Chu

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lietzensee

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Chu​

Dass du manchmal schlecht drauf bist, ist ganz normal. Wer mit dieser Welt nicht hadert, hat von ihr nichts begriffen. Uns allen geht das so. Aber wenn du etwas dagegen tun willst, dann gebe ich dir einen Rat: Gehe zu Chu!
Um Chu zu finden, fahre mit der U-Bahn bis zur Endstation. Gehe am Brunnen vorbei und biege dann links um die Ecke des alten Rathauses. Du kannst ihn nicht verfehlen. Chu setzt Suchenden ein Zeichen und auf dem Rathausplatz weht seine Fahne: Chus Köstlichkeiten. Steige die Stufen des alten Ratskellers hinab und Chus rundes Gesicht wird dich persönlich begrüßen: "Zum Büfett?"
"Ja, natürlich, zum Büfett!" Man kann sich Chus Büfett nicht jeden Tag leisten. Einmal in der Woche kann es aber fast jeder bezahlen. Komm Sonntagmittag, dann ist die Stimmung am besten und das Buffet günstiger als abends. Es ist ein Feiertag, wenn du deinen gewärmten Teller greifst und durch die Gewölbetür vor Chus Köstlichkeiten trittst.
Eines kurz vorweg, ganz hinten links im Gewölbe gibt es eine Nische, da, zwischen frittiertem Sushi und Bohnensalat. Du erkennst sie am Krug mit den großen Metallspießen und ein alter Herr tritt gerade grinsend heraus. Diese Nische ist nichts für dich - noch nicht. Bei Chu gibt es keine bösen Überraschungen, doch die Nische solltest du erst mal ignorieren. Verschaffe dir lieber einen Überblick, was Chu unter seinen Buffethauben ausbreitet. Ente, Muscheln und gebratene Nudeln, dicke Erdnusssoße und Schweinebraten. Das dampft, das duftet! Es überwältigt, doch glaube mir, das ist erst der Anfang. Bevor du dich ins Gedränge stürzt, halte kurz inne.
Sieh, wie erwartungsvoll sich alles um die beladenen Tische drängt. Du bist bei Chu, es ist Sonntagmittag, es muss so sein. Unter dem Gewölbe des alten Ratskellers wogt das Volk der Stadt. Greise Damen schieben Rollatoren um die Tische. Chu hat sie persönlich mit einer komplizierten Apparatur die Stufen von der Straße hinab bugsiert. Alle tragen Lippenstift und Sonntagskleider. Ganze Großfamilien schieben sich Hüfte an Hüfte das Buffet entlang. Ihre Gesichter glänzen wie die fettig krosse Entenhaut. Von all dem Trubel unberührt, steht ein junges Paar vor dem Krautsalat. Sie küssen sich. Ja, sonntags ist es voll bei Chu. Der Dunst lässt die Leute schwitzen, aber niemand nimmt es übel, dass er auf den anderen warten muss. Vor dem Buffet ist jeder zum Schwatzen aufgelegt. Gegenseitig häuft man sich Fleisch auf die Teller und gibt Tipps: "Probieren Sie mal die fünf Köstlichkeiten" Ein kleines Mädchen hopst auf und ab, um über die Tischkante sehen zu können: "Mehr Soße, Pappa!"
In diesem Gedränge eilt Chu hin und her. Er scherzt mit den Gästen und mahnt, auch vom frischen Gemüse zu nehmen. Mehr frittierte Kartoffeln, mehr scharfe Soße, eine Geste seines dicken Fingers genügt, damit die Kellner in die Küche eilen. Dabei behält er die Nische am Ende des Saals im Auge und flüstert der Bedienung etwas zu. Es ist ein Feldherrenblick, mit dem Chu den Keller betrachtet. Er lächelt, denn der Sieg ist ihm gewiss.
Bestaune das Spektakel, aber pass auf, dass dein Teller dabei nicht leer bleibt. Los, tritt nun an die dampfenden Wannen. Hab keine Angst vor Körperkontakt und fühle dich als Teil der Menge. Es ist Sonntagmittag. Du bist bei Chu. Jetzt vergiss, was dich die vergangene Woche gegrämt hat.
Am besten lerne von den alten Leuten. Die wissen, wie es geht. Schaufel deinen Teller voll, aber nimm zunächst von allem nur ein bisschen. Das sind Probebohrungen. Deren Geschmack verrät, wo es sich lohnen wird, tiefer zu graben. Ein Bier zum Essen solltest du nur bestellen, wenn du keinen Cocktail willst.
Den ersten Teller holst du, weil du hungrig bist. Den zweiten Teller holst du, weil du jetzt weißt was schmeckt. Mit dem dritten Teller fängst du an, versteckte Schüsseln am Rand zu erkunden. Ein Geheimtipp ist der unscheinbare Gurkensalat. Den macht Chu aus Sojasoße, Gurken und Knoblauch - zu gleichen Teilen. Merkst du was? Du berätst mit deinem Nachbarn, welche die beste Soße ist. Aber was du gestern in der Zeitung gelesen hast, das ängstigt dich schon nicht mehr.
Du bist voll, du bist zu voll, du bist angenehm zu voll und du überlegst, trotzdem noch eine Runde zu drehen. Endlich begreifst du, dass deine Zweifel an dieser Welt nicht unbegründet, aber zu einseitig waren. Und nun ist es Zeit. Chu winkt dir. Er behält sein Publikum nämlich immer im Auge. Du sollst deinen Teller stehen lassen und mit leeren Händen durch den Saal schreiten, vorbei am Kuchen, vorbei an der Eiscreme - bis auch du vor der kleinen Nische stehst. Die hattest du schon vergessen? Aber Chu vergisst sie nicht! "Nimm einen Metallspieß", lächelt er. Dann gibt er dir einen kleinen Schubs.
Die Nische ist düster. Hast du Angst? Denke daran, bei Chu gibt es keine bösen Überraschungen. Spieße ein Stück Birne auf! In dieser Nische steht der krönende Abschluss, der Seelentröster. Tauche dein Obst in Chus Schokoladenbrunnen.
 
Zuletzt bearbeitet:

Matula

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Guten Abend @lietzensee,
schön, dass Du wieder da bist ! Deine kleine Darstellung hat mich sehr erheitert, vor allem die herausgeputzten alten Damen mit den Rollatoren. Und dann die Nische, in der Misstrauen aufflammt wie im Lebkuchenhäuschen ... ein sehr gelungener Abschluss.

Herzliche Grüße,
Matula
 
Hallo lietzensee,
da kommen Erinnerungen an alte Zeiten auf, an denen man noch sinnlos essen konnte und nicht zunahm. Was habe ich in meinen Jugendjahren alles in mich hineingestopft. Bei solchen Büffets passt heute auch mein Magen. Eine Chinapfanne ist schon das höchste der Gefühle. Gut geschriebener Text. Da kommt raus, was ich auch denke: Chinaessen macht glücklich. Das Duftende, das Knusprige und von allem schön viel. Aber wie gesagt: nur für Leute, die keine Probleme mit Fettverdauung haben, wozu ich leider nicht mehr gehöre. Liegt wohl in der Familie. Ach so, Last not least: mit Glutamat sollte man auch keine Probleme haben.
Gruß Friedrichshainerin
 

lietzensee

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Hallo Matula,
vielen Dank für deine Antwort und das Willkommen zurück. Ich war eine Weile mit anderen Projekten beschäftigt, aber so ganz lässt mich die Leselupe nicht los. Freut mich vor allem, dass dir das Ende gefällt. Ich wollte mal einen Text ohne dunklen Twist und gruseligen Unterton schreiben.

Hallo Friedrichshainerin,
vielen Dank für das Lob. Der Text ist nach relativ frischer Anschauung geschrieben und ich wollte das Gefühl von so einem Büfett wiedergeben. Wie gesagt, ich wollte rundweg positiv bleiben. Aber Verdauungsbeschwerden am nächsten Tag wären auch eine gute Pointe gewesen.

Einen schönen Sonntag euch allen
Lietzensee
 

Shallow

Mitglied
Hallo @lietzensee,

schöne kleine Miniatur präsentierst du hier, was (gutes) Essen nicht alles beeinflussen kann! Ein paar Überlegungen zum Text:

Man kann sich Chus Büfett nicht jeden Tag leisten. Jede Woche aber meistens schon und fast jeder hat genug übrig, um sich einmal im Monat bei Chu zu laben.

Hier könnte man evtl. etwas verkürzen: Zunächst holpert "... nicht jeden Tag leisten. Jede Woche aber meistens schon ..." Jede Woche ist ungenau, zumal du dann konkreter wirst: "... einmal im Monat ..." Da könnte m.E. ein Teil raus.

Bei Cho gibt es keine bösen Überraschungen

Hier müsste es sicher Chu heißen.

Ganze Großfamilien schieben sich Hüfte an Hüfte das Buffet entlang.

Gibt es auch halbe Großfamilien? Ich glaube, "Ganze" würde ich streichen.


Sehr gern gelesen, schönen Gruß von

Shallow
 

lietzensee

Mitglied
Hallo Shallow,
vielen Dank für deine Antwort und die guten Hinweise! Den Typo habe ich zu Chu verbessert.

Gibt es auch halbe Großfamilien? Ich glaube, "Ganze" würde ich streichen.
Mit "ganz" kann man doch auch das Auftreten in einer Gruppe betonen, "die ganze Familie" oder "ganze Heerscharen" usw. Halbe Großfamilien gibt es auch, nämlich, wenn die ganze Familie sich pünktlich 9 Uhr zum Frühstück verabredet. Dann kommt die Hälfte immer zu spät ;-)



Hier könnte man evtl. etwas verkürzen: Zunächst holpert "... nicht jeden Tag leisten. Jede Woche aber meistens schon ..." Jede Woche ist ungenau, zumal du dann konkreter wirst: "... einmal im Monat ..." Da könnte m.E. ein Teil raus.
Da hast du Recht. Ich wollte auf den Dreiklang Tag/Woche/Monat hinaus. Irgendwie las es sich dann aber zu gleichförmig und ich bin beim Umformulieren vom Wege abgekommen. Kürzer ist hier sicher eleganter. Ich habe es noch etwas überarbeitet.

Es freut mich, dass du beim Lesen Spaß hattest
lietzensee
 



 
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