Clementine Vergissmeinnicht

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joergheeb

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„Hallo! Ich nehme hundertfünfzig Gramm, bitte“, sagt sie mit ihrer leicht angerauten Mezzo-Stimme, die ich, so bilde ich mir zumindest ein, aus tausend angerauten Mezzo-Stimmen heraushören würde.

„Gerne!“ Mehr fällt mir auch dieses Mal nicht ein. Ich bin eigentlich nicht auf den Mund gefallen, aber wenn sie vor meiner Bude steht, befällt mich stets eine freudige Beklommenheit, die mir buchstäblich die Sprache verschlägt.

Ich lege eine Papiertüte auf die Waage, rühre die Marroni in der Röstpfanne mit der hölzernen Kelle zwei-, dreimal kräftig um und mache mich dann daran, die Tüte zu füllen, wobei ich darauf achte, nur gleichmäßig geröstete und besonders schön geformte Exemplare auszuwählen. Als sich der Zeiger unter der 150 eingependelt hat, werfe ich noch vier weitere Marroni in die Tüte.

„Verbrennt man sich bei dem Job nicht andauernd die Finger?“

„Ja, doch, das kommt hin und wieder vor.“

Sie lacht. „Fluchst du, wenn es dir passiert?“

„Nein, ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen, man ist ja doch ziemlich exponiert hier.“ Ich reiche ihr die warme Tüte mit den Marroni.

„Stimmt so!“ Sie hält mir einen 10-Franken-Schein entgegen.

„Oh, nein, bitte, das ist viel zu viel!“

„Nein, ist es nicht! Du denkst wohl, ich merke nicht, dass du immer viel zu viel reintust.“

„Okay, ich nehme es, aber nur, wenn du mir erlaubst, dich mal auf eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen einzuladen.“ Na also, geht doch!

„Äh …“

„Tut mir leid. Dumm von mir, ich dachte …“

„Ja, nein, es ist nur so, dass ich heute Abend für ziemlich genau ein Jahr verreise. Aber wenn du dich bist zum 23. Dezember 2021 gedulden magst, sehr gerne. Wirklich! Verrätst du mir auch deinen Namen?“

„Moritz.“

„Freut mich sehr, Moritz. Ich bin Sara.“

„Hm.“

„Glaubst du mir nicht?“

„Äh, doch, aber du duftest immer so fein nach Clementinen, deshalb …“

„… hast du mich Clementine getauft." Sie hält sich die Hand vor den Mund und prustet los.

„Genau!“

„Du bist wirklich ein Spinner, aber Clementine gefällt mir. Möchtest du vielleicht noch meine Nummer, Moritz?“

Ich reiche ihr mein Handy, und während sie ihre Nummer eintippt, beginnt es zu schneien; nicht sehr dicht, dafür in großen, schweren Flocken.

Sie ergreift meinen rechten Arm und legt das Handy in meine Hand. Ich werfe einen Blick auf das Display; über ihrer Nummer steht: Clementine Vergissmeinnicht. Als ich aufblicke, hat sie sich bereits vier, fünf Schritte von der Bude entfernt, wendet sich noch einmal zu mir um, formt mit den Händen einen Trichter, fängt damit eine Schneeflocke auf und pustet sie in meine Richtung. Und ich denke: Wie immer es verlaufen wird, das neue Jahr, es wird gut enden.
 
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