte sich Charlotte.
Der Mann hob den Kopf, doch bereits diese kleine Bewegung schien ihm Mühe zu bereiten. Seine Stirn war mit Schweiß bedeckt, sein Gesicht auffallend rot. „Ich fühle mich energielos, mir ist schwindelig und leicht übel.“
Charlotte zog den Reißverschluss ihres Rucksacks auf. „Weitere Symptome wie Husten, Heiserkeit oder Niesreiz?“
„Ein leichtes Kratzen im Hals. Sehr tief, wenn ich schlucke.“
Charlotte desinfizierte das Thermometer mit einem Alkoholtuch, schob es dem Wissenschaftler unter die Zunge und bat ihn, sich für ein paar Minuten nicht zu bewegen. Währenddessen tastete sie Walkers Hals ab und fühlte die Lymphknoten. Sie waren leicht geschwollen.
Nun nahm Charlotte auch die Worte der Wissenschaftler im Hintergrund wahr.
„Drosseln der Leistung um 20%. Nur die Steuerstäbe verwenden.“
„Verstanden“, kam es von dem Mann, der an dem breiten Schreibtisch saß, der nur aus Zeigern und Knöpfen zu bestehen schien. Er gab etwas in die Tastatur des Steuergehirns ein, drückte mehrere Knöpfe, und auf dem Bildschirm vor ihm verfolgten die Wissenschaftler gebannt die Veränderung der Messungen, die sowohl innerhalb als auch außerhalb des Reaktorkerns durchgeführt wurden.
„Temperatur des Kerns sinkt“, meldete der Techniker. „Aber langsamer als vorherberechnet.“ Er blickte auf einen anderen Schirm. „Ein Drittel der Steuerstäbe fährt nicht auf die gewünschte Tiefe.“
„Ziehen Sie diese bis auf 95% heraus und senken sie danach langsam wieder ab“, ordnete der Chef der Wissenschaftler, Dr. Brent, mit ruhiger Stimme an.
Wieder ertönte das Klacken von Tasten, dann folgte gebannte Stille. Für mehrere Sekunden starrten alle am Experiment direkt Beteiligten auf die Temperaturanzeige. Auch Walker wandte den Kopf, aber ihm war die Sicht versperrt.
Aus den Augenwinkeln sah Charlotte auf dem Überwachungsmonitor an der rechten Seitenwand den Reaktordruckbehälter, der etwa 15 Meter entfernt in dem großen Nachbarraum stand, dessen Wände besonders dick und noch zusätzlich mit Bleiplatten versehen waren. Das Bild zeigte in gespenstischer Stille einen Zylinder unbestimmbaren Ausmaßes. Nichts regte sich in dem Raum, das andeutete, welch verheerende Kraft sich unsichtbar im Innern der Brennelemente gerade austobte.
„Sollwerte erreicht. Alle Steuerstäbe auf Zielposition. Reaktorkerntemperatur sinkt.“
Ein Aufatmen ging durch die Schar der Forscher.
Charlotte zog das Thermometer aus Walkers Mund und warf einen Blick darauf. „Sie haben Fieber“, stellte sie fest und verstaute ihre Utensilien wieder im Rucksack. „Ich bringe Sie zur Krankenstation, damit Dr. Kent Sie eingehender untersuchen kann.“
Sie wollte nach Walkers Arm greifen, um ihm aufzuhelfen, doch der Mann schüttelte ihre Hand unwillig ab.
„Später. Sehen Sie nicht, dass wir tief im Hauptversuch stecken? Ich kann diesen Ort jetzt nicht verlassen. Geben Sie mir irgendetwas, das mich für die nächsten zwei Stunden fit macht“, herrschte er sie an. Mühsam stand er auf, musste sich aber an der Wand abstützen. Seine Beine zitterten leicht.
„Sir, das widerspricht den Regularien.“
Bevor Charlotte weitersprechen konnte, hörte sie eine beunruhigende Meldung vom Messtisch.
„Wieder Fehlfunktion bei den Steuerstäben. Nur zwei Drittel fahren wie angeordnet tiefer ein.“ Ein lautes Piepen ertönte, und auf dem Messmonitor begann eine Zahl zu blinken. „Die Temperatur im Kern steigt. - Kühlsystem 1 meldet Fehlfunktion. Eine Pumpe arbeitet unregelmäßig.“
„Schalten Sie auf den Reservekreislauf um“, ordnete Brent an. „Und erhöhen Sie die Borkonzentration im Druckwasser. Maximalwert.“
Der Techniker führte die Anordnungen aus, doch seine Stimme klang angespannt, als er meldete: „Ausgeführt. Aber die Temperatur steigt weiter, wenn auch langsamer.“
Walker griff nach Charlottes Arm. „Nun machen Sie schon. Ich muss mich auf meine Arbeit konzentrieren können.“
Charlotte schüttelte den Kopf. „Sir, ich lasse Sie abführen, wenn Sie nicht freiwillig mitkommen. Sie sind nicht dienstfähig, solange Dr. Kent Sie nicht untersucht hat.“
Die Gespräche im Kontrollraum wurden hektischer. Wissenschaftler riefen sich in schneller Folge Messwerte zu und diskutierten. Aufgeregte Handzeichen auf verschidene Messskalen deuteten an, dass es ein ernstes Problem gab.
Der Chefwissenschaftler machte ein nachdenkliches Gesicht, dann wandte er sich an Charlotte. „Spritzen Sie Dr. Walker fit. Wir stehen kurz vor dem Voralarm. Die medizinischen Notwendigkeiten müssen hintenanstehen. Wir brauchen ihn.“
Charlotte ging zur Gegensprechanlage. „Bernstedt im Kontrollraum an Dr. Kent. Ich benötige eine Sondergenehmigung aufgrund Überranginteressen.“
Einige Sekunden rauschte es, dann meldete sich der diensthabende Arzt. „Kent hier.“
Charlotte erklärte den Sachverhalt, und Dr. Kent gab die erbetene Erlaubnis, eine medizinisch nicht indizierte Behandlung durchzuführen. „Sie sind bis auf weiteres Walker persönlich als medizinische Betreuung zugeordnet.“
Charlotte bestätigte den Befehl, schaltete die Sprechanlage ab und nahm aus dem Rucksack eine Spritze mit einem Aufputschmittel. „Der Schwindel wird davon nicht beeinflusst“, erklärte sie dem ungeduldig wartenden Wissenschaftler. „Bewegen Sie sich vorsichtig. Schwäche, Übelkeit und Kopfschmerzen werden Sie für eine gewisse Zeit nicht mehr spüren.“
„Jaja“, erwiderte Walker nur und rollte den Ärmel seines Kittels hoch. „Machen Sie schon!“
Charlotte desinfizierte die Armbeuge und injizierte den Medikamentencocktail. Walker ging sofort, eine Hand an der Wand, zu seinen Kollegen. Charlotte folgte ihm. Die Diskussionen der Forscher wurden hitziger. Vorschläge wurden erörtert, aber schnell verworfen.
Schließlich bat Brent über die Gegensprechanlage die Funkzentrale, eine Meldung durchzugeben, die niemand bei Ankunft in diesem Tal je hatte hören wollen.
„Geben Sie an alle durch: Voralarm aufgrund Störfalls im Reaktorkern.“
Sämtliche Arbeiten im Reaktorgebäude würden nun eingestellt werden. Innerhalb der nächsten zehn Minuten mussten alle Mitarbeiter außerhalb der Kontrollzentrale das Gebäude verlassen und sich in die Quartiere begeben. Auch in den anderen Gebäuden im Tal würden die Aktivitäten auf Null gefahren werden. Jeder würde sich in der Nähe einer Sprechanlage aufhalten und gebannt darauf warten, welche Folgemeldung verkündet würde: Entwarnung oder Evakuierung.
Nicht nur Charlottes Puls schoss in die Höhe. Angst hatte sie jedoch nicht, denn für diesen Fall gab es sauber ausgearbeitete Pläne, die ihr durch die vielen Übungen in Fleisch und Blut übergegangen waren.
Die Gesichter der Forscher zeigten tiefe Besorgnis. Die Gefahren waren allen vor Antritt dieser Verpflichtung bekannt gewesen, aber so nahe vor einem Durchgehen des Reaktors hatte noch niemand gestanden.
„Notabschaltung“, ordnete der Chef der Kontrollzentrale an.
Wieder wurde ein Schalter betätigt, und Charlotte wusste, dass nun die Magnetarretierungen sämtlicher Steuerstäbe gelöst wurden - ein Sicherheitsmechanismus, der bei Stromausfall die Kernreaktionen sofort auf Null drosselte.
Es war eine verzweifelte Aktion ohne wirkliche Aussicht auf Erfolg. Jedem hier im Raum war klar, dass, wenn die Stäbe aktiv nicht tiefer eingefahren werden konnten, ein rein gravitativer Fall nach unten dies erst recht nicht bewerkstelligen konnte. Und der weitere Anstieg der Temperatur bestätigte den Fehlschlag auch auf dramatische Weise. Die Anzeige blinkte weiter.
„Verdammt!“, fluchte Walker und betätigte einen Regler. Das Bild auf dem Seitenwandmonitor sprang um und zeigte nun nicht mehr den Reaktorraum mit dem Druckbehälter, sondern das Innere des Kerns und das charakteristische blaue Leuchten, ausgesandt durch lokal überlichtschnelleTeilchen. „Ich nehme den Arm.“
Die Brennelemente auf dem Schirm waren gut zu sehen, und sofort war klar, dass dort zumindest eine Ursache des Temperaturanstiegs lag. Ein großer Teil der Steuerstäbe hing verkantet in den Führungsröhren. Nur zu etwa einem Drittel der Länge steckten sie zwischen den Brennstäben. Die davon ausgehende drosselnde Wirkung, indem die Spaltungsneutronen absorbiert wurden, reichte offensichtlich nicht aus, die Reaktionshäufigkeit auf ein kühlbares Maß zu senken.
„Sekundärkreislauf arbeitet nur auf 30%. Pumpversagen“, verkündete der Mann am Messpult.
„Testen Sie Kühlsystem 1 wieder, und wählen Sie manuell nach eigenem Ermessen, welches wie lange arbeiten soll“, befahl Brent. Die Ruhe in seiner Stimme war verschwunden. Seine Anordnungen kamen gepresst.
Walker setzte sich in den Stuhl neben den Techniker und griff nach einem Steuerknüppel. Langsam drückte er diesen nach vorne, und auf dem Monitor erschien ein Greifarm.
„Wann wird es kritisch?“, fragte Brent.
Der Mann am Eingabepult des Elektronenrechners tippte wild. Ein paar Sekunden später hatte die Maschine mit den aktuellen Messdaten und dem mathematischen Modell des Reaktors eine Schätzung abgegeben. „47 Minuten bei Versagen der kompletten Kühlung. Etwa zwei Stunden, wenn die Systeme keine weiteren Störungen zeigen.“
Charlotte starrte gebannt auf den Reaktorkern auf dem Schirm.
Walker näherte den mechanischen Arm - ein von ihm konzipiertes, neuartiges Sicherheitssystem, das in diesem experimentellen Reaktor das erste Mal eingesetzt wurde - dem ersten verkanteten Steuerstab. Der Greifer schloss sich um die Spitze des Stabes und fuhr nach oben. Doch der Stab rutschte aus der Umklammerung. Walker wiederholte das Manöver, und diesmal konnte er den Steuerstab ein wenig anheben, bevor er abrutschte. Der Stab fiel nach unten und verkantete erneut, aber deutlich tiefer.
„Verdammt!“, fluchte Walker und wischte sich über die Stirn. „Das Bild auf dem Schirm ist zu klein, der Winkel zu schräg. Ich muss direkte, gerade Sicht haben. Dann geht es schneller mit dem Arm.“
„Genehmigt“, bestätigte Brent, und Walker drückte auf einen großen Schalter am Rand des Schreibtisches.
Breite Bleiplatten, welche radioaktive Strahlung vollständig abblockten, fuhren mit lauten Getöse zur Seite. Das dahinter zum Vorschein kommende große Fenster aus Spezialglas, das nur für begrenzte Zeit einen ausreichenden Strahlenschutz gewährleistete, erlaubte nun vom Kontrollraum aus einen direkten Blick auf den Reaktordruckbehälter, an dessen Vorderseite im mittleren Drittel die Abdeckung über einem Fenster im Gehäuse ebenfalls zur Seite gefahren wurde. Die Brennelemente, Steuerstäbe und der Roboterarm waren gut zu sehen. Sie befanden sich ein wenig tiefer als der Boden des Kontrollraums.
Walker drehte sich vom Bildschirm weg und blickte mit zusammengekniffenen Augen durch das große Wandfenster. Er nahm seine Arbeit wieder auf und steuerte den Roboterarm mit erhöhter Geschwindigkeit zu den Problemstellen. Doch er vermochte nur wenige Steuerstäbe komplett in die Röhren einzudrücken. Das Verfahren funktionierte, es war nur viel zu langsam.
„Der Arm kann nicht genügend Kraft aufbringen, um die Verkantung bei einem einzigen Griff zu lösen“, murmelte Walker. Doch er versuchte es verbissen weiter.
„Abbruch!“, befahl Brent schließlich. „Es sind zu viele. Wir haben nur noch dreißig Minuten im worst case.“
Brent klappte die Plastikabdeckung des Katastrophenknopfes hoch und betätigte den roten Schalter. Sofort begannen die vielen gelben Lampen in sämtlichen Gebäuden zu rotieren. Überall plärrte eine metall verzerrte Bandaufzeichnung aus den Lautsprechern: „Sofortige Evakuierung nach Notfallplan.“
Adrenalin durchströmte Charlottes Körper. Nun wurde es ernst. Die Wissenschaftler verließen den Kontrollraum. Charlotte hielt sich in Walkers Nähe, doch der Mann benötigte im Moment keine Hilfe.
Sie überlegte blitzschnell und wägte ab. Noch blieben 29 Minuten, bis die Temperatur kritisch wurde, und Wasserstoffexplosionen drohten. Wahrscheinlich hatte sie sogar noch mehr Zeit, denn, wie ein rascher Blick auf den Überwachungsmonitor zeigte, arbeitete das Kühlsystem 1 aktuell mit 45% seiner Leistung.
Es gab zwei Optionen für sie.
Sie konnte dem Notfallplan folgen, das Gebäude verlassen und mit einem der Transporter oder dem Hubschrauber aus dem Tal evakuiert werden. So wie alle anderen auch.
Oder sie konnte versuchen, das, was Walker mit dem mechanischen Arm nicht schnell genug durchführen konnte, mittels ihrer Zeichengabe rascher zu erledigen.
Die Entscheidung war schnell getroffen, obwohl es faktisch Befehlsverweigerung war. Aber Charlotte sah eine realistische Möglichkeit, die drohende Katastrophe zu stoppen, oder zumindest abzuschwächen. Sie kannte den Ablauf der Evakuierung im Detail und wusste, dass der letzte Transporter in genau 18 Minuten vom südlichen Sammelpunkt abfahren würde. Es sollte also für ein oder zwei Versuche reichen.
Sie blieb zurück und war wenig später alleine im Kontrollraum. Die Schritte auf dem Gang verklangen, und dann herrschte Stille. Charlotte war nun die einzige Person im Reaktorgebäude.
Sie holte den Geigerzähler aus ihrem Gepäck und legte ihn mit dem Zählrohr in Richtung Sichtfenster zum Reaktorraum auf den Messtisch. Die Skala schlug nur schwach aus. Die Strahlung lag im Normbereich. Die Abschirmung des bleidotierten Glases im Zusammenspiel mit der Ummantelung des Reaktorkerns funktionierte also noch in ausreichendem Maße.
Charlotte zog Block und Stift aus der Seitentasche der Uniformjacke und stellte sich so dicht wie möglich an die Sichtscheibe. Das seltene Klacken des Geigerzählers war beruhigend. Sie schaute direkt durch den transparenten Bereich des Reaktorkerns auf die Steuerstäbe. Das zirkulierende Druckwasser und kleine Dampfblasen ließen die Konturen leicht verschwimmen. Charlotte zeichnete die dreidimensionale Anordnung einer Gruppe von etwa einem Dutzend Stäben auf ein Blatt. Es dauerte weniger als eine Minute, dann legte sie das Papier auf den Messtisch, signierte es und erhöhte langsam, den Blick auf die realen Steuerstäbe gerichtet, den mit der flachen Hand ausgeübten Druck.
Noch geschah nichts.
Ihre Lippen waren vor Anspannung fest zusammengepresst, und die Halsschlagader pochte stark. Charlotte lehnte sich mit dem ganzen Oberkörper auf die rechte Hand und presste, so stark sie konnte.
Nichts.
Sie ballte die Faust und schlug, erst mit dosierter Kraft, dann immer stärker auf die Zeichnung. Es dröhnte laut im Kontrollraum, und der Messtisch erzitterte leicht.
Doch die realen Objekte reagierten überhaupt nicht.
Charlotte blickte auf die Uhr. Noch 14 Minuten, bis sie das Gebäude verlassen musste, um noch den letzten Transport aus dem Tal heraus zu erwischen.
„Verdammt! Warum klappt das nicht? Irgendetwas hätte geschehen müssen, und wenn auch nur einer der Stäbe zerbröselt und durch den Kern geflogen wäre!“
Sie wischte sich mit dem Unterarm über die Stirn. Sie schwitzte gewaltig. Das rechte Auge brannte fürchterlich, als ein Schweißtropfen hineinfloss. Charlotte blinzelte ein paar Mal und konzentrierte sich auf das, was ihr linkes Auge sah. Sie kontrollierte Zeichnung und Realität, konnte aber keinen Fehler entdecken. Das Bild hätte funktionieren müssen! Wieder wischte sie sich mit dem Ärmel über das Gesicht.
Und da bemerkte sie, was anders war als sonst.
Aus Erfahrung hatte sie bei solch starken Schlägen auf eine Zeichnung erwartet, dass ihr Körper die übliche Reaktion auf eine hohe Kraftübertragung zeigte. Eigentlich hätte ihre Nase bluten müssen.
Doch das tat sie nicht.
Und dafür konnte es nur einen Grund geben.
„Es gibt keine Kopplung zwischen Zeichnung und dem Kern. - Warum nicht? Ich sehe das Ziel klar vor mir. Die Anordnung der Stäbe ist optisch eindeutig. Die Entfernung ist gering. Es passt alles. Und diese zwei Fensterscheiben können...“
Ein Gedanke blitzte in ihrem Verstand auf.
Es waren Fensterscheiben, ja. Aber Strahlenschutzfenster! Spezialglas, dessen Aufgabe es war, hochenergetische Teilchen und Strahlung zu blockieren.
Und ihre Pyramidenzellen sendeten etwas mit hoher Energie aus! Die blauen Ringe um ihre Augen!
„Mein Blick dringt nicht hindurch!“, rief Charlotte.
Und nach dieser Schlussfolgerung war der nächste Schritt klar.
„Ich muss hinein in den Reaktorraum.“
Sie blickte auf die Anzeige des Überwachungsmonitors. Die Strahlenbelastung im Reaktorraum war gestiegen. Die Abschirmung des Druckbehälters alleine konnte die entstehende Strahlung nicht mehr komplett zurückhalten.
Charlotte rannte zu dem großen Schrank an der linken Wand, riss die Schiebetüren zur Seite und nahm einen Strahlenanzug heraus. Dieser würde sie für einige Minuten ausreichend schützen. Sie clippte ihre Plakette von der Uniformjacke ab und befestigte sie innen im Visier an der dortigen Halterung am rechten Rand. Rasch zog sie die Schutzkleidung an, überprüfte die Sauerstoffversorgung und verschloss den Anzug hermetisch.
Dann trat sie in die Schleuse, die im Normalbetrieb nur bei abgeschaltetem Kern von Wissenschaftlern oder Wartungspersonal betreten werden konnte. Jetzt, im Katastrophenfall, allerdings waren sämtliche Türsicherungen außer Kraft gesetzt. Ungeduldig wartete Charlotte, bis sich die Innentür geschlossen und die Außentür zum Reaktorbereich endlich geöffnet hatte.
Mit drei Schritten war Charlotte am Druckbehälter und näherte das Visier dem Sichtfenster. Sie musste eine Armlänge Abstand halten, denn die Temperatur der Außenhülle des Kerns war trotz der Isolierung hoch.
Sie konzentrierte sich auf dieselbe Gruppe von Steuerstäben, die sie bereits zuvor gezeichnet hatte. Ihre rechte Hand flog in höchster Eile über das Papier, und das Bild war in Rekordzeit fertig.
Die Sichtscheibe im Kern war aus dünnerem Glas gefertigt als diejenige zum Kontrollraum. Und die erhöhte Strahlung hier legte nahe, dass dieses Spezialglas die aktuelle Strahlungsmenge nicht vollständig abblocken konnte. Charlotte hoffte inständig, dass die Energie ihres Blicks ausreichend stark in die andere Richtung hindurchkam.
Charlotte legte die Zeichnung auf den Boden ab und presste ihre Hand mit steigender Kraft darauf. Nach ein paar Sekunden reagierte ihr Körper. Blut spritzte aus ihrer Nase und verschmierte die untere Hälfte des Visiers. Charlotte ignorierte es, sprang auf und schaute durch das Sichtfenster in den Kern.
Die realen Gegenparts der gezeichneten Steuerstäbe steckten komplett in den Führungsröhren!
Vermutlich waren einige an den Verkantungsstellen durchgebrochen, doch das spielte keine Rolle. Wichtig war nur, dass die Cadmiumstäbe nun ihre bremsende Wirkung ausüben konnten.
Charlotte wandte sich der nächsten Gruppe von verkanteten Stäben zu. Wieder huschten ihre Finger über ein neues Blatt Papier, und wieder war das Bild in kürzester Zeit fertig. Die Stäbe reagierten wie erwünscht.
Bis auf einen. Dieser brach ab, doch das lange, obere Ende rutschte nicht in die Röhre hinein, sondern blieb auf dem Deckel des Brennelementes liegen. Charlotte glaubte, eine leichte Zitterbewegung zu sehen. Vielleicht schob das Wasser, das durch den Druckbehälter gepumpt wurde, den Stab hin und her.
Mist!, fluchte sie. Doch sie sah keine schnelle Möglichkeit, dieses Bruchstück in das Loch der Führungsröhre zu schieben. Dafür hätte sie mehrere Zeichnungen in Folge benötigt.
Also wandte sie sich der nächsten Stabgruppe zu. Nach und nach verschwanden diese in ihrer Zielposition.
Dann hatte sie alles getan, was sie tun konnte. Insgesamt waren elf der rund fünfzig Problemstäbe abgebrochen und lagen oder schwammen irgendwo im Kern herum. Die anderen aber fingen hoffentlich genügend Spaltungsneutronen ein, um die Zerfallsrate ausreichend zu senken.
Hoffentlich reicht das, dachte Charlotte. Und hoffentlich waren sie noch rechtzeitig in der Notabschaltungsposition angekommen.
Charlotte rannte zur Schleuse. Und noch während sie hineinsprang, zog sie die Außentür zu. Mit erhobenen Armen drehte sie sich vor den Strahlendetektoren, die auf unterschiedlichen Höhen angebracht waren.
Sie atmete auf, als sie das Ergebnis sah.
Ihr Anzug war sauber. Der Reaktordruckbehälter war demzufolge dicht, und noch war kein radioaktives Material in die Umgebung gelangt. So unterbrach Charlotte den Luftaustausch und verzichtete auf die Dekontaminationsdusche. Sie hieb auf die Notentriegelung und riss die Tür auf. Dann sprang sie in den Kontrollraum, öffnete hastig den Schutzanzug und stieg in höchster Eile heraus.
Die Plakette nahm sie aus dem Visier heraus und befestigte sie wieder an ihrer Uniform.
Mittelgelb, mit leichter Tendenz zum dunklen Ende.
Über zwei Einheiten intensiver als vor - sie schaute auf die Uhr - sieben Minuten.
Eine Strahlenexposition, die bei entsprechender Sensitivität durchaus schon unmittelbare Folgen haben konnte. Aber Charlotte war jung und gesund. Ihr Körper würde mögliche Zellschäden reparieren können.
Sie warf einen Blick auf die Temperaturanzeige des Kerns. Diese blinkte noch immer, aber der Wert hatte sich in den letzten Minuten nur wenig verändert, wenn auch nach oben. Allerdings arbeitete das Pumpsystem nur noch mit 37% seiner Maximalleistung.
Charlotte schulterte den Notfallrucksack, nahm den Geigerzähler sowie Block und Stift und rannte aus dem Kontrollraum auf den Hauptgang hinaus.
Noch 5 Minuten bis zur Abfahrt.
Ihre Schritte hallten laut in dem menschenleeren Korridor. Keuchend erreichte sie schließlich den nächstgelegenen Ausgang, folgte dem Zickzack und stolperte hinaus ins Freie. Charlotte wandte sich nach rechts und lief nach Süden. Als sie um das Gebäude herumgelaufen war, sah sie schon den grünen Militärjeep in etwa einhundert Metern Entfernung - das einzige Fahrzeug, das noch im Tal wartete. Sie erhöhte das Tempo, als es nur noch geradeaus ging.
Doch sie hatte erst die Hälfte des Weges zurückgelegt, als sie einen lauten Knall hörte.
Sofort warf sich Charlotte auf den Boden, machte sich so klein wie möglich, richtete den Kopf vom Reaktorgebäude weg, sodass der Rucksack als Schutz dienen konnte, und legte die Hände an die Ohren.
Wenig später folgte ein zweiter Knall - infernalisch laut.
Fragen schossen Charlotte durch den Verstand.
Wasserstoffexplosionen! Aber warum so früh? Laut den Berechnungen des Elektronengehirns hätte es noch gar nicht zu diesen kommen dürfen. Waren elf fehlende Steuerstäbe zu viel gewesen? Waren sie zu spät eingefahren? Oder hatte das Kühlsystem vollständig versagt? Würden weitere Explosionen folgen?
Nach einer Minute sprang sie vom Boden auf und blickte zum Jeep. Ein Soldat stand vor der Fahrertür und winkte ihr hektisch zu. Seine Lippen bewegten sich, doch Charlotte konnte ihn nicht verstehen. Sie hörte nur ein konstant lautes, hohes Fiepen in den Ohren. Für den Moment war sie taub.
Sie rannte zu dem Jeep und sprang auf den Beifahrersitz.
Der Soldat, ein Mann in den Zwanzigern mit den typischen kurzen Haaren und einem kantigen Gesicht, bewegte erneut die Lippen, doch Charlotte schüttelte den Kopf, deutete auf ihre Ohren und sagte bewusst leise: „Charlotte Bernstedt, Sanitätsreserve.“
Sie nahm eine Schachtel mit Jodtabletten aus ihrem Rucksack und gab dem Soldaten eine. Sie selbst nahm das vorbeugende Strahlenschutzmittel ebenfalls ein.
„John Lovell, Sicherheit“, las Charlotte von den Lippen ab. Der Leutnant, wie sie an seinen Rangabzeichen erkannte, hatte besonders langsam und deutlich gesprochen.
Er holte die Kamera und den Geigerzähler von der Ablage unter der Windschutzscheibe. Die Strahlung lag hier im unteren Bereich. Es war unklar, ob die Explosion zu einer Freisetzung radioaktiven Materials geführt hatte. Doch Lovell wollte dies herausfinden.
„Schutzanzug anlegen - Erkundung - Rundfahrt nach Explosion“, erläuterte der Offizier das weitere Vorgehen.
Charlotte nickte. Lovell war ihr vom Rang her übergeordnet. Auch wenn sie bei ihrem Aufenthalt neben dem Druckbehälter einer hohen Dosis Strahlung ausgesetzt gewesen war, ihre und Lovelss Plaketten erlaubten einem zeitlich begrenzten weiteren Aufenthalt. Colonel Banks brauchte möglichst aktuelle Angaben, wie es hier aussah, um geeignete Eindämmungsmaßnahmen treffen zu können. Und je früher er diese Informationen erhielt, desto besser.
Lovell startete den Jeep. Mit größtmöglichem Abstand zum Reaktorgebäude fuhr er die paar Hundert Meter über den asphaltierten Platz zum Gebäude der Sicherheit. Charlotte und er sprangen aus dem Wagen heraus und rannten in den Strahlenraum, den sie vor wenigen Tagen bei Chandlers Fehlalarm bereits genutzt hatte. Rasch waren die Plaketten im Visier angebracht und die Strahlenschutzanzüge verschlossen.
Zurück im Jeep nahm Charlotte die Kamera und photographierte das Reaktorgebäude. Auf dieser Seite sah alles unbeschädigt aus. Vielleicht würden Vergrößerungen der Bilder Risse in der Betonhülle zeigen, doch auch Charlottes scharfer Blick konnte nichts Ungewöhnliches erkennen.
Doch das änderte sich, als sie die erste Hälfte des Gebäudes umfahren hatten. An der Nordseite sahen sie die Bescherung.
Eine Außentür war regelrecht aus ihrer Verankerung gerissen worden und lag einige Meter vom Containment entfernt flach auf dem Boden. Die Angeln hingen schief im Beton. Das Schlimmste aber war, dass die beiden Soldaten einen ungehinderten Blick in das Gebäude hinein hatten. Die Explosion hatte die Innenmauer zerstört und sich geradlinig an der Außentür ausgetobt. Die Zickzackbauweise hatte hier zumindest nicht den erhofften Effekt gehabt.
Und der Ausschlag des Geigerzählers ging bis hoch in den roten Bereich. John fuhr sofort weiter, und die Radioaktivität sank. Noch lag das ausgebrachte Material genau in Explosionsrichtung. Aber es würde sich verteilen.
Hier ist alles verseucht!, dachte Charlotte. Und die Nacht und die Kälte kommen erst noch. Dann wird der Luftausstrom aus dem heißen Inneren noch zunehmen und alles aufwirbeln.
Sie wandte sich an Lovell und erklärte kurz ihre Einschätzung.
Der Leutnant war derselben Ansicht. „Wir können die Tür nicht hochwuchten und vor das Loch stellen. Dafür genügen zwei Leute nicht.“
Charlotte wusste das. Und auch mit ihrer Gabe konnte sie in dieser Situation nichts ausrichten. Es gab keine Möglichkeit, ein Bild zu zeichnen, das darauf applizierten Druck in eine Bewegung nach oben umwandelte. Dazu hätte sie tiefer als die Tür stehen müssen. Doch ein Loch im Boden gab es weit und breit nirgends.
Aber sie hatte eine andere Idee. „Wir fahren den Jeep vor das Loch. So nahe wie möglich. Unter den Wagen legen wir Decken und was wir sonst noch finden. Für zwei Minuten ist es direkt am Gebäude vertretbar. Wir haben die Anzüge, und die wandnahe Jeeptür bleibt geschlossen.“
Leutnant Lovell überdachte den Vorschlag kurz und stimmte ihm schließlich zu. Er wendete den Jeep, hielt dann direkt auf das Betoncontainment zu und fuhr langsam rückwärts zur zerstörten Stelle. Nur noch wenige Meter entfernt, lenkte er leicht ein, um den Wagen so nahe wie möglich an die Mauer zu steuern. Endlich stand der hintere Teil mit der grünen Plane unmittelbar vor dem Loch, das nun vollständig abgedeckt war. Charlotte öffnete die Beifahrertür, zog ihren Rucksack heraus und lief zum Heck. Sie kramte Decken im Laderaum zusammen, warf sie auf den Boden und schob sie mit den Füßen unter den Jeep. Lovell war unterdessen ebenfalls auf der Beifahrerseite ausgestiegen und wuchtete eine Kiste mit kleinerem Werkzeug herunter. Auch diese verschwand unter dem Wagenboden.
All dies bremste den Luftausstrom und bedeutete einen Zeitgewinn.
Charlotte schulterte den medizinischen Rucksack, Lovell sein Feldgepäck, und dann liefen beide dicht an der Betonmauer entlang um das Gebäude herum. Als sie auf der gegenüberliegenden Seite angekommen waren, deutete Lovell nach Osten.
„Wir nehmen den Bergpfad.“
Wieder nickte Charlotte. Boote und Hubschrauber hatten das Tal bereits verlassen, wie es der Evakuierungsplan vorsah. Mit dem Jeep wären sie die Versorgungsstraße zum anderen Ende des Tals und durch den Tunnel gefahren, aber zu Fuß war der mäandernde Bergweg die bessere Wahl, denn die Gesteinsmassen würden sie in Kürze schon vor der Strahlung und auch vor weiteren Explosionen schützen.
Sie überquerten den Fluss an der nächstgelegenen Brücke und kamen dem Fuß des höchsten Berges immer näher. Das Fiepen in Charlottes Ohren hatte nachgelassen,, und sie konnte bereits wieder laute Umgebungsgeräusche unterscheiden. Das Knirschen der Stiefel auf dem steiniger werdenden Boden lag gerade so über der Hörschwelle.
Die Strahlenbelastung sank kontinuierlich, und schließlich war ein Wert erreicht, der es erlaubte, sich der Schutzanzüge zu entledigen. Sie würden nun deutlich schneller vorankommen.
Der Leutnant zog das Funkgerät aus seiner Jacke und sendete eine kurze Nachricht: „Lovell an Sammelstelle. Bitte kommen!“ Doch aus dem Empfänger drang nur Rauschen. John Lovell wiederholte den Ruf, erhielt aber weiter keine Verbindung.
Die Schutzanzüge ließen sie im spärlichen Gras liegen und liefen weiter. Noch konnten sie das Reaktorgebäude in ihrem Rücken sehen.
Es war merklich kühler geworden. Die heiße Reaktorluft würde durch die Tür pfeifen, um den Jeep herum, und der Bereich direkt davor würde mit der Zeit noch stärker kontaminiert werden. Der Talboden war sehr windarm, einer der Gründe, warum die Forschungsstation genau hier gebaut worden war. Aber er war nicht windstill. Je nach Wetterlage konnte der radioaktive Fall-out in alle Richtungen getragen werden. Doch die hohen Berge stellten eine natürliche Barriere dar. Sie würden eine Kontamination des Gebietes außerhalb stark verlangsamen. Aber es drohte weiter die Gefahr erneuter Explosionen. Vielleicht würde der Betonpanzer nun, da er an einer Stelle bereits zerstört war, keinen Widerstand mehr leisten. Es war ohnehin schon ein Wunder, dass keine größeren Schäden entstanden waren.
Auch Lovell schien Ähnliches zu befürchten, wie sein verkniffenes Gesicht und das hohe Tempo, das er vorlegte, verrieten. Charlotte konnte gerade noch mithalten, denn der Leutnant war mehr als einen Kopf größer als sie, und seine Schritte waren deutlich länger als die ihren.
Keuchend und schwitzend erreichten sie schließlich den Fuß des Berges und folgten dem schmalen Pfad, der nun stark ansteigend in die Höhe führte. Rechts lag der Berg, links der immer steiler und tiefer werdende Abgrund.
Die Minuten vergingen, und der Abstand zum Reaktor stieg. Schließlich waren sie um die erste Biegung herum und damit aus direkter Sichtlinie zum Reaktorgebäude. Aber die gefährlicher werdende Umgebung und die zunehmende Dunkelheit der beginnenden Nacht zwangen Lovell das Tempo deutlich zu drosseln. Er holte zwei Stirnlampen aus seinem Feldrucksack und reichte Charlotte eine. Schweigend marschierten sie weiter. Die Lichtkegel der Lampen wanderten im regelmäßigen Wechsel von links nach rechts und zurück über den Boden, um den häufigen und nicht gerade kleinen Steinen ausweichen oder über sie hinwegsteigen zu können.
Steinbrocken rieselten an der Bergwand zur Rechten herunter, wurden aber von den engmaschigen Fangnetzen in ihrer Bahn so gelenkt, dass sie niemanden verletzten.
Plötzlich aber grummelte es laut in der Höhe, und erneut prasselten Steine herunter. Lovell schrie besorgt: „Schneller! Das klingt nach etwas Größerem.“
Charlotte hatte die Worte verstanden. Ihr Gehör normalisierte sich weiter. Sie löste die rechte Hand vom Schultergurt ihres Rucksacks, den sie die ganze Zeit gehalten hatte, um das Gewicht auf ihrem Rücken etwas zu verringern. Ihr Körper spannte sich, und sie wappnete sich für einen möglichen Sturz, der bei dem höheren Tempo immer wahrscheinlicher wurde, denn die Stiefel rutschten gelegentlich über Steinbrocken hinweg. Mit höchster Konzentration lief sie an der Bergwand entlang, den Kopf leicht nach links gedreht, sodass sie Pfad und Abgrund gleichermaßen im Blick hatte.
Wieder prasselte etwas unter dem Fangnetz herunter. Mehrere Brocken knallten unsanft auf Charlottes rechte Körperseite. Ein unterdrückter Schmerzensschrei entfuhr ihr. Auch Lovell hatte mit dem Steinschlag zu kämpfen, wie sein Stöhnen verriet.
Der Lärm aus der Höhe, der nun von vorne zu kommen schien, nahm zu.
„Bernstedt! Zurück!“, befahl Lovell plötzlich.
Charlotte stoppte, doch ihre Stiefel rutschten. Geistesgegenwärtig warf sie ihren Körper nach hinten, prallte gegen die Bergwand und konnte den Sturz stoppen. Sie drehte sich um und lief zurück. Lovell folgte ihr - doch plötzlich rissen die Fangnetze.
Stein um Stein stürzte zwischen den beiden Soldaten herab. Manche zersplitterten auf dem Boden. Die kleineren Stücke flogen umher. Charlotte riss ihre Arme hoch, um das Gesicht zu schützen. Aber sie hatte Glück. Der Steinschlag fand nur in ihrem Rücken statt, und da schützte sie der Rucksack.
Nach einer Minute hörte das Prasseln auf.
„Lovell!“, rief Charlotte den Pfad hinauf. „Sind Sie verletzt?“
Sie lauschte in die Dunkelheit hinein. Es dauerte ein paar Sekunden, bis der Leutnant mit schwacher Stimme antwortete: „Nicht direkt.“ Ein keuchender Atemzug war zu hören. „Aber mein Brustkorb... fühlt sich... eng an.“
Herzinfarkt!, dachte Charlotte alarmiert. Über das Wie und Warum eines Herzschlags bei einem Soldaten, der vor seiner Stationierung im Tal ebenfalls einen Gesundheitscheck absolviert und offensichtlich bestanden hatte, dachte sie in dieser Situation nicht nach. Sie musste helfen. Es kam auf jede Minute an.
„Ich bin gleich bei Ihnen“, rief sie. „Legen Sie sich flach auf den Boden. Öffnen Sie Ihre Uniform und atmen Sie ruhig und tief.“
Charlotte lief zur Unglücksstelle, doch eine Unmenge an Steinen, manche so groß wie ein Kühlschrank, versperrten ihr den Weg. In großen Sprüngen huschte der Kegel ihrer Stirnlampe über das Hindernis. Mindestens sechs Meter musste sie klettern. Charlotte nahm den Rucksack ab und warf ihn auf den Geröllberg. Dann kletterte sie auf den ersten Stein.
„Lovell, liegen Sie?“, fragte sie und kletterte ein Stück weiter. Sie lehnte sich an die Bergwand, zog den Rucksack zu sich, wuchtete ihn auf die andere Seite und legte ihn wieder ab. Ihr Gepäck war schwer, und ohne würde sie es sicherlich schneller hinüberschaffen. Aber sie benötigte die Medikamente darin. Und ein Herumsuchen, um nur das Notwendigste mitzunehmen und den Rest später zu holen, wenn Lovell versorgt war, würde viel Zeit kosten.
„Lovell?“, rief Charlotte erneut, doch der Leutnant antwortete nicht mehr.
Ist er bewusstlos?, fragte sie sich. Schlägt sein Herz noch? Atmet er selbsttätig?
Sie wusste nicht, wie lange der Leutnant die Luft anhalten konnte, war sich aber sicher, dass er noch ein, zwei tiefe Atemzüge gemacht hatte, bevor er möglicherweise ohnmächtig geworden war. Zwei, vielleicht drei Minuten hatte sie Zeit, dann musste sie spätestens Notfallmaßnahmen durchführen, oder der Soldat würde sein Leben verlieren.
Doch in dieser Zeit konnte sie es unmöglich über das Steinhindernis schaffen. Es war nun stockdunkel, und zwischen den Steinen klafften Lücken. Die größeren musste sie durchklettern, und wenn ein Bein in einer der schmaleren Spalten hängenblieb, konnte sie sich den Fuß brechen. Und dann war Lovell mit Sicherheit verloren. Charlotte leuchtete nach vorne, wo sie den Leutnant vermutete. Er lag auf dem Rücken, die Arme neben sich gelegt, die Uniformjacke offen. Sein Feldrucksack lag neben ihm.
Sie musste es auf eine andere Art als durch Klettern versuchen.
Charlotte nahm Block und Stift aus ihrer Tasche und zeichnete Lovells Oberkörper: die Messplakette unter der linken Schulter, die Rangabzeichen, den Schnitt der Uniform und die Umrisse der Taschen. Nur 25 Sekunden benötigte sie, dann riss sie das Blatt ab und signierte es mit zitternden Händen. Sie nahm es zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand, presste die Finger rhythmisch zusammen und ließ wieder los. Die Kopplung würde diese Kraft auf Lovells körper übertragen und seinen Brustkorb im selben Rhythmus eindrücken.
Ob diese Fernherzdruckmassage die richtige Entscheidung war, konnte Charlotte nicht sagen, denn sie wusste nicht, ob das Herz seine Funktion eingestellt hatte oder nicht. Aber sie konnte auch nicht warten, bis sie bei dem Leutnant angekommen war.
Mit dem Ellenbogen des rechten Arms stützte sie sich an der Bergwand ab, während sie weiter das Papier presste und losließ. Vorsichtig, aber so schnell sie glaubte, es vertreten zu können, kletterte sie weiter. Mit der linken Hand riss sie den Notfallrucksack förmlich über die Steine. Es schrammte laut, als das Material an einer scharfen Kante aufgerissen wurde. Charlotte setzte den nächsten Schritt, doch ihr linker Stiefel glitt ab. Sofort riss sie das Knie hoch und streckte das Bein voll aus. Die Sohle des Stiefels knallte gegen einen größeren Stein, und Charlotte schob die Hüfte nach vorne, um den Spagat zu stabilisieren. Schweiß lief ihr in Strömen über das Gesicht, aber sie hatte den Sturz gerade noch abfangen können. Verbissen kletterte sie weiter und hatte es schließlich geschafft.
Sie stürzte zu Lovell, holte tief Luft und beatmete den weiter reglos daliegenden Soldaten sofort durch die Nase. Währenddessen legte sie zwei Finger auf seine Halsschlagader und versuchte, den Puls zu spüren.
Doch da war nichts.
In fieberhafter Eile führte Charlotte nun eine direkte Herzdruckmassage durch. Dreißig Mal presste sie Lovells Brustkorb ein und beatmete danach erneut. Nach weiteren dreißig schnellen Pressstößen lief sie zu ihrem Rucksack, zerrte ihn zu Lovell und holte eine Adrenalinspritze heraus. Sie injizierte das anregende Mittel und hoffte, dass es Lovells Kreislauf unterstützte und es noch nicht zu spät war. Die Notfallmaßnahmen setzte sie ohne Pause fort - Beatmen, Massieren, Beatmen, Massieren.
Parallel dazu griff sie nach dem Funkgerät und rief keuchend hinein: „Bernsted und Lovell an Sammelstelle. Medizinischer Notfall. Kommen!“
Doch noch immer kam nur Rauschen aus dem Äther. Der Berg schirmte zu stark ab.
Charlotte warf sich den Rucksack verkehrt herum über und trug ihn nun vor der Brust. Sie griff Lovell unter den Achseln und zog ihn, selbst vorwärts gehend, hinter sich her.
Ein Schleppschlitten wäre jetzt hilfreich, dachte sie und lachte trocken auf.
Nach einhundert schnellen Schritten stoppte sie, beatmete zweimal und führte erneut die Druckmassage durch. Sie wollte gerade weitergehen, da schoss ihr durch den Kopf: Die Zeichnung! Verdammt, die ist noch aktiv.
Charlotte lief zum Hindernis zurück und leuchtete den Bereich ab. Es dauerte nicht lange, bis sie das Blatt ausgemacht hatte. Sie riss die Ecke mit ihrer Unterschrift ab und ließ die Fetzen zu Boden fallen. Diese Aktion hatte wertvolle Zeit gekostet. Aber es wäre für Lovell zu gefährlich gewesen, das Bild in aktivierter Form irgendwo herumliegen zu lassen. Falls es noch einmal zu einem Steinschlag kommen sollte und ein Brocken das Blatt traf, könnte der Leutnant auf diese Art sogar erschlagen werden.
Mechanisch lief Charlotte weiter, zog den bewusstlosen Lovell und wiederholte ihre medizinischen Maßnahmen. Sie fühlte immer wieder den Puls, und einmal glaubte sie, ein ganz schwaches Pochen ertastet zu haben.
Charlotte klammerte sich an diesen kleinen Erfolg und machte weiter.
Sie verlor jegliches Zeitgefühl. Mit eiserner Willenskraft hielt sie sich auf den Beinen. Sie keuchte wie verrückt, und nach fünf Schleifen-Beatmen-Zyklen musste sie eine kleine Pause einlegen. Mit pfeifendem Atem hockte sie für ein paar Sekunden auf dem Boden, nahm die wassergefüllte Feldflasche aus dem Rucksack und trank sie halb leer.
Doch Aufgeben war keine Option.
„Nein!“, sagte sie laut. Ihre Stimme verriet absolute Entschlossenheit. Aber ihr Gesicht zeigte, dass sie so langsam an ihre Belastungsgrenze kam. Charlotte griff zum Rucksack, nahm eine weitere Spritze heraus und injizierte sich das Aufputschmittel. Es würde die Erschöpfung übertünchen, sodass sie schneller vorankommen konnte. „Das hier wird nicht dein Ende sein, John Lovell. Das lasse ich nicht zu! Es geht weiter!“
Charlotte klopfte sich mehrfach auf die Wangen, wie es manche Sprinter vor dem Start eines wichtigen Rennens taten. Die Wirkung des anregenden Mittels hatte eingesetzt. Energiegeladen sprang sie auf und machte sich wieder auf den Weg.
Sie wusste nicht, wie oft sie den Zyklus durchlaufen hatte, aber endlich erhielt sie eine Antwort auf ihre Funkrufe.
„Sammelstelle, Sergeant Davies. Berichten Sie!“
„Medizinischer Notfall. Vermutlich Herzinfarkt bei John Lovell, Leutnant der Sicherheit. Ich habe Notfallmaßnahmen eingeleitet.“
„Wir peilen Ihren Standort an. Sprechen Sie weiter!“, erwiderte Davies.
Charlotte berichtete im Detail, beschrieb Lovells Zustand, ihre Flucht und das, was sie im Tal erkundet hatten. Sie erfuhr, dass sie und Lovell die letzten Personen waren, die noch nicht an der externen Sammelstelle warteten.
Wenige Minuten später hörte Charlotte das charakteristische Klopfen der Rotoren eines Hubschraubers und sah bald darauf den grellen Scheinwerfer. Suchend glitt das Licht über die Berge, und schließlich landete die Maschine etwa dreißig Meter höher auf einem gerade ausreichend großen Plateau. Soldaten ließen sich mit Seilen an der Bergwand herab, und Charlotte konnte die Verantwortung für Lovells Leben abgeben.
Der Leutnant und sie wurden per Seilwinde in den Hubschrauber gezogen, der sofort danach Kurs auf das Basislager nahm. Charlotte überreichte dem Kommandanten des Rettungsteams die Kamera mit den Aufnahmen des Reaktorgebäudes.
Der Flug dauerte nicht lange, und nach der Landung nahm Charlotte auf Befehl Colonel Banks' hin eine ausgiebige Dekontaminationsdusche, zog frische Kleidung an und begab sich zu einem anderen Hubschrauber, der nur noch auf sie wartete.
Hoffentlich schafft John es, dachte sie noch, als sie sich auf einen freien Platz im Laderaum der Maschine setzte. Sie schloss den Sicherheitsgurt um die Hüfte, setzte das Headset auf, legte den Kopf in den Nacken - und war Sekunden später eingeschlafen.
Den Flug zum Militärkrankenhaus bekam sie nicht mehr mit. Aber wie Lovell war sie in guten Händen. Und außer einer tiefen Erschöpfung konnten die Ärzte bei Charlotte glücklicherweise nichts Bedrohliches feststellen.
***
Gestützt von einem Pfleger betrat John Lovell auf Krücken den großen Festsaal. Der Leutnant trug Galauniform, wie auch alle anderen Anwesenden im Publikum oder die Mitglieder des Militärmusikkorps. Charlotte lächelte dem Soldaten zu, den sie am Vortag bereits kurz im Hospital besucht hatte. Lovell hob einen Arm zur Begrüßung. Charlotte wusste, dass die Rehabilitationsmaßnahmen erste Erfolge zeigten. Gehen und Sprechen waren John in bescheidenem Maße wieder möglich. Doch wie weit die Genesung gehen und ob die Lähmung der linken Gesichtshälfte sich zurückbilden würde, konnten die Ärzte nicht sicher sagen. Es war möglich, dass die Mangelversorgung des Gehirns mit Sauerstoff bei seinem Infarkt in den Bergen einen hohen Preis nach sich zog.
Die Deckenbeleuchtung wurde gedimmt. Nur die kleine Bühne am Saalende erstrahlte in hellem Licht. Der Vorsitzende der Untersuchungskommission, Dr Riverdale, trat zum Rednerpult.
„Meine Damen und Herren, nach Rücksprache mit der Regierung haben wir uns dazu entschlossen, zuerst Sie als die unmittelbar Betroffenen über die nun gesicherten Ergebnisse der zweimonatigen Untersuchung zu unterrichten.“
Er ließ seinen Blick über die gefüllten Zuschauerreihen schweifen. „Sie alle können den Bericht später in Gänze einsehen, ich möchte Ihnen vorab nur eine kurze Zusammenfassung geben.
Ursächlich für das Reaktorunglück waren Materialfehler sowohl in der Absenkvorrichtung der Steuerstäbe als auch in beiden Kühlsystemen. Ein solches Mehrfachversagen auch noch redundanter Systeme war in der Konstruktionsphase als unmöglich eingestuft worden. Ein katastrophaler Fehler, wie wir heute wissen.
Dass es nur zu einer einzigen starken Wasserstoffexplosion gekommen war, lag mit hoher Wahrscheinlichkeit daran, dass die Steuerstäbe bei Erwärmen des Reaktors ihre Verkantung vermutlich wieder gelöst und aufgrund der Notfallabschaltung doch in ihre Zielposition gefallen waren. Das wird sich jedoch nicht mehr mit letzter Sicherheit klären lassen.
Die Geschwindigkeit, mit der weiteres radioaktives Material in die Umwelt gelangte, konnte durch das beherzte Eingreifen Ihrer Kameraden Bernstedt und Lovell so stark verlangsamt werden, dass die Experten, nach Eindämmen der Kernschmelze durch mehrmalige Flutung des Reaktors mit Flusswasser, eine vollständige Dekontamination des Tals noch in diesem Jahr für möglich halten. Die Messungen außerhalb des Tals waren durchweg im Normbereich. Eine besonders windarme Wetterlage hat uns diesbezüglich geholfen.
Die Kommission empfiehlt für zukünftige Nuklearversuche zwei Maßnahmen: Kritische Sicherheitssysteme müssen dreifach angelegt und regelmäßig für längere Zeit im echten Betrieb eingesetzt werden. Außerdem empfehlen wir auf Reaktorsysteme umzusteigen, in welchen das Spaltmaterial mit einem inerten Träger verschmolzen ist, der sich bei Erwährmung stark ausdehnt und so die Rate des Zerfalls auf rein passiv-physikalischem Weg senkt.“
Wieder blickte er in die Zuschauerschar, doch es blieb ruhig. Riverdale wandte sich an den Premierminister, der bis dahin am Rand der Bühne gewartet hatte. Dieser nahm den Bericht entgegen und dankte mit wenigen Worten. Dann übergab er bereits an den Generalgouverneur.
„Ich habe die große Ehre, zwei Auszeichnungen zu verleihen“, sagte der Vertreter der englischen Königin.
„Leutnant John Lovell erhält die Medaille der militärischen Tapferkeit. Das Verschließen des Explosionslochs sowie die Informationsgewinnung direkt nach der Explosion haben die Eindämmungsmaßnahmen wesentlich erleichtert.“
Lovell erhob sich aus seinem Stuhl. Der Pfleger hielt sich zurück und lief nur neben Lovell, der die Strecke bis zu Bühne alleine zurücklegte. Nur die drei Stufen hinauf ließ er sich helfen. Gerührt nahm er die Medaille, die auf blauem Samt lag, entgegen, und trat einen Schritt zurück.
„Stabsunteroffizierin Charlotte Bernstedt erhält das Viktoria-Kreuz. Wie sie ihren lebensgefährlich verletzten Kameraden unter größten Mühen den Bergfad entlang transportiert hat - und das unter Anwendung medizinischer Notfallmaßnahmen - ist einzigartig.“
Auch Charlotte, die in der vordersten Reihe saß, stieg zur Bühne hinauf. „Vielen Dank“, sagte sie nur, als sie die höchste Auszeichnung des Landes entgegennahm.
„Außerdem freut es mich, Ihnen Ihre Beförderungsurkunde zum Sergeant überreichen zu dürfen. - Und wenn Sie mir diese Bemerkung erlauben, Miss Bernstedt. Möchten Sie nicht von der Reserve in den aktiven Dienst wechseln?“
Charlotte lächelte. „Ich werde darüber nachdenken, Sir.“
Dann trat sie zur Seite neben John Lovell. Beide lauschten ergriffen, als die Nationalhymne gespielt wurde.
John wandte den Kopf zur Seite und flüsterte ihr ins Ohr: „Danke.“
Und da erlaubte sich Charlotte, obwohl sie in einem Raum voller Militärs war, für welche Selbstbeherrschung zur zweiten Natur geworden war, einen Moment der Schwäche. Ihre Augen füllten sich mit Wasser, und Tränen der Rührung rannen ihr die Wangen herunter.
ENDE