Cherubs Gesang

Margit

Mitglied
Cherubs Gesang



Langsam glaube ich, ich werde verrückt. Anders kann ich mir die Vorfälle der letzten Tage nicht erklären. Irgendetwas stimmt hier nicht. Etwas läuft gewaltig schief. Und es macht mir Angst. Bin ich tatsächlich dabei durchzudrehen? Was stimmt nicht mit mir?

Dabei begann alles ganz harmlos oder besser gesagt, wie immer. Nach einer langen Fahrt über italienische Autobahnen und einer kurzen Überfahrt durchs Mittelmeer erreichten wir unser Urlaubsdomizil auf dieser wunderbaren französischen Insel. Wir, das sind die Zwillingssöhne meiner besten Freundin und ich. Einmal im Jahr fahre ich mit den beiden Jungs, die gleichzeitig meine Patenkinder sind, in Urlaub und meine Freundin ist als alleinerziehende Mutter darüber recht froh. Meine eigene Ehe blieb während ihres neunjährigen Bestehens kinderlos, ein Umstand, über den ich nicht glücklich bin und den ich wohl mit meiner Fürsorge für die beiden ein wenig kompensiere. Ein etwas ungewöhnliches Trio sind wir schon, doch in dieser Konstellation haben wir bereits einige schöne und entspannte Urlaube verbracht. So sollte es wohl auch diesmal sein. Die ersten Tage waren sonnig und wir genossen die Langsamkeit des Seins, das glitzernde Meer, den bunten Kieselstrand, die französische Sonne. Ich freute mich an den beiden Jungs, die mit ihren 12 Jahren eine bezaubernde Mischung aus kleinen Kindern und großmäuligen Halbstarken waren und hatte gleichzeitig genug Muße, mich in ein Buch zu verkriechen oder hinter meiner Sonnenbrille Tagträumen nachzuhängen. Wir badeten im Meer und in den für die Insel berühmten Gumpen, spielten Rommee und genossen die französische Küche. Hin und wieder konnte ich meine beiden Reisebegleiter sogar zu einem gemeinsamen Spaziergang überreden. Hier ereignete sich ein erster, seltsamer Vorfall, den ich zunächst schnell wieder vergaß. Wir wanderten bei brütender Hitze durch die Macchia und trafen, wie so oft im Süden, auf Überbleibsel vergangener Zeiten. Alte, halb verrottete Militärfahrzeuge weckten unser Interesse, bevor wir eine verfallene große, aus Sandstein gebaute Anlage entdeckten. Teilweise waren nur noch Mauerreste übrig und ein paar Tunneleingänge, in die wir uns allerdings nicht hineinwagten. Das stimmt nicht ganz, die Jungs wollten sie natürlich erkunden, aber mir war nicht wohl bei der Sache und ich verbot es. Als wir auf einem, mit Büschen überwachsenen Platz ankamen, der eine Art Innenhof gewesen zu sein schien, kam uns ein alter Mann entgegen. Er wirkte ärmlich gekleidet, abgemagert und verhärmt. Er sah mich und sprach mich auf Französisch an. »Bist du wieder da.«, meinte er und sah mich mit müden und etwas traurigen Augen an. Seine Aussage war mehr eine Feststellung, denn eine Frage. Ich war etwas perplex, meinte nur »Äh, oui.« und machte mich aus dem Staub. Der Alte war mir ein wenig unheimlich. »Was war das denn für ein seltsamer Vogel?«, sagte ich zu den Jungs, doch die verstanden nicht, was ich meinte. Sie schienen den Alten nicht bemerkt zu haben. Wir stöberten noch ein wenig auf dem Gelände herum, malten uns aus, wobei es sich bei dem alten Gemäuer wohl handeln konnte und machten uns allmählich wieder auf den Rückweg. Von dem Alten war die ganze Zeit nichts mehr zu sehen. Nach einem üppigen Mahl am Abend mit Pizza, schmackhaftem Käse, Oliven und einer halben Flasche Rotwein versank ich in einen unruhigen Schlaf mit wirren Träumen. Ich hörte metallisches Klopfen handwerklicher Geräte verbunden mit Schreien und Stöhnen. Verschwitzt und mit Herzklopfen erwachte ich und ging auf die Terrasse unserer Unterkunft, um mich zu beruhigen. In der mondhellen Nacht konnte ich durch Pinien hindurch schwach das rauschende Meer erkennen. Zikaden zirpten und ich sog die salzige Luft gierig ein. Langsam kam ich etwas zur Ruhe und der Alte vom Nachmittag fiel mir wieder ein. Was tat er an diesem verlassenen Ort? Er kam mir nicht wie ein Wanderer vor. Und diese seltsame Aussage »Bist du wieder da.« Was sollte das? Er muss mich wohl verwechselt haben. Aber warum bringt mich die Begegnung so durcheinander?

Am nächsten Tag gingen unsere Vorräte zu Neige und wir machten uns auf den Weg in den nahegelegenen Ort, um Lebensmittel zu kaufen und bei einem Stadtbummel südliches Flair zu genießen. Die alte Ruinenanlage, die wir tags zuvor entdeckt hatten, interessierte uns und wir erkundigten uns in einer Tourist-Info darüber. Wir erfuhren, dass es sich um die Ruine eines Silberbergwerkes handelte. Bis Mitte des vorigen Jahrhunderts wurden dort Silber und Erz abgebaut. Eine Broschüre über die Mine beschrieb die verfallenen, aber zum Teil noch erhaltenen Wirtschaftsgebäude, die Stollenanlage, die wirtschaftliche Bedeutung der Mine für die Insel und die Arbeitsweise des Abbaus. Wie so oft, herrschten auch hier teilweise unmenschliche Arbeitsbedingungen. Die Minenarbeiter mussten körperlich harte Arbeit in heißen Fabrikhallen oder unter Tage absolvieren, der Lohn war karg und auch Kinderarbeit war nicht unüblich. Viele Menschen fristeten auf der Anlage ein anstrengendes und freudloses Dasein, das keine lange Lebenserwartung nach sich zog. Schwere oder tödliche Unfälle durch miserable Arbeitsbedingungen waren ebenfalls an der Tagesordnung. Versonnen blickte ich auf die Bilder in dem kleinen Blättchen und ein Begriff schlich sich über mein Unterbewusstsein in meine Gedanken: das Schinderhaus.

Ich fragte, ob Führungen durch die Mine angeboten wurden, aber die Dame verneinte. Auf dem ehemaligen Verwaltergebäude laste ein Fluch, sagte sie. Immer wieder sei es in der Mine zu Unfällen gekommen, Tragödien sollen sich dort abgespielt haben und Spaziergänger erzählten von wehklagendem Gesang, der aus dem Gebäude zu hören sei. Natürlich gäbe sie nichts auf diese Dinge, ergänzte sie etwas verlegen, aber man wisse ja nie. Man müsse das Schicksal nicht herausfordern. Innerlich schmunzelte ich ein wenig über den Hang zum Aberglauben, den viele Menschen in sich trugen und verabschiedete mich von der freundlichen Dame.

Als die beiden Jungs kurz danach am Marktplatz um ein Eis anstanden, sah ich ihn wieder. Er sah genauso abgerissen aus wie tags zuvor und kam direkt auf mich zu. »Kennst du mich nicht mehr?«, meinte er, diesmal leicht aggressiv. In meinem rudimentären Schulfranzösisch stammelte ich etwas wie »ich weiß nicht« und wusste nicht, wohin mit mir. Flucht war an diesem Platz nicht so leicht möglich, ich hatte ja auf die Kinder zu warten. Er überschüttete mich mit einem Wortschwall, von dem ich nur die Hälfte verstand. Ich hatte den Eindruck, er machte mir Vorwürfe und wurde zunehmend verwirrter. Endlich sah ich die beiden Burschen nahen und hatte die Hoffnung, ich könne mich mit ihnen abseilen. Simon verzog fragend sein Gesicht, als sie näher kamen. »Was ist los? Mit wem sprichst du, Raffaela?«, fragte er. » Na ja,«, sagte ich, »der seltsame Typ hier hat mich die ganze Zeit vollgequatscht. Ich weiß nicht, was der von mir wollte.«

»Welcher Typ?«

»Na, der der bei mir stand.«

»Ich habe niemanden gesehen. Du, Paul?«

»Nein«, meinte Paul etwas geistesabwesend, er war damit beschäftigt, zwei jungen Mädchen zuzulächeln, die ganz offensichtlich ebenfalls hier im Urlaub waren.

Es irritierte mich, dass die Jungs den Mann nicht gesehen hatten, er stand doch bis gerade eben neben uns. Aber auch ich konnte ihn jetzt nicht mehr ausmachen. Konnte er so schnell in einer der Gassen verschwunden sein?

Den Abend wollten die beiden Kinder auf einer Freiluftparty verbringen, die von dem Campingplatz, an dem wir uns eingemietet hatten, organisiert wurde. Frisch geduscht und gestylt, in eine Wolke von Deo und Parfüm eingehüllt, zogen sie übermütig los. Ich überlegte, ob ich mich gleich ins Bett verkrümeln sollte, beschloss dann aber, mir im Kiosk noch ein paar Knabbereien für den Abend zu besorgen. Das Thermometer zeigte immer noch knapp 30 Grad als ich mich auf den Weg über die Anlage machte. Überall saßen noch Menschen vor ihren Hütten oder Zelten, grillten oder ratschten, aus dem Restaurant tönte bereits Partymusik. Die französischen und italienischen Urlauber waren noch mit ihren Abendessenvorbereitungen beschäftigt, während ich als typische Deutsche bereits vor Stunden mein Abendbrot hatte. »So what,« dachte ich mir, »andere Länder, andere Sitten.« Ich hatte mir längst abgewöhnt, mich für vermeintlich deutsche Eigenschaften insgeheim zu schämen. Am Kiosk angekommen wählte ich ein paar feine Salznüsse, etwas Nougat und einige frische Feigen und fuhr erschrocken zusammen, als mich an der Kasse anstehend, plötzlich der Alte am Arm packte. Ich schrie auf und schlug nach ihm. Die Dame hinter mir sah mich befremdet und etwas misstrauisch an. Mein Herz klopfte wild und ich schrie ihn auf Deutsch an, er solle mich gefälligst in Ruhe lassen. Der Alte schrie auf Französisch zurück, kalten Zorn sah ich jetzt in seinen Augen. Plötzlich merkte ich eine etwas befremdete Stille um mich herum. Ich war an der Reihe zu zahlen und die Dame an der Kasse starrte mich an. »Madame, vous allez bien?«, wollte sie wissen und ich hatte plötzlich den Verdacht, dass sie den Alten ebenso wenig sah, wie am Nachmittag meine beiden Jungs. Verwirrt zahlte ich schnell, kramte meine Sachen zusammen und hastete davon. Das Herz klopfte mir immer noch bis zum Halse und ich hatte Schweißausbrüche. Der Alte folgte mir nicht, zumindest sah ich ihn nicht mehr. Der Abend war mir gründlich versaut und ich bekam es langsam mit der Angst zu tun. Was war hier los? Was wollte der Alte von mir? Konnte es wirklich sein, dass nur ich ihn sehe? Und was, wenn es ihn gar nicht gibt? Wenn ich mir nur einbilde, ihn zu sehen? Werde ich verrückt? Habe ich Halluzinationen oder Wahnvorstellungen?

Ich fiel in einen unruhigen Schlaf. Die Rückkehr der Kinder, die Zähne putzten, aufs Klo mussten, noch Durst hatten, vermischte sich mit anderen Stimmen, die aufgeregt riefen. Einigermaßen gerädert erwachte ich am nächsten Morgen und merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Barfuß schlich ich in das Zimmer der Jungs und sah zerwühlte aber leeren Betten. Dabei hatte ich sie doch nachts gehört. Wo waren sie? Da mich sofort großes Unbehagen beschlich, konnte ich nicht an die Variante ‚sie holen Croissants‘ oder ‚sie sind vor dem Frühstück an den Strand gegangen‘ glauben. Und fast schon wunderte ich mich nicht mehr als ich draußen den Alten stehen sah. Er deutete mir an mitzukommen. Meine Sorge um die Kinder überwog meine Angst vor ihm, so dass ich mir schnell etwas überzog und ihm folgte. Wir verließen den Campingplatz, überquerten die Straße und stiegen bergan durch die Macchia. Nach der zweiten Wegkreuzung merkte ich, dass wir den Weg Richtung Silberbergwerk gingen. Hatten die zwei sich dort verlaufen? Hatten sie einen Unfall gehabt? Hat die Neugierde sie in einen der stillgelegten Stollen geführt? Nein, irgendetwas war anders. ‚Schinderhaus‘ ging mir wieder durch den Kopf. Meine Gedanken verursachten ein ziemliches Chaos in meinem Kopf, deutsche und französische Wörter mischten sich, und ein einziges Kauderwelsch jagte durch mein Hirn. Der Alte sagte die ganze Zeit nichts. Wir sahen die Anlage in der Ferne auftauchen, doch sie kam mir seltsam verändert vor. Die Gebäude hatten Dächer und Schornsteine, sie sahen nicht mehr beschädigt aus. Wieder hörte ich metallisches Klopfen und Stimmengewirr, wie die Nächte zuvor in meinem Träumen. Als wir näherkamen sah ich, wie die Anlage vollständig vor mir stand, unbeschädigt, unversehrt und voller Menschen, die hier arbeiten.

Und nach wie vor dieses Chaos in meinem Kopf. Alles geht quer, ich weiß nicht mehr, wer ich bin und was ich denke. Der Alte neben mir, er widert mich an. Ich weiß plötzlich, dass er Edouard heißt und dass ich ihn hasse. Warum? Woher weiß ich das? Wer bin ich überhaupt? Ich bin Raffaela und mache hier mit meinen zwei Jungs Urlaub, mahne ich mich zur Ruhe und versuche, mich in die Wirklichkeit zurück zu holen. Gleichzeitig kann ich das Gefühl des Hasses auf den Mann neben mir nicht verdrängen. Ich empfinde nur Abscheu und Verachtung für ihn. Seit mehr als zwei Jahrzehnten ertrage ich diese armselige Kreatur neben mir. Nein, ich bin Raffaela und mache hier mit meinen zwei Jungs Urlaub. Ich bin an ihn gekettet und muss mir diese verhasste Visage Tag für Tag ansehen. Seit er an einem warmen Juni-Abend vor knapp 25 Jahren meinte, er müsse seine Übellaunigkeit an einem 17-jährigen Mädchen abreagieren, sie bedrängen, seine schmutzigen Finger an ihre Brust pressen, ihr seinen alkohol-geschwängerten Atem ins Gesicht stoßen und an ihrer Kleidung zerren, bis er einen Weg frei hatte, um das zu tun, was er tun wollte. Nein, ich bin Raffaela und mach hier mit meinen zwei Jungs Urlaub. Das Mädchen war so dumm, ihren Eltern davon zu erzählen und sah sich ein halbes Jahr später mit diesem Unmenschen verheiratet. Und trotz seines widerwärtigen Tuns schaffte er es im Laufe der folgenden Jahre nicht, ihr ein Kind zu machen. Vielleicht wäre dann manches anders gekommen. So jedoch hatte sich mein Hass und meine Verachtung über die Jahre ins Grenzenlose gesteigert und ergoss sich auf alles, das mir über den Weg lief. Hey, was soll das? Ich bin Raffaela und mache hier mit meinen zwei Jungs Urlaub. »Urlaub, was soll das sein?«, höhnte eine Stimme in mir. »Urlaub ist etwas für die feine Gesellschaft und nicht für unsereinen. Es muss gearbeitet werden, wer auf der faulen Haut liegt, hat es nicht verdient zu essen.«

Wir erreichen das Fabrikgelände und dort herrscht helle Aufregung. Ein Mann kommt auf uns zu. »Edouard, Lucille, es gab einen Einsturz«, ruft er uns aufgeregt zu, »die Arbeiter in Stollen 3 sind verschüttet.« Auch mich erfasst eine nie gekannte Angst und Unruhe, und dass ich plötzlich andere Kleidung trage wie zum Zeitpunkt, als wir den Campingplatz verließen, registriere ich nur noch nebenbei. Normalerweise schere ich mich nicht um ein paar tote Arbeiter, Unglücke kommen in Minen wie dieser nicht selten vor. Für einen toten Minenarbeiter stehen drei vor den Toren, die auf Arbeit warten. Sie sind alle ersetzbar. In ihren Familien ist das Geschrei natürlich erst mal groß, wenn einer ums Leben kommt, fällt doch der Rest des kargen Lohnes, der nicht versoffen wurde, weg. Und meist ist eine große Schar an hungrigen Kindern zu versorgen. Mich stört das nicht groß, denn umso eher stehen auch die Kinder vor unseren Toren und betteln um Arbeit. Das ist uns nur recht. Umso kleiner die Arbeiter, umso kleiner können die Stollen sein. Und jeder Stollenausbau kostet natürlich Zeit und Geld. Unzählige Kinder haben sich bei uns schon zu halben oder ganzen Krüppeln geschuftet, ohne Perspektive dieser Misere jemals zu entkommen. Aber das Leben ist nun einmal ungerecht. Ich habe das nicht verursacht und ich kann es auch nicht ändern.

Nur einen von den Burschen habe ich insgeheim ins Herz geschlossen, ohne dass ich das natürlich jemals zugeben würde. Er rührte mich von Anfang an, wie er mit seinem dunklen Lockenkopf vor mir stand und mich aus seinen rehbraunen, sensiblen Augen voller kindlichem Vertrauen ansah und um Arbeit bat. »Dieser Junge gehört nicht in eine Mine«, dachte ich mir und hätte ihn am liebsten in die Arme genommen. »Er gehört überhaupt nicht in dieses harte Leben.« Mir war von Anfang an klar, dass er ein Kind des Himmels war. Ein verletzbarer Junge, der auf dieser Welt nichts verloren hatte. Und er war das Kind, das ich nie bekommen durfte.

Natürlich haben wir den kleinen Joseph genommen, schlechte Arbeit ist immer noch besser als keine Arbeit, auch für ein Kind. Ich beobachtete ihn jedoch genau und eine nie gekannte Zärtlichkeit erfasste mich jedes Mal, wenn ich ihn ansah. Wenn er sich unbeobachtet fühlte, sang er vor sich hin. Wie kann ein Kind, das diesem harten Leben ausgesetzt ist, auch noch singen? Und woher kannte er all die schönen Melodien? Obwohl seine Sprechstimme eher leise war, hatte er eine kräftige, wohlklingende Singstimme. Ich liebte es, ihm zu lauschen, sein Gesang kitzelte lieblich an meinen Ohren und ließ die harte Schale, die ich mir zugelegt hatte, etwas bröckeln. Ich gab acht, dass seine Arbeit nicht so schwer, wie die der anderen, war. Ich holte ihn regelmäßig unter einem Vorwand zu mir ins Verwalterhaus (ich wusste sehr wohl, dass die Arbeiter unser Haus insgeheim Schinderhaus nannten, aber es scherte mich nicht.), um ihm eine kleine Pause zu verschaffen und ihm etwas Essen zuzustecken. Außerdem genoss ich schlicht und einfach seine Gesellschaft. Er erzählte mir von seiner Familie und von seinen Träumen. Und er erzählte Geschichten. In seiner Phantasie ließ er neue Welten entstehen und ließ mich daran teilhaben. Er erzählte von Schiffen, die mit strahlend weißen Segeln weit übers Meer glitten, einer besseren Welt entgegen und von Vögeln, die in die Höhe flogen und alles Elend dieser Welt hinter sich ließen. Seine bunten, reich ausgeschmückten Erzählungen waren mir ein kleiner Lichtblick in unserem grauen, von Arbeit, Not und Entbehrungen geprägten Leben. Manche der Arbeiter beäugten mich misstrauisch und auch Edouard blieb meine Zuneigung diesem Jungen gegenüber nicht ganz verborgen, aber sie ließen mich vorläufig in Ruhe.

»Wir wissen nicht genau, was passiert ist. Wir hörten ein Geräusch wie Donnergrollen und eine Staublawine erhob sich vom Berg.«, holt mich die Stimme des Arbeiters aus meinen Gedanken. Wir rennen bergauf, dem Unglücksort entgegen. Ich mache mir natürlich Sorgen um Joseph. Ist er unter den Opfern? Das Desaster ist größer als wir uns träumen ließen. Durch die Erschütterung scheint der Stausee beschädigt worden zu sein und riesige Wassermassen stürzen, vermischt mit Dreck und Geröll, den Berg hinunter. Im Gepäck haben sie die toten Arbeiter. Einer nach dem anderen wird an uns vorbeigespült. Als ich Josephs dunklen Lockenkopf leblos an mir vorbei treiben sehe, versagen mir die Beine. Ich sinke zusammen und muss mich übergeben. Mir ist schwindlig, ich habe Herzrasen und Schweißausbrüche. »Hat es deinen kleinen Liebling auch erwischt, Lucille.«, höre ich Edouards höhnische Stimme an meinem Ohr. Ich richte mich auf und kalte Wut entlädt sich in mir. Ich packe Edouard an den Schultern, spucke ihm ins Gesicht und stoße ihn von mir weg. Er fällt und ist im nächsten Moment Teil des dahin strömenden Wasser-, Leichen- und Geröllberges. Ich stehe am Ufer, sehe ihm nach, und eine Welle aus Wut kriecht durch meinen Körper und sammelt sich in meiner Brust zu einem entladenden Schrei. Ich schreie all meine Wut und all meine Trauer heraus. Ich schreie so laut ich kann, und ich kann nicht mehr damit aufhören. Ich schreie diese Welt in Trümmer. Jeder Schrei von mir löst eine neue Lawine aus, jeder Schrei bringt Häuser zum Einstürzen. Entwurzelt Bäume und lässt das Meer hohe Wellen schlagen. Ich schreie die Welt in Schutt und Asche, und es tut mir unglaublich gut. Erschöpft sinke ich irgendwann nieder und mir schwinden die Sinne.

Als ich wieder zu mir komme, laufe ich um mein Leben. Eine Schar Arbeiter ist hinter mir her. »Schnappt sie euch, das verdammte Schinderweib. Nur sie und ihr elender Mann sind schuld. Rache und Gerechtigkeit für unsere toten Freunde«, höre ich sie durcheinanderrufen. Ich weiß, dass ich in meinen langen Röcken nicht schnell genug bin und keine Chance gegen sie habe. Ich laufe in einen der Stollen und hoffe, ihnen im Labyrinth der Gänge zu entkommen. Es wird immer dunkler um mich herum und schnell verliere ich die Orientierung. Von meinen Verfolgern kann ich jedoch nichts mehr hören, ich scheine sie abgehängt zu haben. Ich lasse mich zu Boden sinken und versuche, mich zu beruhigen. Meine nassen Röcke kleben an mir, mein Herz rast, mir ist heiß und kalt gleichzeitig. Was soll ich tun? Joseph tot, Edouard tot, die Minenarbeiter hinter mir her. Ich werde warten, bis sich die Lage etwas beruhigt hat und versuche dann, mich nachts aus den Stollen und aus der Mine zu schleichen, nehme ich mir vor. Ich habe Edouard umgebracht. Obwohl ich ihn gehasst habe, nagt diese Tatsache an mir. Ich habe einen Menschen getötet. Im Zorn, ja. Als Kurzschlussreaktion, ja. Aber trotzdem. Tot ist tot und Mord ist Mord. An den kleinen Joseph darf ich gar nicht denken. Ich tröste mich damit, dass er in diesem Moment vielleicht selbst auf einem dieser Schiffe mit weißen Segeln einer besseren Welt entgegengleitet. Ich stelle mir vor, wie er am Bug eines Schiffes steht und erwartungsvoll unter der strahlenden Sonne durch das blau-glitzernde Wasser segelt, begleitet von unzähligen Vögeln, die sich freuen, dass er ihre Rufe künftig mit seinem Gesang begleiten wird. Welch eine schöne Vorstellung. Sie tröstet mich ein wenig und lässt mir zugleich die Tränen laufen. Es dauert lange, bis ich mich einigermaßen beruhigt habe und mich eine überbordende Müdigkeit überkommt. Ich fühle mich gänzlich ausgelaugt, die Angst vor diesen dunklen Gängen, hilft mir jedoch, mich aufzurichten und mich vorsichtig an der Wand entlang vorwärts zu tasten. Irgendwo muss doch ein Ausgang kommen. Es ist stockdunkel, ich habe Durst und muss pinkeln. Ich weiß nicht, wie lange ich durch den Stollen irre, es mögen Stunden oder Tage sein. Ich weiß es nicht, ich glaube, ich verliere zwischendurch immer wieder das Bewusstsein. Aber plötzlich ertaste ich einen Ausgang. Der allerdings kein Ausgang ist. Meine Hände fühlen Bretter, die ein wenig Licht hereinlassen, aber nicht nach draußen führen. Mir wird schlagartig klar, wovor ich stehe. Ein Ausgang, den die Arbeiter mit Brettern vernagelt haben, um mir den Rückweg zu versperren. Die Angst jagt mir Schauer durch den Körper. Ich bin eingesperrt im Stollensystem, niemand wird mich rauslassen. Ich bin lebendig begraben. Zum Schreien fehlt mir die Kraft. Mit Händen und Füßen hämmere ich an die Bretterwand, sie gibt jedoch keinen Zentimeter nach. Zurück in den Stollen, weiter tiefer hinein, traue ich mich jedoch auch nicht mehr. Hier ist wenigstens ein wenig Licht. Und ein wenig Hoffnung ist noch in mir, dass mich jemand finden oder befreien wird. Dass sich vielleicht doch jemand meiner erbarmt.

Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, aber tatsächlich wird das Licht plötzlich heller und jemand fasst nach meiner Hand. Ich bin noch ganz benommen und versuche mich aufzurichten. Das Schauen fällt mir schwer, das Licht blendet mich. Ich lasse mich nach draußen führen und wir setzen uns. Als mir endlich etwas klarer wird, kann ich sehen, wo ich bin. Ich sitze an einem Bächlein, der Tag ist schön, die Sonne scheint, alles wirkt ruhig und friedlich. Neben mir sitzt Joseph. Joseph? War der nicht tot? Aber er sitzt hier eindeutig neben mir und lächelt mir zu. Mein Körper fühlt sich seltsam leicht und lebendig an. Was ist mit mir? Lebe ich noch oder bin ich tot? Seltsamerweise empfinde ich keinen Hass, keine Verzweiflung, keine Angst mehr. Ich bin ein wenig müde, fühle mich aber in erster Linie frei und erleichtert. Ich habe nur vage Erinnerungen an die Geschehnisse.

Joseph fängt an, leise zu singen. Nun erinnere ich mich, dass ich seinen Gesang immer sehr gerne gehört habe. Ich lausche voller Inbrunst, und Glück und Zufriedenheit breiten sich in mir aus. Der Klang seiner Stimme umhüllt mich wie ein zarter, duftender Nebel, umfängt mich mit warmen, sanften Armen. So sitzen wir lange, Melodie um Melodie erklingt. Dann geschieht etwas Seltsames. Ich sehe, wie sich mein linker Arm erhebt. Er strebt dem Klang entgegen, vermischt sich mit ihm, wirbelt nach oben und zieht langsam, sehr langsam, aber kraftvoll meinen gesamten Körper nach. Ich hebe empor, schwebe den Tönen entgegen, dringe in sie ein, verschmelze mit ihnen und in einem verwunderten Moment nehme ich wahr, wie ich mich auflöse und selbst zu einem Ton werde.

Als Paul und Simon an diesem Tag von ihrem morgendlichen Bad im Meer, zu dem sie sich nachts auf der Party mit ein paar Mädchen verabredet hatten, zurückkehrten, wunderten sie sich über Raffaelas Abwesenheit. Sie wussten zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass sie sie nicht mehr wieder sehen würden. Seltsamerweise wurden aber beide ihr Leben lang beim Klang einer Knabenstimme an ihre, in einem Urlaub spurlos verschwundene Patentante Raffaela, erinnert.

Aus dem Verwaltergebäude der Silbermine, das in früheren Zeiten das Schinderhaus genannt wurde und das angeblich verflucht war, war jedoch nie mehr wieder ein Ton zu hören.
 



 
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