Crimson & Clover

LarsZschoke

Mitglied
Now I don’t hardly know her / But I think I could love her

Im Schein des Abendlichtes sah die Welt einfach anders aus. Zu später Stunde wüteten Geister in diesen heilenden Hallen. Jene, bei Tageslicht so vertraute Umgebung verwandelte sich während der stillen Stunden in etwas Unbekanntes, weder tot noch lebendig; etwas Künstliches, was am Leben gehalten wurde.
Ein weiteres Element zupfte die Saiten der unheimlichen Atmosphäre: Im Gang hatten die Lampen schon längere Zeit Anfälle. Eifrig wie ein Morsecode flackerte die Beleuchtung rhythmisch auf. Ein Schauspiel, das hypnotisch sein konnte, doch löste es bei der Beobachterin nur ein Maß an Beunruhigung aus, einer aufbrausenden See gleich. Ein so leerer, wie stiller Flur und die dazugehörige Beleuchtung brachten Amina Najaf recht schnell aus dem Konzept. Die junge Frau konnte das Geräusch, welches auf einmal dem Flimmern entstieg, nicht ignorieren, so sehr sie es doch versuchte. Vor allem nicht, als der Klang daraufhin Gesellschaft in Form eines weiteren bekam. Die Krankenpflegerin entschied, auf die Verstärkung der Schichtbegleitung wartend, ihre Sicherheit im Bürobereich nicht zu opfern. Dem Ursprung des Flackerns mit den Augen folgend, ruhte ihr Blick in der Nähe des Versorgungsraumes, in welchem die beiden kleinen Kühlschränke mit den Blutkonserven standen. Amina wusste, dass in den letzten Wochen und Monaten immer wieder Sachen aus diesem Krankenhaus entwendet wurden, beziehungsweise spurlos verschwanden. Sie sah sich in ihrer Pflicht erinnert, sofort intervenieren zu müssen. Ja? Muss ich? Es könnte sie sonst ihre Stelle kosten. Na gut, dann muss das … »Mist!«
Kräftiges Einatmen. Mit Mut in der Lunge, sowie einer versteiften Haltung, trat Amina aus dem Personalraum nach draußen in den künstlich beleuchteten Gang und schritt langsam auf das immer wieder aufflackernde Licht zu. Gebt acht ihr Schatten: Jetzt komm ich! Aus dem Weg!
Und tatsächlich: Die Tür zum Versorgungsraum stand einen Spalt weit offen. Jener Anblick brachte die Erkundung zum sofortigen Halt.
Alles in ihrem Inneren machte eine Talfahrt stromabwärts in schwindelerregende Gefilde. Wäre der Hals nicht gewesen, das Herz spränge ihr augenblicklich aus der Brust. Ein Glück, dass im Augenblick keine Geräusche zu vernehmen waren, sonst würde sie den Feldzug gegen die Dunkelheit kurzfristig abblasen und ihren Hintern auf sofortige Weise zurück ins Büro schieben; inklusive einschließen. Ja, wenn ich wüsste wo der Schlüssel wäre.
Amina öffnete vorsichtig jene Tür und tastete sich in der Dunkelheit voran, bis ihre Hand den Lichtschalter erreicht hatte: Licht es ward. Sie trat ein. Uff … kalt!
Einer der Kühlschränke sah aus, als ob er nicht richtig geschlossen wurde. Nachdem Amina die kleine Schranktür leicht öffnete, trat ein voluminöser Bach aus Blut hervor. Von den Konserven schien es ein Exemplar wohl zerrissen zu haben. Aber von was … oder wem? Der letzte Gedanken brachte ein Schaudern in das mentale Hypothesen-Spiel.
Nicht nur das: In ihrer unfreiwilligen Observation bemerkte Amina das Fehlen eines weiteren Blutbeutels. Aufgeregtes Umschauen. Auf dem Boden zeichnete das ausgetretene, stille Gewässer eine so unheilvolle wie auffällige Spur. Sie folgte dem dunkelroten Bach mit den Augen bis auf den Flur hinaus und betrat erneut die flackernden Gefilde; die Kälte des Versorgungsraumes im Rücken. Wärmer, wärmer …
Ihre Blicke folgten noch immer den Blutflecken auf dem Grunde des Gangs, dem sie vorher keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Sollte sie wirklich …? Muss ich ja! Kann jetzt ich nicht behaupten, dass ich nichts mitbekommen habe.
Die Frage war nun nur noch, ob sie dem alleine nachgehen sollte oder erst einmal abwarten, bis Melanie aus ihrer großen Raucherpause kam. Das kann dauern. Bestimmt noch zwanzig Minuten.
Also dann!
Es war entschieden. Amina folgte der Spur dieser ungewöhnlichen Brotkrumen im neonblauen Nachtlicht. Alles in ihrem Körper sprach seine Bedenken gegen diese Entscheidung aus … nur nicht die Neugier.
Das Ende der blutigen Fährte leitete die Pfadfinderin zum Wartebereich für die Besucher bei den Fahrstühlen und der Treppe. Zuerst schien alles beim Alten. Die Stühle waren leer: eine natürliche Begebenheit, bedachte man der Uhrzeit. Das kleine Tischlein stand in der Mitte, auf ihm eine Auswahl gut sortierter Lesegelegenheiten zur Beschäftigung. Der Bogenhanf wuchs in der rechten Ecke am Boden vor sich hin und hatte dabei schon die stattliche Höhe von einem Meter erreicht, auch wenn man den großen Topf nicht mitrechnete. Alles machte den Anschein, als wäre nichts dem tristen Alltag abhandengekommen.
Ein urplötzliches Verformen der Dunkelheit; ein Schatten gelöst vom tiefschwarzen Hintergrund, eine Unbekannte in der routinierten Gleichung. Der Schemen einer großen, schlanken Gestalt entriss sich dem Restbild und stand mit einem Mal in der finsteren Ecke, mit den Rücken zu ihr. Die Form der ausgezehrten Kontur hatte etwas weiblich Zartes.
Starr vor Schreck stand die Zeugin jener Szenerie still.
Noch hatte die Gestalt im Raum den Ankömmling nicht bemerkt und machte sich über die Reste der erbeuteten Blutkonserve her. Den Kopf in den Nacken werfend, hob sie ihren linken Arm – so sehnig, wie muskulös – und ließ die letzten Tropfen konservierten Lebenssaftes mittels der langen, dünnen Finger in den Mund gleiten.
Amina bekam es mit der Angst, bei dem Anblick der langen Fingernägel, den Klauen von Raubtieren gleich. Der nächste Schock saß besonders tief, als die Kreatur innehielt. Wehe, du … !
Die Raubtierartige drehte ihren ausgemergelten Kopf mit den zerzausten langen Haaren und erübrigte damit die Frage.
Fuck!!
Große gelbe Augen leuchteten mit vertikalen Pupillen in Aminas Richtung, die erst jetzt realisierte, was da vor ihr stand. Das wenig menschliche Wesen begab sich sofort in eine Abwehrhaltung.
In Sekundenschnelle rechnete Aminas reflexartiges Bewusstsein mit dem Abschluss der eigenen Existenz. Sie wollte die Augen verschließen, doch erlaubte ihr Körper nicht, diese Aktion des puren Luxus auszuführen. Wie versteinert stand sie da. Nicht einmal das Atmen gestattete sie sich selbst.
Die anvisierten Schlitze des Geschöpfes wandelten ihre Form bei Blickkontakt in einen kreisrunden Zustand. »Oh, sorry! Sorry, ich muss los!«, stieß eine tiefe, weibliche Stimme aus dem Gebiss voller Reißzähne urplötzlich hervor.
Erstaunen beim Gegenüber. Die Starre aber ließ nicht von Aminas Körper ab. Sie musste sich die mentale Verarbeitung ihrer Verfassung selbst noch zum Geschenk machen.
Die fremde, blutdrunkene ‚Dame‘ derweil ließ den leeren Beutel fallen, setzte die langen Beine Richtung Tür in Bewegung und stürmte hinaus in das Treppenhaus.
Aus ihrem Schock erwachend, taute Aminas Körper wieder auf. Nun gab der Verstand ihr Zeit, die Situation in ihrer Gänze zu erfassen. Hat die sich da gerade entschuldigt?!
So verängstigt, wie verwirrt sammelte Amina den Blutbeutel auf, drehte ihn in ihren Händen hin wie her und betrachtete dabei das aufgerissene Stück Kunststoff eindringlich. Auf einmal spürte sie eine wiedererstarkende Wärme in ihrer Brust. Die nächste Entscheidung traf sie recht schnell und entschlossen und wie von fremden Fäden geleitet traten ihre Füße neugierig auf die Tür zum Treppenhaus zu, deren Klinke von dem Blut der Hand getränkt war, die sie zuletzt betätigte. Besinnung war zu dieser Stunde nicht möglich.
Amina öffnete die Tür und begab sich in den Stockwerkübergreifenden Raum. »Hallo?!« Sie rief es halblaut aus – voller Angst und jedoch in freudiger Erwartung. Das Gefühl eines inneren Bebens leitete sie die Stufen hinab. Faszination und Panik drangen zeitgleich in den Brustkorb. Eigentlich wollte ihr Instinkt sie wieder nach oben geleiten, in das helle Licht des Personalbüros. Ihr Herz jedoch führte sie immer tiefer in das zurzeit schummrig beleuchtete Treppenhaus hinab. Wenigstens flackerten diese Energiesparlampen nicht. Ein stetiger grünlicher Schein ging von den schwachen Lichtquellen aus.
Gerade so konnte sie die Stufen erkennen. Vorsichtig einen Fuß nach dem anderen setzend, hielt Amina die einseitige Kommunikation aufrecht. »Bist du noch da?!«
In einem der unteren Stockwerke angekommen, sah die Angespannte den unruhigen Schatten seinen Körper an eine der dunklen Wandecken klammern. Langsam hob Amina den Kopf leicht nach oben zur Decke, um das fremde Wesen mit ihrem Blick zu fixieren. Die Hände zu beiden Seiten an den Rumpf gepresst, richtete sie den Zeigefinger ihrer linken Hand in aller Vorsicht auf und visierte damit aus der Hüfte den kaum wahrnehmbaren Schemen an. »Ich seh dich«, flüsterte sie unsicher.
Keine Reaktion.
»Ich werde dir nichts tun. Und du mir auch nicht. Hoffentlich …« Ein angespanntes Kichern löste sich aus Aminas Kehle.
Die Kreatur hetzte aus dem Schatten hervor und übersprang die Treppe zum nächstniederen Stockwerk.
Blitzschnell streckte Amina die Hand aus. »Warte! Ich werde keinem sagen, wer das Blut gestohlen hat.«
Ein plötzliches Einhalten. Von einer Sekunde auf die nächste hatte die Flüchtige nichts Monströses mehr, sondern glich dem Abbild einer vernachlässigten und blutbesudelten Frau, bekleidet mit abgenutzten Fetzen. Schwerer Atem ging von der Unbekannten aus. Sie betrachtete ihre blutigen langen Finger, ließ ein gehauchtes »Fuck!« verlauten und vollzog drehte den Körper ruckartig zu der Person, die sie entdeckt hat. »Entschuldigung, Entschuldigung, Entschuldigung …!«, brachte die Fremde undeutlich hervor. Äußerst viel Umgang der verbalen Sorte war von ihr nicht zu erwarten. Sie schien ganz entrüstet zu sein; als ob sie nicht wüsste, was sie gerade getan hatte. Eine aufgelöste Reaktion, die den Eindruck einer instabilen Gefühlswelt bei der Betrachterin hinterließ.
Amina hielt Abstand. Doch sagte es ihr ebenso, dass die Frau vor ihr Verstand und Vernunft besaß und damit vielleicht auch eine Art moralischen Kompass. »Ganz ruhig.» Es war mehr ein Flüstern. Sie zeigte ihr den leeren Beutel. »Hast du das alles getrunken?« Als gegenüber die ersten Tränen hervortraten, tat sie Amina leid und ein Gefühl trat in ihr Herz, dass sie dazu verführte, nicht gleich nach Hilfe zu schreien. Ein plötzlich eintretendes Zittern bei der Unbekannten konnte als weiterer Hinweis bezüglich darauf gedeutet werden.
»War das teuer?« Und lange, spitze Nägel zeigten auf das aufgerissene Behältnis.
Diese unerwartete und auch ein wenig seltsame Frage ließ ein Schmunzeln auf dem Mund der Krankenschwester zurück. Sie schüttelte verwundert den Kopf und antwortete mit geistesabwesender Stimme: »Kommt schon alles wieder in Ordnung.«
Die große Schlanke verlagerte unruhig ihr Gewicht von einem Bein auf das andere. Es sah fast danach aus, als ob sie auf Toilette musste. Mit der linken Hand umfasste sie ihre rechte Schulter. »Tut mir echt leid, aber wenn ich Durst habe dann … dann kann ich mich nicht mehr richtig erinnern und komme an den komischsten Orten wieder zu mir.« Sie hielt kurz inne, um einmal kräftig durchzuatmen. Im Folgenden deutete die Zerzauste erneut auf den Beutel. »Muss ich das bezahlen? Ich habe leider kein Geld.« Der Satz wurde mit einem Biss auf die Lippe abgeschlossen.
»Nun …« Amina besann sich der schwierigen Situation, in der sie nun saß. »Ja …« Mit geschlossenen Augen schüttelte sie den Gedanken im Hirn kräftig durch. »Ich meine, natürlich nein – Ähm …« Ihre Hand wanderte an die schweißgebadete Stirn. Etwas im Hirn der Pflegerin machte klick. Sie musste plötzlich auf ihre Uhr schauen. Oh, Mist! »Kannst du hier bitte warten? Ich kann dir noch mehr bringen, wenn du willst. Aber ich muss jetzt schnell los.«
Völlig unsicher nickte die ertappte Kreatur.

Als Amina zurückkam, traf sie gleichzeitig auf ihre Kollegin, die gerade dabei war, in das Personalbüro zu treten. Die Tür nach draußen in den Raucherbereich lag glücklicherweise in der anderen Richtung. Melanie blieb also ahnungslos und bei dem schummrigen Licht konnten das Blut am Boden nicht gleich erkannt werden.
»Mel!«, rief Amina gehetzt, mit heiserem Flüstern in der Stimme. »Es wurde wieder eingebrochen!«
»Wie? Echt, jetzt? Och, nee.« Melanie hatte immer diese niedliche Art zu reagieren.
Übertrieben nickte Amina die Situation ab. »Doch, doch. Kannst du schnell die Polizei rufen?! Ich kann die Blutspur bis hinunter verfolgen. Vielleicht kann ich ihn noch erwischen und der Polizei sagen, wo er hin ist.«
»Blutspur?«
»Ja. Anscheinend ist ein Beutel kaputt gegangen.« Eine Lüge versteckt man am besten zwischen zwei Wahrheiten.
Die Flunkernde wollte gerade geschwind abzischen, da hielt Melanie sie von diesem Tun ab. »Moment mal. Wie viel wurde eigentlich gestohlen?«
Amina überdachte kurz ihre Antwort. »Vier Konserven. Aber ich zähle besser noch mal nach.«
»Mach das.«
Als die Schichtbegleiterin zum Telefon griff, ging Amina zum Versorgungsraum, holte noch zwei Transfusionsbeutel aus dem Kühlschrank und wollte sich mit ihrem diebischen Gut sogleich davonstehlen. »Es sind vier!«, rief sie ihrer Kollegin im Gang noch hinterher.
»Warte mal!«, schallte es von der Frau mit dem drahtlosen Telefon in der Hand zurück.
Wie erstarrt blieb die, welche von ihrer Gerissenheit überzeugt war, stehen und drehte langsam den Kopf. »Ja?«
»Pass bitte auf dich auf!«
Erleichtert streckte sie ihr die Hand zum temporären Abschied entgegen. »Danke – werd ich!«

Ein paar Stockwerke weiter unten überreichte die durchtriebene Helferin ihre Beute dem Eindringling.
Diese nahm das Geschenk dankend an. »Ist das denn erlaubt?«, fragte sie mit rauchiger Stimme.
»Mach dir mal darüber keinen Kopf.«
Schon wollte das hungrige Wesen die gewonnene Plastiktüte aufreißen, um des Inhaltes habhaft zu werden, da tat die Stimme der wissentlichen Vernunft ihren Einwand kund.
»Hey, warte! Du musst jetzt schnell verschwinden und das woanders machen. Die Polizei ist auf den Weg hierher. Kannst du dich unsichtbar machen oder so etwas in der Art?«
Fragende Augen sahen sie in aller Stille an. »Unsichtbar machen?«
Hoffnungsvoll nickte Amina.
»Nein, wie sollte ich so etwas können? Ist doch Unsinn«, brachte das große Geschöpf unaufgeregt hervor. »Aber ich such mir jetzt eine stille Ecke, wo ich ungestört sein kann.« Und daraufhin nahm sie den Beutel zwischen die Zähne genommen. Die Andersartige verwandelte sich zurück in jene halb-menschliche Kreatur, die Amina bei ihrem ersten Treffen erblicken durfte. Durch das Abstoßen der langen Beine hastete sie an die Decke und kroch mit ihrem schlanken, äußerst elastisch erscheinenden, Körper, wie eine Spinne durch das obere Fenster der Glasfassade im Treppenhaus, nur um draußen an der Wand nach oben zu krabbeln.
Amina konnte nicht umhin, noch etwas hinterherzurufen: »In vier Stunden habe ich Feierabend. Ich warte dann in der Tiefgarage auf dich, okay?!« Eine Weile blieb sie in hoffnungsvoller Laune am geöffneten Fenster und lauschte der Umgebung. Keine Antwort. Dann machte die Werktätige sich zurück an die Arbeit. Das Fenster jedoch ließ sie offen.

Die Unheimliche hatte wohl ein gutes Versteck gefunden. Die Polizei fand keinerlei Spur des Täters. Wie die anderen Male. Es freute Amina. Das Gefühl, etwas Richtiges getan zu haben, durchdrang ihren Körper. Nach den vier Reststunden entließ die Nachtschicht ihre arbeitsamen Geschöpfe in den wohlverdienten Feierabend. Amina legte die Dienstkleidung ab, packte ihre Sachen, verabschiedete sich von Melanie und tat etwas Ungewöhnliches: Sie nahm das Treppenhaus, nicht den Fahrstuhl, für den Weg aus dem Gebäude. Langsam stieg sie eine Stufe nach der anderen hinab, in der Hoffnung, einen Schemen an den Wänden zu erspähen oder eine rauchige Frauenstimme zu vernehmen.

Die Tiefgarage war ein unheimlicher Ort, ob nun morgens, mittags oder nachts. Licht drang hier unten nur an den Seiten durch die dünnen Öffnungen in der Betonwand hinein. Da könnte sie sich aber auch durchzwängen, nehme ich an.
Trotz der ungemütlichen Atmosphäre wartende Amina in der fast leeren Örtlichkeit. Es war kurz nach 05:00 Uhr morgens. Die wenigen Autos der Frühschicht füllten die Halle nicht mal zu einem Bruchteil aus. Viele vom Pflegepersonal kamen ohnehin mit der Bahn, weil sie sich bei ihrem mageren Gehalt kein Auto leisten konnten.
Langsam gewöhnte sich Amina an diesen gruseligen Platz, als sie etwas in der Ferne ausmachen konnte. Zwei gelbe Raubtieraugen visierten sie von hinter einer Säule aus an – aus der Ecke, wo kein Lichtschein den Träger berührte.
Ein Teil ihres Körpers wollte sofort die Flucht ergreifen. Doch die eigene Neugier entsann sich aus Erfahrung der vernünftigen Natur dieser Augen. Die Panik in der Brust bekämpfend, entschloss die tapfere Frau kleine Schritte in Richtung der leuchtenden Schlitze zu tätigen – und das auch nur mit sehr viel Bedacht. Sie zog die Handtasche fest auf die Schulter und grub die Spitzen ihrer Fingernägel tief in die Riemen.
Das anvisierte Ziel hockte auf allen vieren am Boden wie ein Raubtier, kurz vor dem Sprung.
»Mit den Augen kannst du im Dunkeln sicher gut lesen, was?« Etwas Besseres fiel ihr im Moment nicht ein.
Umherwandernde Blicke sprachen nachdenkliche Worte. Der langgestreckte Körper erhob sein Angesicht auf Augenhöhe – und noch mehr. Sie musste wohl bemerkt haben, das derzeit niemand außer der Krankenschwester in dieser Halle weilte.
»Hast du eigentlich ein Zuhause?«
Der dunkle Schatten schüttelte den Kopf.
»Wie heißt du eigentlich?«, fragte Amina.
Nun brachte die Unbekannte tatsächlich eine Antwort hervor. »Ich habe keinen Namen.«
»Und wahrscheinlich auch keinen Personalausweis, ha ha!« In ihrem Bestreben, witzig wirken zu wollen, schlug Amina oftmals ungefragt über die Stränge. Sie stellte das Lachen rasch wieder ein, da sie selbst auch keine Menschen mochte, die sich zu sehr über die eigenen Späße amüsierten.
Unverständnis in den ausdruckslosen Zügen gegenüber.
Ihre gewitzte Stimmung zelebrierend, konnte Amina nicht anders: Diese Geschöpf löste in ihr eine Art Beschützerinstinkt aus. Sie war Krankenschwester mit Leib und Seele. Der Samariter-Effekt kickt heute wieder stark! »Willst du heute vielleicht mit mir kommen?«
Ein unsicheres Nicken auf der Gegenseite. »Kann an meinen Essgewohnheiten liegen, aber ich bin jetzt nicht der sozial Typ, musst du wissen.«
»Ich verstehe schon: Wenn man nicht mit Messer und Gabel isst, dann ist das für einige Menschen wie ein Sakrileg.« Amina erwartete noch ein Umschwenken der Haltung ihrer Gesprächspartnerin. Was nicht der Fall war. »Okay«, gab sie leicht enttäuscht zurück. »Ich gehe jetzt nach Hause. Wenn du willst, kannst du mir folgen.«

Und folgen tat sie tatsächlich, trotz der als Ablehnung interpretierten Haltung.
Schon auf dem Heimweg mit Bus und Bahn spürte Amina, wie etwas sie auf Schritt und Tritt verfolgte. Kurz nach 06:00 Uhr kam sie an ihrem Domizil an, einem Mehrfamilienhaus. Dieses klassische Altbaugebäude, mit glatter Fassade ohne Balkons und einigen Verzierungen. Ihre Wohnung befand sich im obersten Stockwerk: Eine gemütliche Zwei-Zimmer-Dachbehausung, deren Umfang mit über fünfundsechzig Quadratmetern vom Platz her sehr großzügig ausfiel.
Es war tiefster Winter und noch dunkel draußen. Amina öffnete das große Küchenfenster und betrachtete die Welt da draußen. Der Blick gegenüber auf das leerstehende Äquivalent zu ihrem Wohnhaus verblieb stets deprimierend. Im Hintergrund stieg die Hauptstraße nach rechts zu einer Überbrückung an, denn in dieser Richtung begann der Überland-Schienenverkehr. Ihr Block signalisierte das Ende einer fast leeren Straße.
Noch war es friedlich und still um diese Uhrzeit: Die meisten Menschen befanden sich entweder auf den Weg zur Arbeit oder noch am Schlafen.
Die bittere Kälte dieser Jahreszeit streifte die Begutachterin, als Amina ihren Oberkörper aus dem Fenster herauslehnte. Dann sah sie es: Da unten huschte ein kaum sichtbares Etwas von Schatten zu Schatten und bohrte schließlich seine Krallen in Aminas Gebäude, um leichtfüßig die Häuserwand zu erklimmen. Die Ornamente halfen beim Absolvieren des Aufstiegs. Man musste schon genau hinsehen, um diese Gestalt mit den Augen zu erhaschen. Nur die Suchenden würden sie erblicken.
»Komm doch rein. Hast du dich doch für mich entschieden. Willkommen!«, brachte die Bewohnerin siegreich hervor und ließ die Fremde in ihre Wohnung.
»Ha, ich dachte mir: Die sieht ganz nett aus.« Aufgrund der hell aufleuchtenden Deckenlampe blinzelte die neue Bekanntschaft stark und versuchte ihre Augen mit den großen Händen zu schützen. »Wah!«
»Oh, tut mir leid«, entschuldigte sich Amina und legte den dafür zuständigen Schalter um. »Tut es dir sehr weh?«
»Meinen Augen auf jeden Fall.« In der Dunkelheit unterlag der Körper der Fremden einer Entspannung. Der Verwandlung in einen, äußerlich gesehen, vollwertigen Menschen stand nichts mehr im Wege.
Die Gastgeberin schloss das Fenster. »Wie hast du mir überhaupt folgen können?«
»Dein Geruch …Ich habe mir deinen Geruch eingeprägt«, wiederholte die Frau mit der guten Spürnase.
Überrascht roch Amina an ihrer eigenen Handfläche. »Stinke ich wirklich so stark? Entschuldigung, ich habe noch nicht geduscht.«
»Nein, nich du. Nur dein Parfüm – für mich jedenfalls.« Daraufhin war ein Lächeln auf dem wilden Gesicht zu vernehmen, als jenes seine Züge, einem Menschen gleich, gewandelt hatte. Es war ein hübsches Lächeln.
Amina roch sie zur Abwechslung mal an ihr … und bereute es sogleich. »Huch! Du aber, Madame, brauchst unbedingt ein Bad.«
Sanft schien das Licht vom Korridor herein. Vorsichtshalber ließ die Hausherrin die Beleuchtung im Waschraum aus. Auch in Menschengestalt war die Frau nahe der eins achtzig und passte kaum in die etwas klein geratene Wanne. Dampfend spülte der Duschkopf den ganzen Dreck von der mageren Gestalt.
Währenddessen entsorgte die Amina zerrissene Lumpen in den Müll und sah im Anschluss nach ihrer Besucherin. Mit Bedacht klopfte sie an die halboffene Tür. »Darf ich eintreten?« Ein Blick in den Raum sagte ihr, dass die hagere Fremde sie mit neutralem Ausdruck im Empfang nahm.
»Stört mich nicht.«
»Wenn du keinen Namen hast, wie soll ich dich bloß nennen?«
Die Befragte legte dem Kopf seitlich auf die angelehnten Beine und brachte ein monotones »Ist mir gleich« hervor.
»Sag mal, bist du ein Va…?«
»Sag es ja nicht!«
»Was?«
»Das V-Wort, sprich es nicht aus.«
»Wie? Was meinst du? Va-Vagina – Vulva?«
»Ich warne dich.«
»Ich finde das aber schon cool.«
Fragende Augen fixierten die Gastgeberin erneut.
»Ich wollte dich schon Bella nennen, oder so ähnlich?« Wirklich sehr kreativ von dir!
»Nein … Einfach nein! Kannst du dir aus den Kopf schlagen. Ich bin keine Babycreme.«
»Okay, okay. Blöder Vorschlag, gebe ich selbst zu.«
»Ich hasse dieses Wort einfach – seine Bedeutung und so.« Stigmatisierte Augen richtete ihren Blick in die Leere. »Es klingt so, als wäre ich böse … ein Monster. Aber so bin ich nicht … wollte ich nie sein.«
»Schon gut, schon gut. Ich finde einen Namen für dich.« Amina überlegte eine Weile, bis es ihr in den Sinn kam. Sie hatte diesen Namen irgendwo schon einmal gelesen und er fand Wohlgefallen in ihrem Herzen. Eines Tages hatte sie vor, ihre Tochter so zu nennen. Aufgrund ihres stressigen Berufes hatte die Krankenpflegerin nie ein Kind ihr Eigen nennen können. Mit beiden Händen schöpfte Amina Wasser aus der Wanne und übergoss ihre neue Bekanntschaft damit. »Ich taufe dich hiermit auf den Namen Livana.«
»Livana?«
»Jawohl.«
»Mmh … gefällt mir.« Sie flüsterte den Namen noch einmal vor sich hin. »Livana.«
Gepflegt und im rein menschlichem Zustand hinterließ die frisch Getaufte einen recht herzeigbaren Eindruck. Livana war um einiges größer als die Gastgeberin und die Kleidung im Haushalt dafür nicht vorbereitet. Doch hatte Amina die Hemden von ihrem Ex noch irgendwo in der hintersten Ecke gebunkert. Auch er war recht groß gewesen.
»Hier, das müsste dir passen.«
Der unwissentliche Spender dieses Stück Stoffs war breit gebaut. Die improvisierte Bekleidung hing ihrer Trägerin zu beiden Seiten an den Schultern herab. Livana zog sie ein wenig nach links, damit das Shirt nur auf der einen Seite abfällig wurde.
»Oh, ist recht groß ausgefallen.«
»Geht schon. Danke.«
»Wir werden dir trotzdem was Neues holen.«
»Soviel Aufwand …?«
Mit Begeisterung streckte Amina ihrer Gästin ein breites Grinsen entgegen und nickte dabei recht lange, bis sie erkannte, wie unheimlich dies wirken musste. Bitte nicht so creepy, Mina! Danke. Die Gastgeberin überlegte eine Weile stumm in sich hinein, als sie Livana so im Spiegel betrachtete. »Erinnere mich daran, die Glühbirnen auszutauschen.« Vielleicht hilft ja Schwarzlicht?


When she comes walking over / Now I’ve been waitin’ to show her

Amina war beseelt von dem Gedanken, die Nähe eines … eines … – Was immer Livana auch mochte nicht genannt zu werden. – in ihren eigenen vier Wänden zu erfahren. Dieses Gefühl hatte etwas Überlebensgroßes und nun war es ein Teil von ihr.
Das begehrte Objekt teilte diese Begeisterung der Hausherrin zuerst wenig und reagierte überaus verhalten gegenüber der Wohltätigkeit ihrer Gastgeberin. » Hübsch hier. Aber, ich denke, ich werde mich hier ein wenig eingeengt fühlen.«
»Oh, du kannst jederzeit gehen, wenn du willst. Wäre natürlich Schade … für mich.«
»Ich möchte nicht, dass du etwas falsch verstehst«, gestand Livana ihr, »doch ich denke, hierbei keine große Wahl zu haben. Es wäre für mich von Vorteil zu bleiben. Ist nicht allein wegen dir …« Befangenheit dominierte ihre Stimmlage. »Ich hoffe, du kannst das verstehen?«
Einmal mehr zelebrierte Amina ihr dauerhaftes Kopfnicken, diesmal mit einer gemischten Stimmung im Gemüt. »Ich akzeptiere das.«
Anerkennung zeigte die Aufgelesene trotz ihrer Bedenken und pflegte den geteilten Haushalt, wenn die Geringverdienerin mal nicht anwesend war. In ihrem Verständnis war es fürs Erste eine Arbeitsbeziehung; ein bedingtes Geben und Nehmen. Man konnte nicht umhin, eine gewisse Anspannung zwischen ihr und der fremden Gönnerin Amina zu spüren. Aus jenem Grund legte Livana einige Regeln fest, um zu vermeiden, sich gegenseitig auf die mentalen Füße zu treten. So sehr Amina das übernatürliche Wesen an ihrer neuen Partnerin schätzte; das V-Wort in dieser gemeinsamen Beziehung blieb streng verboten. Fragen zu dem Thema, wie auch ihrer Vergangenheit, wich Livana vehement aus. Sie argumentierte stets mit dem lückenhaften Gedächtnis, das sie zu plagen schien. Ob Livana letztendlich zu jener bestimmten Gattung zu zählen war, blieb für die Begutachterin genauso ungewiss. Außer frischem Blut, aß und trank Livana nichts; was popkulturell für diese Gegebenheit sprechen würde. Doch war sie überhaupt nicht so bleich, wie es sich für ihre Art angeblich ziemte – eher dunkel wie Ebenholz. Außer bei ihren, nicht allzu häufig vorkommenden, Verwandlungen: da ging die Hautfarbe in ein leichtes grau über. Hatte Amina Sorge, die neue Mitbewohnerin würde ihr natürliches Wesen jemals der Öffentlichkeit preisgeben, so wurde sie in diesem Punkt beruhigt. Ihre ursprüngliche Gestalt nahm Livana nur aus eigenem Antrieb an, wann und wo sie es wollte.
Eine ewige Diskussion begleitete die beiden Damen, bedingt durch den vermeintlichen, körperlichen Zyklus des fremden Wesens.
»Was soll mit dem Mondschein sein?« Die Ausgefragte gab sich bereits leicht genervt von derlei Fragen.
»Und was ist mit Silber?«
»Ich bin keine Mikrowelle!«
»Du bist keine Babycreme, du bist keine Mikrowelle! Was bist du eigentlich?! Hm, und wie alt bist du insgesamt?«
Livana hob das flache Näschen. »Das fragt man eine Dame nicht, auch wenn sie kein Mensch ist!«
Das Austesten von mythologischen Überlieferungen wurde schnell zu einem festen Ritual des Alltags zwischen den beiden. Als Amina mit einem Kruzifix ankam, nahm sie ihre Freundin mit einem Blick in Empfang, der förmlich ‚Echt jetzt!‘ schrie.
Peinlich berührt baten Aminas Augen um Entschuldigung. »Weißt du, nur damit wir es hinter uns haben.«
»Du willst das wirklich, nicht wahr?« Livana ging auf sie zu und nahm das Symbol fest in die Hand. Nichts geschah. Sie grinste ihrem Gegenüber entgegen. »Hab ich selber noch nicht ausprobiert«, kam es, mit etwas Erleichterung unterlegt, aus ihrem Mund. »Nun, … jetzt weiß ich es ja.« By the Way bereitete das Kochen mit Knoblauch auch keine Sorgen. Wie jeder andere verschmähte Livana nur den Mundgeruch ihrer Tischnachbarin nach dessen Verzehr, sonst nichts.

Für Amina war dieser neue Kontakt, dieses neue Leben, eine willkommene Abwechslung. Eine völlig neue Welt öffnete sich mit der frisch entdeckten Bekanntschaft. Allein die neue Mitbewohnerin zu beobachten, stellte eine faszinierende Beschäftigung dar. For Science! Zu allen Zeiten – so oft wie es sich anbot – beobachtete Amina ihre Freundin beim wöchentlichen Blutgenuss. Vor allem interessierten sie Livanas Zähnen und ob jene bei der Nahrungsaufnahme ihre Form änderten. Das Blut am Tisch war für die resolute Krankenschwester kein Grund, sich den Appetit verderben zu lassen. Schon eine halbe Ewigkeit hatte dieser Anblick sie nicht mehr erschaudern lassen. Außerdem brachte die Frau mit den ungewöhnlichen Essgewohnheiten sehr gute Manieren mit an den Tisch.
Zuerst wollte Livana den Eindruck erwecken, sich nicht weiter an den sie analysierenden Blicken ihrer Ernährerin zu stören. Das Unbehagen als wissenschaftliches Objekt zu fungieren, konnte man ihr jedoch ansehen. Die recht auffällige Verhaltensweise Aminas wurde schnell angesprochen. Livana betrachte sie so fragend, wie misstrauisch von der Seite. »Was?«
Ertappt. »Nichts, nichts …« Da sie jetzt nun so oder so erwischt wurde, ging Amina aufs Ganze, hob die rechte Oberlippe der Trinkenden prüfend an und musterte die Beißer darunter, um zu sehen, ob diese nicht einen plötzlichen Wachstumsschub vollzogen. Doch blieben Livanas Schneidezähne selbst bei der gelegentlichen Blutverköstigung normal und waren weit entfernt von denen einer solch mythologischen Kreatur. Sie waren zwar geringfügig größer als die üblichen Schneidezähne, aber nichts, was jetzt den Rahmen der Normalität sprengen würde. Die Wissenschaftlerin in spe nahm ihre andere Hand zur Hilfe und hob auch die linke Seite der Lippe nach oben. Bei jener Aktion erntete sie weiterhin skeptische Blicke ihres Gegenübers.
»As zu Teuwel achst du da?«

Das Problem der Versorgung ihrer Partnerin stand bei Amina an erster Stelle. Mit Blut befüllte Transfusionsbeutel zu stibitzen würde auf die Dauer auffallen. Also beschloss sie ihr eigenes Blut zu opfern – quasi als Direktversorgerin. Das dazu nötige Equipment war leicht zu bekommen und musste nicht mal gestohlen werden. Als gelernte Pflegerin war sie geübt in dem Ablauf einer Blutspende. Sie richtete sich zu Hause ihre persönliche Transfusions-Ecke ein. Die richtige Blutgruppe für Livana herauszufinden, war recht unproblematisch. Anscheinend wandelte ihr besonderer Magen das Blut einfach nochmal um, als würde der Organismus gewöhnliche Nahrung zu sich nehmen.
Natürliche Müdigkeit war die Folge des Verlustes. Ein Erschwernis mit dem Amina nun zurecht kommen musste. Aufgrund des geringen Blutpegel fiel ihr das besonders bei der Arbeit schwer. Die chronische Unterbesetzung der Station, bedingt durch den andauernden Personalmangels, hielt die Arbeitnehmerin fast jede Minute des Arbeitstages auf Trab. Der erhöhte Erschöpfungsgrad ließ ihr in den freien Stunden nicht viel Platz für Unternehmungen – trotz der tatkräftigen Motivation, das neue Leben mit der Partnerin aufzubauen. Die stetige Blutabnahme verschlimmerte die Lage grundsätzlich. Das Groß an Freizeitaktivitäten blieb damit recht beschränkt, was ebenfalls dem Umstand geschuldet war, dass Livana nur in den dunklen Stunden hinaus konnte. Der Haushalt stimmte 2:0 für einen gesetzten Fernsehabend.
Eingekuschelt auf dem Sofa hielt Livana sie fest in den Armen und schaute mit ihr einen Film. Es handelte sich um „Carrie“; eine von Aminas Lieblingsgeschichten.
»Weißt du, Liv? Du könntest mein Pokémon sein.«
»Was? Wie meinst du das?«
»Wenn wir noch in der Schule wären, würde ich dich gegen meine Feinde einsetzen – gegen jeden, der mir dumm kommt. Einfach einmal Schlitzer –«
»Du würdest mich also aalglatt benutzen?«
Amina schmiegte ihre Wange an das Kinn der Geliebten. »Tue ich doch jetzt schon.«

Schwarzlichtbirnen bereicherte nach und nach die Beleuchtung in der Wohnung. Je nachdem, wer von den beiden Bewohnerinnen die Räumlichkeiten betrat, musste nur der dafür markierte Schalte betätigt werden. Weiches Licht ergänzte die restliche Beleuchtung. Sonnenlicht blieb tabu, auch wenn zur Zeit kein Sommer herrschte. Vielleicht lag es an den UV-Strahlen, die im Winter zwar weniger, dennoch ebenso vorhanden waren. Aus irgend einem Grund reagierte Livanas Haut empfindlicher auf das natürliche Licht. Selbst bei bewölktem Wetter hielt sie sich von dem Fenstern fern. Livana bezeichnete es als ein unangenehmes Zerren in den Muskeln, wenn sie ihren Körper allgemein hin dem Tageswetter ausgesetzt sah. Und wenn Sonnenstrahlen durch das Fenster direkt ihre Haut streiften, verursachte es ihr eine deutliche Pein. Es war nicht so, als würde sie sich gleich in Staub auflösen, doch konnte es ihrem verkrampften Gesichtsausdruck entnommen werden, dass diese Erfahrung für sie merkliche eine schmerzhafte bedeutete.
Seltsam war nur, dass Amina nicht sah, wie oder was da die Haut ihrer neuen Gefährtin verletzte. Livana dementierte es sogar – für eine kurze Zeit. »Hast du es schon einmal im Winter versucht?«
»Warum, genau, glaubst du mir nicht?«
»Ich meine ja nur – vielleicht ist es nur …«
»Hältst du meinen Zustand für eine psychische Krankheit? Das wäre mir nämlich recht neu.«
Ein flinkes Abwinken. »Es ist nicht so, dass ich dir nicht vertrauen würde – aber es ist schon echt schwer, na ja, du weißt schon … Musst du aber auch zugeben.«
An einem sonnigen Spätherbsttag wollte Livana es ihr beweisen. Der Umstand schien sie zu nerven, nicht in der Lage zu sein, tagsüber das Haus zu verlassen. »Ein verfickt normales Leben, mehr will ich doch gar nicht!«
»Bist du dir da wirklich sicher?«
»Wie jetzt?! Machst du jetzt einen Rückzieher, oder was?«
Doch nichts würde eine fest entschlossene Livana nun davon abhalten. Sie konnte es nicht ab, wenn niemand ihr glauben schenkte. Außerdem hatte sie die Alternative geschmeckt. Dieses neue Leben zeigte viele Möglichkeiten auf, doch nicht alle waren für sie bestimmt. »Früher hätte ich so etwas nie gemacht. Ich hoffe, du bist jetzt zufrieden.« Sie streckte den Arm aus – drei, vier, fünf – und zog ihn so schnell wie möglich wieder zurück. Aber nicht, ohne dabei einen zischenden Schrei auszustoßen. Ihr Körper begab sich in eine Abwehrhaltung und krümmte seine Muskeln aufs Heftigste. Die Wandlung in ihre wahre Gestalt geschah wie von allein. Die Arme zogen sich in die Länge, entblößten dabei graue Venen, die gut definiert, jene sehnig-muskulösen Hautoberfläche zeichneten. Ein Strecken im Mittelteil ihrer verkrampften Füße ließ Livana wachsen und auf den Ballen unruhig umhergehen. »Scheiße, tut das weh!«
Auf einfühlsame Weise wollte Amina die auf- und ablaufende Livana beruhigen, umfasste ihre, nun sehr hohe, Schulter, um sie zu besänftigen und umarmte sie im Anschluss fest. »Es tut mir leid! Es tut mir leid, ehrlich! Lass mich mal sehen.« Doch wie sie Livanas Hand von der geschützten Wundstelle herunternahm, konnte die gelernte Krankenschwester beim besten Willen immer noch nichts erkennen. Es auszusprechen kam ihr nicht in den Sinn. Von Schmerzensschreien erfüllten traten bei Livana wieder die hauseigenen Raubtieraugen hervor.
Diesem Anblick ausgesetzt, wollte Amina ihr ungern widersprechen.

Voller Angst um ihre Liebe klebte Amina die meisten Fenster ab. Mitleid kam mit dem gar nicht mehr so fremden Wesen auf. Die eine Hälfte ihres Lebens musste Livana ihre Persönlichkeit vor dem Sonnenlicht verstecken, die andere Hälfte vor sich selbst. Da draußen könnte ihr soviel passieren, trotz ihrer übermenschlichen Stärke. Die Fürsorgliche würde dafür kämpfen, dass diesem zerbrechlichem Wesen kein Leid zugefügt würde. Den Umständen entsprechend hatte Livana viel Zeit und verbrachte die Tage damit zu, am Laptop zu sitzen und das Netz zu studieren. Dabei stieß sie dann und wann auf etwas Hilfreiches. Die Recherche ergab, dass es intelligentes Glas bereits seit einigen Jahren auf den Markt geschafft hatte. Leider wurde diese Alternative vorerst als viel zu teuer eingestuft, die Fenster in der Wohnung auszutauschen – besonders für Aminas magere Gehaltsklasse.
»Na, da werden wir wohl sparen müssen.«
»Aber du kannst auch schaltbare Folie kaufen.«
»Auch nicht gerade billig.«
»Bitte, wenn dir nichts an meiner Unversehrtheit liegt«, spottete Livana und streckte die überlange Zunge heraus, zum Staunen der Lebenspartnerin.
»Interessant. Hab ich bei dir auch noch nicht gesehen.«
»Aber gespürt.«

Da ihre Bettgenossin den ganzen Tag über schlief, trug sich Amina ausschließlich nur noch für Nachtschichten ein. So konnte sie nachts länger mit ihr zusammen sein. Ausgedehnte Spaziergänge fanden zumeist im Mondschein und bei Laternenlicht statt. Zum Glück hatte der 24/7-Laden an der Ecke immer offen. Und da es Winter war, konnten beide schon recht früh am Abend ein Restaurant oder andere Veranstaltung besuchen.
»Mal sehen, wie wir das dann im Sommer machen.«
Livana zeigte sich im Umgang mit ihren Mitbürgern völlig normal. Niemand schöpfte jemals verdacht, da könnte ein Wesen, jenseits der Grenzen des menschlichen Vorstellungsvermögens, vor ihnen stehen. Ob bei den routinierten Alltagserledigungen oder der ausgedehnten Shopping-Tour: Jeder würde meinen, dass die beiden zwei völlig normale Freundinnen sind.

Trotz ihrer wandelbaren Gestalt hatte Livana mit den Interessen der Damenwelt, verständlicher Weise, wenig zu tun; widmete sie ihr ganzes Leben ausschließlich dem Überleben. Für so eine, dem Anschein nach, gefährliche Tötungsmaschine lief sie in der Wohnung mit einem eher unspektakulär, schluffigen Gang herum. Kämpfte sie nicht gerade um die eigene Existenz, bewegte die Frau ihre Beine nur gemächlich. Livanas Gesichtsausdruck gab sich die meiste Zeit ebenso schlaff wie die eigene Körperhaltung.
Amina hatte für sie zwar in der Textilfrage ordentliche Besorgungen angestellt, dennoch bevorzugte die Partnerin in der Textilfrage ferner das legere Ambiente. Wenn Amina nicht da wahr, zog die Hausfrau nicht mehr als einen Slip und ein extrem weites Hemd über, so wie sie von ihrer Gastgeberin am ersten Tag eingekleidet wurde. Sogar in der Anwesenheit ihrer Partnerin konnte sie sich von diesem Kleidungsstil nicht trennen.
»Kannst du dir bitte etwas ordentliches Anziehen, Liv?«
»Ich mag keine eng anliegenden Sachen. Die gehen dann kaputt, wenn ich mich verwandeln sollte.«
»Solange du hier bist hast du dich noch nie ungewollt verwandelt – meistens. Und du sagst es doch selbst, du verwandelst dich nur aus eigenen Stücken.«
»Ja, aber sich sag nur … könnte sein.«
So fing Amina an, die Lebenspartnerin einzukleiden, stellte sie vor den Spiegel und brachte erst nach einer Weile ihre Verwunderung zum Ausdruck. »Hey, ich kannst dich ja darin sehen.«
»Fängst du wieder damit an?!«
»‘tschuldigung.«
Livanas Körpermaße hatten etwas Eigenes. Um jenem entgegenzuwirken, entdeckte Amina bald schon das Stricken für sich. Nach den ersten fehlgeschlagenen Ansätzen hatte sie schnell den Bogen heraus – mehr oder weniger. Sie lernte die Tätigkeit des Ribbelns als neuen Freund schätzen.
Die Festtage standen bevor. Ein schlanker, langer Pulli für die Weihnachtszeit war genau das richtige für die Antagonistin des guten Kleidungsgeschmack, genannt Livana. Unglücklicherweise konnte Amina nicht genügend Zeit aufbringen und kreierte eine unheiliges, rot-weißes Mischwesen, was sich alsbald Kleidungsstück schimpfte. Sie entschied, es Livana nicht als Weihnachtsgeschenk zu verkaufen und präsentierte es ihr schon einige Tage vorher. Auch weil diese beim Stricken des Stoffgiganten sowieso permanent anwesend war. »Tut mir Leid, Liv. Sollte mal ein Pulli werden.«
»Na ja, wenigstens passt es zu mir.«
Der Kragen war zu weit, ein Ärmel länger als der andere und Fransen traten an jeder Ecke heraus.
Als das Mannequin ihr Spiegelbild betrachtete, viel ihr dabei etwas auf. »Oh, eigentlich passt es sehr gut zu mir.«

Langsam trat diese Beziehung in ein wohltuendes Stadium. Immer öfters traf Amina ihre ungewöhnliche Beziehungspartnerin lächelnd an. Über die neue Lebensfreude, welche Livana packte, konnte sie keine Beschwerde äußern. Die einst so wortkarg, wie verschlossene Frau gewöhnte sich an ihre neue Umgebung und die Gesellschaft, die sie beinhaltete. Ihre harte Schale abwerfend, öffnete sie ihre Persönlichkeit mit einer natürlichen Form der Akzeptanz. Es war nur eine Vermutung, doch Amina kombinierte, dass dieses Erstarken von Livanas Gemüt, wie auch ihrem Körper auf den Wohlfühlfaktor ausgelegt war.

Über zwei Monate waren vergangen seit dem die beiden Frauen zueinander fanden. Die Weihnachtszeit stand vor der Tür.
Es war Nachmittag der 24. Dezember: Weihnachtsabend. Der richtige Moment für Amina ihren Vater zu besuchen … und Livana mitzunehmen. Sie wollte endlich ihre neue Beziehung präsentieren. Mit diesem Vorhaben tat sich die Tochter jedoch schwer.
Mit ihrer neu gewonnenen Lebensfreude und den damit einhergehenden Humor machte Livana diese Lage nicht besser. »Was meinst du, was ihm mehr stört. Deine Hingabe zur gleichgeschlechtlichen Gesinnung oder das ich ein Monster bin. Oder ist beides das Gleiche?«
»Bitte! In dieser Situation: nicht lustig!«
Der Vater war schon eine ganze Zeit lang allein – Aminas Mutter vor Ewigkeiten von ihnen gegangen. Nun lebte der alte Mann recht zurückgezogen für sich und seine Filia.
Doch hatte das Kind, aufgrund ihrer beruflichen Beschäftigung, nur bedingt Zeit für Familienangelegenheiten. Im Jahr traten nur sehr wenige Gelegenheiten hervor, Zeit für den Vater zur Verfügung zu stellen. Die Weihnachtszeit war eine davon.
Einen weiteren Pullover zu stricken hätte zu viel Zeit in Anspruch genommen und wäre wahrscheinlich wieder nichts geworden. Aus diesen Gründen entschied sich Amina für eine Schachtel Zigarren aus Nicaragua mit Bittermandelaroma – der Weihnachtszeit angemessen. Den passenden Apfelwhiskey gab es natürlich dazu. Diese Hauptgeschenke bildeten, wie immer, nur den Überraschungsanteil neben den ganzen Socken und sonstigen Kleidungsstücken, die ihr Vater stets vergaß eigens anzuschaffen.
»Papa holt sich sonst nie was Neues. Rennt zum Teil noch in über zwanzig Jahre alten Unterhosen herum.«
Amina klingelte am Schild mit der Aufschrift Najaf neben dem Briefkasten.
Seine so tiefe, wie vertraute Stimme antwortete. »Ja?«
»Papa hallo, ich bin’s: Mina.«
Das hohe, knarzende Geräusch teilte ihnen mit, dass die Tür nun offen war. Die beiden Ankömmlinge mussten einige Treppenstufen bis ganz nach oben laufen. Fahrstühle wurden noch immer nicht eingebaut. Aus diesem Grund befiel Amina die Sorge um die Gesundheit des alten Herrn.
Die Wohnungstür stand schon offen. Langsam trat der Vormund hervor. Eine lange Umarmung und ein kräftiges Drücken zur Begrüßung. Daraufhin der unsichere Blick zur Seite: ein unbekanntes Gesicht.
»Oh, ähm ja. Das ist Liv. Wollte ich unbedingt mitbringen.«
»Freut mich«, sprach Herr Najaf. Ein zurückhaltender Handschlag für die Fremde. »Eine Freundin von dir … Arbeitskollegin?«
Kurz und knapp antwortete die Tochter mit einem simplen »Öhm, nicht ganz.«
Da ergriff Livana in verbaler Hinsicht die Initiative. »Wir sind zusammen seit einiger Zeit.« Die neue Lebensabschnittspartnerin gab Amina einen neckischen Schulterschubser zur Seite. »Nicht wahr, Schatz?«
Plötzlich errötend, erhob Amina die Hand, kurz davor zuzuschlagen.
Leicht wegduckend, konnte Livana ein schelmisches Grienen ihrerseits nicht verkneifen.
Dem Vater war die Verworrenheit anzumerken. Das stille Dreinschauen, verschleiert von Gedanken, sprach Bände. »Ach so.« Mit einer handlichen Gestik bat er das frisch gebackene Pärchen hinein.

Amina legte die Geschenke unter den mäßig geschmückten Weihnachtsbaum. Sie wusste sofort wo er stand. Dieses robuste Stück Plastik hatte sie vor rund einen Monat mit ihrem Vater aus dem Keller geholt und geholfen die Wohnung ein wenig mit zu dekorieren. Nicht komplett; denn aus Zeitgründen musste Amina ihren Terminplan einhalten und vorher auf dem Weg machen. Mit gedämpfter Begeisterung stellte sie nun fest, das der alte Mann nur wenig hinzugefügt hat. Und die Tochter führte sich vor Augen, hätte sie ihm dieses Jahr abgesagt, wäre die ganze Wohnung in ungeschmücktem Glanz getaucht. Beim Dekorieren hatte die Verliebte ihm noch nichts gesagt. Amina befiel die Unsicherheit, ob sie ihre neue Bekanntschaft überhaupt mitbringen sollte.
Sie nahmen beide das kleine, alteingesessene Sofa in beige in Beschlag, auf dem es sich früher der Besitzer mit seiner Frau gemütlich gemacht hatte. Damals wählte es die Mutter aus und platzierte das Möbelstück an jener Stelle.
Immer noch etwas durch den Wind, besetzte der Witwer den Sessel gegenüber, welcher von den Abnutzungserscheinungen etwas jungfräulicher erschien. »Also ihr … Ihr seit jetzt zusammen?«
Amina wusste um dem peinlichen Part, der nun folgte. So schnell wie möglich wollte sie es von der Seele haben. »Also eigentlich sind wir nur Freunde.« Zu ihrer linken Seite vernahm sie ein entrüstendes Kopfschütteln.
Eine geschwollene Stimme, die Livana entsprang, erhob sich und artete in einer kleinen Rede aus. »Von der eigenen Geliebten verleugnet. Ich armes Ding. Dabei helfe ich ihr sooft im Haushalt wie es geht. Wissen sie, wenn sie dann Abends völlig erschöpft nach Hause kommt, graule ich ihr sogar den Rücken bis wir ins Bett gehen.«
»Ach, ihr lebt also schon zusammen? Hört, hört!«
Amina stockte der Atem. »Nein – ähm, ich meine doch«, stotterte sie. Ein schwacher Seufzer entfuhr ihr. Es wurde Zeit die Scharade zu beenden. »Wir – wir sind schon etwas länger zusammen.«
»So, so«, gab sich der Vater zurückhaltend. Er wandte seine Aufmerksamkeit an die soeben ausgerufene Schwiegertochter. »Und was machst du so beruflich?«
Für fünf Sekunden oder mehr schwieg Livana.
»Ich frage nur, weil du den ganzen Tag zu Hause bist.«
»Papa!«, mahnte die Tochter.
Die Augen der Schweigsamen schienen etwas im Raum zu suchen. Sie wanderten mal zur linken und dann wieder zur rechten Seite. »Ich … Freie Autorin bin ich … Ja.«
»Ach was! Muss ich was davon kennen?«
»Ne, bestimmt nicht. Ich schreibe nur für Modemagazine und so.«
»Ist doch jetzt auch nicht so wichtig. Ich meine …«, versuchte Amina in dieser Situation für ihre Freundin einzustehen. »Wir ergänzen uns eben – in jeder Beziehung: beim Kochen, beim Müll-wegschaffen – «
»Im Bett!«, goss die schelmische Lebenspartnerin mit sichtlicher Freude weiterhin Öl ins töchterliche Feuer.
Zur selben Zeit, als Amina die Hände vor die Augen schlug, stutzte der Vater. »Aber … standest du nicht eigentlich mal auf Männer, Azizam?«
Mit den Händen vor Augen nickte diese peinlichst berührt. Sie wollte rein gar nichts mehr dazu ergänzen. Böse betrachtete sie die Verräterin – Ey, wenn du noch einen Ton von dir gibst, ramme ich dir einen Pflock durchs Herz! – bevor sie ihr Gesicht wieder versteckte.
Der Vater rechtfertigte seine Neugier. »Ich will damit nicht sagen, dass ich das verwerflich finde, aber wundern tut es mich schon. So ganz auf einmal.«
Tief in ihren Handflächen begraben versuchte Amina eine halbwegs ordentliche Antwort zu geben. »Ja, weißt du …« Es blieb aber beim Versuch.
Voller Einsicht schien der Vater die Scham seines Schützlings zu spüren, ergriff das Wort und wandte es an die neue Flamme. »Weißt du, du musst wirklich etwas besonderes sein. Den alten Typen hat sie mir nie vorgestellt.« Wieder an seine Tochter richtend: »Ich finde das überhaupt nicht schlimm. Hauptsache du hast jemanden gefunden.« Zurück zur Freundin: »Liv, pass gut auf sie auf. Sie hatte nie wirklich viele Freunde in ihrem Leben – war immer eine Eigenbrötlerin.«
»Danke … Vater«, kam es undeutlich zwischen den Händen hervor.
»Ich werde sie nicht enttäuschen«, versprach Livana ihm.
»Also du bist dann wohl die Frau im Haus, wenn du den Haushalt machst, Liv? Oder?«
Amina stöhnte auf. »Papa, bei uns gibt es diese Aufteilung nicht so direkt.«
»Okay, okay – ich sag ja schon nichts mehr«, winkte der alte Mann ab.

Mittlerweile waren die Geschenke ausgepackt. Herr Najaf schütte sich etwas von dem Apfelwhiskey ein und holte die Keksdose aus der Küche. Seine Tochter hatte mit ihm vor Weihnachten noch einen ganzen Haufen Plätzchen gebacken.
Amina wusste, er aß nicht so viel. Die geöffnete Keksdose war beinahe randvoll.
Herr Najaf bot Livana ein Stück Gebäck an. Dankend griff diese zu, nahm davon jedoch nur wenige Bissen an diesem Abend. Sie verbarg die aufkommende Übelkeit mit strenger Disziplin. Es fühlte sich wohl an, wie das Schlucken von Blut für andere – normale – Menschen. So beschrieb sie es jedenfalls in der Gegenwart Aminas. Die inneren Organe konnten gar nicht anders, als vehement gegen den Willen und die Disziplin ihrer Trägerin zu rebellieren. Herr Najaf bot ihr noch ein Plätzchen an, doch lehnte jene kopfschüttelnd ab und deutete auf den eigenen Bauch. »Ich hab es zur Zeit mit dem Magen.«
Daraufhin legte der Vater die Keksdose beiseite. »Und wie geht es im Job?«, fragte er seine Tochter.
»Es ist sehr anstrengend. Aber –« Und Amina legte ihre Hand auf die ihrer Begleitung. »Aber ich habe ja eine Aufgabe.«
»Schön, schön.« Der Vater nickte in vollendeter Zustimmung. »Freut mich.«
Amina musste das Thema ansprechen. »Und kommst du klar, Papa?« Sie wurde mit einem undeutlichen Nicken konfrontiert.
»Ja, warum nicht?«
»Na ja, wenn du nicht mehr die Treppen hoch schaffst?«
Reflexiv winkte der Vater stark gestikulierend ab. »Ach! So alt bin ich nun auch wieder nicht.«
»Trotzdem Papi!«
»Willst du mich etwa in ein Altersheim verfrachten?«
»Ich kann mich nicht immer um dich kümmern. Hab jetzt schon viel zu viel zu tun. Mein eigenes Leben ist da ja auch noch.«
»Schon gut, schon gut. Ich werde auf mich achten«, versprach der alte Mann ihr.


My, my, such a sweet thing / I wanna do everything / What a beautiful feelin’

Das Leben in seinem chaotischem Treiben schritt unvermindert voran. Da Amina Schicht hatte, mussten beide Seelen auch den Silvesterabend getrennt voneinander erleben. Jede für sich, wie sie es in all den zurückliegenden Jahr gewohnt waren. Pläne zu schmieden glich einer althergebrachten Illusion. Wie konnte bei dieser unverrückbaren Routine, das Alte dem Neuen weichen?
Gelegentlich warf das nächtliche Mondlicht helle Strahlen jungfräulicher Erkenntnis. So oft wie Livana auch ihre zutiefst menschliche Natur beteuerte, so schnell veränderte sich ihr Verhalten zu manchen Phasen. Dann legte die vielfältig Wandelbare während des Blutkonsums ein aggressives Verhalten an den Tag. Und diese Variationen schienen einem konstant auftretenden Faktor unterlegen zu sein. An einem unbescholtenen Abend wie jeder andere bemerkte es Amina bei Tisch. »Jetzt, da! Deine Augen, die sind definitiv anders.« Nur eine kleine Veränderung, doch kannte die Beobachterin den Körper der Bettgenossin bereits in und auswendig.
Bei jenem Aufschrei verschluckte sich die Tischnachbarin ein wenig an dem konsumierten Blut und sonderte einen Seufzer der Erleichterung ab, als auf Aminas Ausruf hin nichts spontan schreckliches passierte.
Diese Stadien der körperlichen Veränderung traten sowohl häufiger als auch intensiver in Erscheinung. Was sie gar auslösten, konnte Amina nicht ausmachen; hatte die Mitbewohnerin immerhin einen ganz anderen Kalender als ihre Freundin.
Das regelmäßig Auftreten der unerwünschten Metamorphosen hob eine gesteigerte Form von Emotionen hervor. Livana gewann mit der Zeit deutlich an Kraft. Tische, Sessel und Sofas konnten auf den ersten Anhieb ohne Probleme aufgelesen werden. Was sich beim Umdekorieren überaus bezahlt macht. Auch auf das Liebesleben übte diese neue Auswirkung einen physischen Vorteil aus. Nicht im Traum fiel es der Bettgenossin ein, darüber den Hammer der Beschwerde zu senken. Fürs Erste.
Der Grund für die ungeplanten Transformationen kristallisierte sich erst nach einer Weile heraus. Zumindest stellte die Begutachterin, nach all den Stunden der Observierung, eine Theorie auf: Livana nahm zu wenig Flüssigkeit auf. Ihr Körper reagierte instinktiv auf den Versorgungsengpass und schaltete, bei jedem bisschen Blut, was er zu speichern pflegte, in den enttarnten Verarbeitungsmodus. Dieser setzte seinen Zustand quasi zurück in die eigene Urgestalt. Heute blieben jene Veränderungen noch immer minimal. Und morgen? Was ist mit morgen?
Immer öfters gab sich Livana der Unruhe hin, wandelte schlaflos in der Wohnung umher, war reizbarer. Sie fing an wahllos Zahlen aufzusagen. Der neutrale und recht müde wirkende Gesichtsausdruck, mit dem sie herumlief, teilte Amina mit, dass Livana im Inneren ganz weit entfernt war. Kurze Anflüge von gelegentlichen Zuckungen am ganzen Körper setzten ein besorgniserregendes Bild zusammen.
Einmal – eines freien Tages in der Früh, kurz nachdem Zubettgehen – wachte Amina allein im gemeinsamen Schlafgemach auf. Der Morgen dämmerte gerade und die Schlafzimmertür stand offen. Diese ließ einen Blick auf die tiefe Schwärze im Flur werfen.
Amina trat in die bekannte Dunkelheit. Da! Die Wohnzimmertür war ebenso wenig geschlossen. Einmal in den Spalt gespäht, durchfuhr die Spionin ein rascher, elektrisierender Schock, der alle Glieder befiel. Sie hatte die beiden gelb-leuchtenden Schlitze lange nicht mehr so intensiv strahlen gesehen. »Oh, verdammte Scheiße! Liv, du hast mich erschreckt!« Auf den Schock versuchte sie ein erheitertes Gemüt aufzusetzen, was allerdings der erzwungenen Sorte entsprang. »Das wird wohl langsam zur Gewohnheit, was? Das mit dem Erschrecken …«
Stumm vor sich hin hockend besetzte Livana den einzigen Sessel im Haushalt. Ihre Augen, die denen eines Velociraptors Konkurrenz machen konnten, starrten durch die Leere des Zimmers zum Fenster hinaus. Die Jalousien – nur halb herab gesengt – ließen ein wenig von dem tristen Morgenschein in den Raum. Zwei lumineszierende Pupillen trafen auf die Beobachterin dieser Szene. »Was ist?«
Amina deute mit der Unterstützung ihr Finger auf das hervorgehobenen körperliche Merkmal. »Deine Augen …«
Die Schlaflose gab zuerst keinen laut von ihrer Seite. Fragenden Blickes wurde das eigentliche Anliegen erst in den folgenden Momenten erfasst. »Entschuldigung. Ich kann das zur Zeit nicht kontrollieren.« Die abnormen Iriden richteten ihren Blick wieder auf die Außenwelt. »Sehe ich wirklich so abstoßend aus?« Eine Frage, die sie eher ihrem eigenen Ich zu stellen schien.
Amina wusste nichts darauf zu antworten, obwohl ihr der Sinn danach stand, der Verlogenheit eine Chance zu geben.
»Hm…«, realisierte Livana. »Tja, musst dich wohl dran gewöhnen. Die schrecklichsten Seiten des Lebens kommen erst zu spät zum Vorschein. Ich war schon immer ein Dorn im Auge von allen anderen.«
»Sag doch so etwas nicht! Ich, zumindest, brauche dich.«
In ihre Unruhe vergraben schwieg Livana diese Diskussion aus.

Hektik bestimmte alsbald den Tagesablauf. Ein gemütlicher Fernsehabend schien kaum mehr möglich. Es würde einen viel zu großen Aufwand an Konzentration für Livana kosten. Zu den bereits etablierten Störfaktoren traten noch weitere in Erscheinung, welche diese, einst so gut funktionierende, Beziehung zu bedrohen schien. Die Übernatürliche begann in exzessiver Weise an ihren Fingernägeln zu kauen, während sie dem Drang des Zählens nachkam. Der Eindruck einer Suchtbefriedigung drängte seine auffällige Erscheinung in den Vordergrund. Diese unziemliche Verhaltensweise war für Livana nicht weiter schlimm, konnte sie ihre Krallen immer wieder nach belieben auf die passende Größe nachwachsen lassen. Beim Lackieren eine nicht zu unterschätzende Eigenschaft. Doch ging Amina dies und das dauerhafte Wippen mit den Beinen nicht unerheblich auf die Nerven. Sie wusste, dass etwas in der Lebensgenossin brodelte – ein Vulkan, der drohte auszubrechen.
Es gab Tage, da war Livana nicht sie selbst. Ihr Humor verflog mit einem Mal. Mit dem von Unruhe geplagtem Geist konnten dann keine Scherze mehr getrieben werden. Jede Bemerkung wurde bitterernst aufgefasst und hinterfragt. In ihrer selbstauferlegten Paranoia legte sie jede Kleinigkeit auf die rhetorische Waagschale.
»Wie meinst du das?«, hörte Amina immer wieder von ihrer Partnerin, die mit ständigem Nägelkauen beschäftigt war, die juckende Epidermis zerkratzte und hippelig ihr Gewicht von einem Bein aufs andere verlagerte. Das Abschaben der Haut ließ ein aufgeschürftes Relief zurück. Etwas, was sich aber nicht mehr zeigte, wenn die Verwandlung vollständig eintrat.
Ein gesunder Diskurs mit der sonst so intelligent veranlagten Partnerin war nicht mehr möglich. Jene Anspannung wandelte die traute Zweisamkeit zu einer lästigen Aufgabe, die Hut über den geliebten Charakter zu einer ungeliebten Pflicht. Aber was sollte in so einer Situation getan werden? Noch mehr Blut konnte Amina schwerlich geben. In ihrem Körper und ihrer Seele verblieb nichts mehr, um diesen Kampf aufzunehmen.
Und mittlerweile war ihr Livana nicht mehr geheuer. Unaufhaltsam begann eine Phase in der Amina zum ersten Mal richtig Angst verspürte – nicht nur um diese Beziehung, sondern auch um das eigene Leben.
Dann und wann fing Livana an geistesabwesend vor sich hin zu starren. Ein ungehaltenes Atmen ließ die gequälte Seele zuweilen wie das ausgehungerte Raubtier erscheinen, das sie in ihrem Inneren war. Einer gezielten Aggression seitens der Lebensgenossin hätte Amina nichts entgegenzusetzen.

Es war die Zeit gekommen für eine kleine Vorsorge – nur um der dringendsten Not wegen. Amina erwarb ein Set aus UV-Lampen; einen großen, tragbaren vierhundert Watt Strahler, sowie seine kleine Schwester in zarter Taschenlampen-Form.
Jedoch begann sie in dieser Bestellung einen folgenschwerer Fehler: Als Amina nach einer Schicht morgens nach Hause kam, fand sie das erwartete Paket geöffnet vor. Neben der aufgerissenen Sendung und seinem Inhalt, lehnte eine wartende Livana an der Küchenfront. In ihren Händen faltete sie fein säuberlich die Verpackungsreste. Es schien eine Art Beschäftigungstherapie zu sein, um die Wartezeit zu verkürzen.
Mist! Ich hätte es mir auf die Arbeit Liefern lassen sollen. »Wie bist du daran gekommen?«
»Konnte den Schein gestern Nachmittag aus dem Briefkasten fischen, als ich kurz draußen war, den Müll herunterschaffen. Dann habe ich das Paket von der Post abgeholt, während du einkaufen warst.«
»Ach, deswegen hab ich den nie bekommen. Na, das ist ja schön.«
»Ja, nicht wahr,« nickte Livana siegesgewiss. »UV-Lampen, was?« Sie gab sich keine große Mühe die verräterische Freundin anzuschauen. »Bin ich dir so eine Last geworden, dass du mich jetzt loswerden willst?« Ein selten gewordenes Grienen zierte ihren Mund. »Oder ist das ein neues Spielzeug für die gemütlichen Stunden. Wusste gar nicht, dass ich so auf schmerzen stehe.«
Amina versuchte aufbrausend zu wirken. Die Betonung hierbei liegt bei versuchen. Es kam weniger resolut herüber, als gehofft. »Sag mal, was gehst du eigentlich an meine Sachen?(!) Ich habe dir nicht erlaubt meine Pakete zu öffnen(!)« Und das tat sie sonst auch nicht – bis jetzt zumindest.
»Nun, ich hab lange überlegt … und mich dann entschieden. Ich bin nun mal charakterschwach, wie du weißt. Und siehe da; ich hatte recht. Gut, dass ich nun über deine Absichten Bescheid weiß.«
»Du weißt, dass du nicht mehr dieselbe bist. Ich will mich nur verteidigen können.«
»Ist das so?!«, schrie Livana spontan auf.
Zum Glück hat diese Wohnung dicke Wände.
»Wirklich großartig, dass du so ein Vertrauen in mir hast!«
»Du bist charakterschwach – das hast du gerade zugegeben.« Aminas versöhnliches Lächeln prallte an der Aufgebrachtheit gegenüber ab.
»Und das gibt dir das Recht über mich zu urteilen?!«
Amina deutete mit einem bedeutungsschwangeren Ausdruck auf das aufgerissene Paket.
»Na gut«, verstand Livana und rieb die so wässrig, wie errötenden Augen kräftig durch. Ein Schiefen – das Hochziehen von reichlich Schnodder – erklang im Raum. »Aber was soll ich machen?«
»Du kannst mir wirklich glauben. Ich stehe zu dir.«
Von der Seite sahen sie zwei zweifelnde Augen an, bevor Livana die größere der beiden Lampen ohne Mühe hochhob und sie ihr vor die Nase hielt.

Der wahre Ernst des Lebens begann, als Amina eines Morgens von der Arbeit kam und auf der Straße bei der Eingangstür zu dem Wohnhaus ein Geräusch wahrnahm. Sie folgte dem sinistren Klang bis in den Hinterhof. Da stand Livana mit dem Rücken zu ihr im Garten … steif und fest, in verwandelter Gestalt. Blutige Hände zierten die langen Klauen-bewehrten Finger. Als sie sich – wie damals bei ihrem ersten Treffen – umdrehte, nahmen raubtierartige Augen wieder ihre kreisrunden Pupillen an.
»Liv?« Amina nahm die völlig Erstarrte vorsichtig in ihre Arme, ergriff die Pranken und betrachtete das Blut. Sie hob eine Hand voller Schnee auf und rieb die dunkelrote, teilweise schon getrocknete Flüssigkeit von den Krallen. Danach schob Amina ihre starre Freundin langsam auf die Straße, hielt Ausschau links und rechts, wohlbedacht niemanden die beiden sehen zu lassen. Nebenbei begrub sie die dunkelrote Spur, welche sich hinter ihnen herzog, mit dem bisschen Schnee, der noch vorhanden war.
Amina führte sie nach oben in die gemeinsame Wohnung und musste ihren Körper, unwillig zur Kooperation, im Flur ablegen. Das Gewicht von Livanas eigenen Taten, hatte sich gleichwohl auf ihr Herz niedergelegt. Den Plan, sie auf die Couch zu legen, verwarf Amina fürs Erste. Innerlich sah die Pflegerin der Pflicht entgegen, ihre, vom Trieb gefährdete, Freundin auf Diät zu setzen, damit der Drang nach mehr Blut schnell erlosch. Aber wie? Sie war viel zu Müde, um ihr Gehirn im Moment diese Arbeit verrichten zu lassen. Im Anschluss nahm sie Livanas Hand. »Versprichst du mir, nie mehr ohne meine Erlaubnis raus zu gehen?«
Die großen gelb-leuchtenden Augen sahen voller Zorn zu ihr auf. In ihnen gärte das überbordende Unverständnis. »Du kannst mir nicht verbieten ich selbst zu sein! Ich kann es mir ja nicht mal selbst verbieten!«
»Wirst du es zumindest versuchen?«
»Was bildest du dir eigentlich ein?! Was soll ich versuchen! ICH BIN NUN MAL SO!«
Wieder kamen die massigen Wände des Altbaus sehr gelegen. Kaum einer konnte diesen gellenden Schrei eindeutig wahrnehmen. Nicht wenn der Fernseher oder das Radio in den naheliegenden Wohnungen lief. Es hätte diese Situation unnötig verkompliziert, wenn einer der Nachbarn aus purer Neugier vorbeigeschaut oder aufgrund der unangenehmen Lautstärke die Polizei informiert hätte.
Die Blutbesudelte erhob ihren Körper, wie auch die Stimme. »Jeden Tag bin ich hier drinnen eingesperrt! Jeden Tag weiß ich nicht, was ich machen soll! Ich kann nicht mal mehr durchschlafen! Langeweile ohne Ende.«
Ganz vorsichtig versuchte Amina Livana zu beruhigen. »Nun, du könntest ein Buch lesen oder –?«
»Als ob ich die Konzentration dafür aufbringen könnte! Nein! Nein, ich muss hier raus.« Knurrendes Luftholen. »Sofort!!!«
Amina hielt sich die Ohren zu. Oh, oh! Na, wenn das niemand gehört hat … Allmählich bekam sie es mit der Angst, um ihre Geliebte. »Warte! Du darfst nicht raus!« Einmal mehr trat die Furcht vor dem Gesetz auf. Was ist wenn sie einmal bei ihren Streifzügen von der Polizei geschnappt würde? Würden sie die Gefangene in eine lichtundurchlässige Zelle sperren? Wenn nicht, was würden sie tun, wenn Livana vor Schmerzen schreit? Würden die es überhaupt ernst nehmen? Amina war sich fraglos bewusst, dass so ein Szenario den Tod für das geliebte Wesen bedeuten konnte. Die Unbelehrbare musste damit konfrontiert werden. »Was ist, wenn … die Polizei – !«
»Ich habe es schon sehr lange geschafft allein zu überleben, danke auch!«
Danach gelang es Amina vorerst, die stürmische Seele drinnen zu behalten. Im Badezimmer wusch sie ihr danach sorgsam die purpurrote Flüssigkeit von Finger und Kinn.

In den darauffolgenden Tagen gab sich Livana besänftigt. Doch konnte sie nicht umhin, eine gestresste Stimmung abzusondern.
Mit kaum einer Besserung in Sicht wurde das Kauen an den Nägeln zum permanenten Zustand. Amina wies ihre Mitbewohnerin jede freie Minute darauf hin und versuchte sie davon abzuhalten.
Gern nahm die Hypernervöse auch ein Päckchen Nüsse, Cashewkerne oder Mandeln und verteilte den Inhalt in der ganzen Wohnung. Beim Einsammeln zählte die Findige ihre erbeuteten Exemplare. Jedoch fanden nicht alle kernigen Exemplare nach so einer Aktion den Weg nach Hause. Beinahe jede Ecke in den eigenen Händen barg jetzt Ausreißer von Livanas Unterfangen. Kein Tag verging, an dem nicht mindestens eine Nuss irgendwo zum Vorschein kam.
Weitere Entzugserscheinungen mischten ihre Anwesenheit mit einer ungeheuerlichen Nervosität: ein Schwitzen, ein Zittern, ein Beben der Lippen.
»Frierst du?«
»Alles juckt!« Es schüttelte sie am ganzen Leib. Livana fing damit an ihre Krallen in die Haut zu schlagen. Nur mit Mühe konnte Amina sie davon abhalten, ihren Körper zu zerkratzen.
»Es reicht!« Der Entlastung halber, musste Livana in ein Krankenhaus geliefert werden, zu besonderen Konditionen. Eine persönliche Betreuung würde für Amina noch viel mehr kosten, da der Blutverlust, welcher mit ihrer Versorgung einherging, sie zusätzlich belastete.
Doch bevor sie jenen Plan in die Tat umsetzen konnte, steigerte die Abstinenten ihre Aggression ins Absolute. Die Patientin packte eines Abends ihre Sachen für die Außenwelt. »Ich muss hier weg!«
»Nein, Liv! Nein, du bleibst hier! Wir können es uns gemütlich machen auf dem Sofa und einen Film schauen.« Sie hob den Wohnbereich mit der Hilfe ihrer Hände lieblich gestikulierend hervor. »Also …? Was ist? Liv?«
»Nein, danke!«, wurde Amina im genervten, fast schon gehässigem, Tonfall streng erwidert.
Als sich Livana mit großen, zackigen Schritten auf die Tür zu begab, stellte sich die Hausherrin ihr entgegen. »Das werde ich nicht zulassen, verstehst du?«
Ein Grinsen zierte die zum Aufbruch Bereite. »Du willst mich aufhalten?« Das entartete Schmunzeln, welches von Wange zu Wange eine unnatürliche Breite entwickelte, brachte eine Reihe von spitzen Reißzähnen zum Vorschein. »Na, da bin ich doch mal gespannt.« Livana schob das Hindernis mit Leichtigkeit zur Seite und ging durch die Tür.
An der soeben geschlossenen Tür glitt Amina mit dem Rücken gen Boden hinab und ließ ihren Gefühlen freien Lauf. Ein Verziehen des Gesichts, ein Schnaufen, ein Aufstampfen mit dem Bein und das mehrmalige Schlagen der Faust gegen die Wand – immer und immer wieder. Schlussendlich vergrub sie den Kopf zwischen ihren langen, angelehnten Beinen.
Einige Schluchzer nur, dann … Dann ergriff sie der Mut; brachte die Gefallene zum Aufstehen und schnappte sich an ihrer Statt die dicke Jacke für die Kälte da draußen.
Fast hätte sie die beiden Lampen vergessen. Amina musste nochmal in die Wohnung rein, um die Möglichkeiten der Selbstverteidigung vollends auszuschöpfen – auch wenn sie diese nur ungern zum Einsatz bringen wollte.
In der Außenwelt angekommen fand eine entschlossene Amina zu Beginn keinerlei Hinweise auf dem Verbleib ihrer im Geiste entarteten Freundin. Es glich einer Herausforderung etwas in dieser Dunkelheit auszumachen. Beim Blick auf den Straßenboden jedoch zeichneten sich Spuren im leichten Pulverschnee ab. Von der Frische her und die Größe beachtend, könnten diese zu ihr passen. Es war nicht einfach ihnen zu folgen, drang der nasse Asphalt an vielen Stellen durch den zarten Schnee hindurch. Der große Strahler schaffte in dieser Situation Abhilfe.
Wie nicht anders zu erwarten, führte die Spur kreuz und quer über die Straße. Gewöhnlich wich Livana den grellen Lampen, die ihre Augen zum Schmerzen und die Haut zum Jucken brachten, aus. In Gesellschaft mit der Partnerin riss sich die Lichtempfindliche stets zusammen. Jetzt erst bemerkte Amina, was sie ihrer Freundin da vielleicht zugemutete hatte.
Es begann zu schneien – und zwar heftig. Ein wunderschöner Moment, wenn die derzeitige Situation nicht wäre. Amina fing an zu träumen. Jetzt einen schönen Winterspaziergang mit Liv.
Die Fußabdrücke drohten in dem Neuschnee unterzugehen, also legte die kurzzeitig Abgelenkte einen Schritt zu.
Das Ende der Spur wurde erreicht. Zugeschneit. Auf einen Meter waren die Abdrücke noch klar sichtbar, auf den nächsten nicht mehr auszumachen. Suchend irrte Amina in der kleine Nebenstraße herum. Sogleich kam sie auf die Idee nach oben zu schauen. Die verzierten Häuserwände dieser Altbauhäuserreihen boten das perfektes Ambiente für eine ausgedehnte Klettertour.


Mehr als eine dreiviertel Stunde war vergangen, seit die Unhaltbare von dannen gezogen war. Amina wusste, dass sie ihre Schicht zu spät antreten würde. Sie meldete dem Krankenhaus die Verspätung per Handy. »Es kann auch sein, dass ich es heute nicht schaffen werde. Ich erkläre es dir später Melanie, okay?!«
In ihrer Suche kam Amina an einer Häuserfassade vorbei, welche viele kleine Läden aufwies – die meisten, um diese abendliche Zeit geschlossen. Es war bereits nach 20 Uhr.
Zahlreiche Autos parkten am Straßenrand. An einem der Wagen konnte Amina ein Objekt am Boden auszumachen: ein Fremdkörper auf dem Fußgängerweg. In der Dunkelheit war dieses Bild schwerlich zusammenzusetzen, auch nicht mit dem UV-Strahler. Jedenfalls nicht aus der Entfernung. Amina musste näher herantreten, um einen klaren Blick darauf zu werfen. Mit Abscheu betrachtete sie eine Leiche, aufgerissen und voll von getrocknetem Blut. Alle vier Glieder steif in ihrer verkrampften, wie verdrehten Form.
Die rote Fährte im Schnee leitete sie zum Ursprung des Massakers. Es handelte sich um das Büro im Erdgeschoss eines klassischen Altbaugebäudes, wie in diesem Viertel üblich. Die Frontscheibe war zersplittert. Blutige Scherben lagen neben dem frischen Kadaver der Leiche.
Im Inneren des Ladens flackerten die Lichter in kaum rhythmischen Abständen. Ein deutliches Zeichen in diesem öffentlichen Raum. Aminas Hirn rief die erste Begegnung mit der damals Unbekannten in Erinnerung. Ganz zaghaft setzte sie, mit der Lampe in ihren Händen, einen Schritt vor den anderen. Unterschwellig überlegte die Wagemutige, ob das Flackern der Lichter von Livanas Anwesenheit ausgelöst wurde. Doch mussten die Gedanken bei jedem Geräusch, das sie zusammenzucken ließ, neu geordnet werden. Die Lampe nach unten gerichtet, folgte sie einem kleinem Rinnsal aus Blut, bis sie zum Kernpunkt der Angelegenheit kam. Den bekannten Schemen in der Ferne vor Augen, erkannte Amina die vom schwachen Lichtschein umrandete Kontur, welche sich ganz anders bewegte als sie es gewohnt war: langsamer, behutsamer. Wie schon im Krankenhaus nahm die Kreatur ihre Hände zu Hilfe und ließ die letzten Tropfen Blut in den Rachen gleiten. Zu ihren Füßen lag ein weiterer, lebloser Körper. Daraufhin realisierte das, nun wieder unbekannte, Wesen die Anwesenheit der Beobachterin. Sie war nicht mehr Livana, nicht mehr die Frau, die sie kannte. So flüchtig konnte die Angegriffene ihren Blick nicht wenden, da sprang die Kreatur, schnell wie ein Blitz, auf sie zu. Amina schloss reflexiv die Augen, ging in die Abwehrhaltung und hielt den UV-Strahler auf Rumpfhöhe, der Gefahr entgegen. Dann geschah …
… nichts. Verkrampft dastehend, öffnete Amina, am Boden festgefroren, eines ihrer Augen. Keine lebendige Seele anwesend. Die Sicht präsentierte ihr ein freies Feld. Dem Anschein hatte sie den Angriff abgewehrt. Doch vernahmen ihre Ohren ein Geräusch. Das schwere Atmen breitete sich im ganzen Bürozimmer aus und machte den Eindruck, aus allen vier Ecken zu kommen. Ein unnatürlich gehetztes Atmen. Das erschöpft klingende Hauchen ließ Amina mit schwerem Herzen zurück. Sie konnte den Stress ihrer Freundin förmlich fühlen. »Bitte! Liv! Komm wieder zu dir und wir können nach Hause. Ich werde immer für dich Dasein, das verspreche ich dir. Ich schwöre!«
In einer der dunklen Ecken, vermochte Amina einen Schemen zu sehen. Mit viel Gefühl redete sie auf diesen ein. »Bitte!« Sie sonderte ein Schluchzen ab. Gleich darauf war da ein Geräusch hinter ihrem Rücken. Der Schatten vor ihren Augen hatte sie in die Irre geleitet. Amina rührte keinen Muskel. Ein Gefühl der Endgültigkeit überkam ihr Herz, als sie sich langsam umdrehte und Tränen liefen die Wangen herab. In der nächsten Sekunde schlug eine Pranke ihr mit brutaler Kraft den Strahler aus der Hand. Ein Griff zur kleinen Lampe und die Verteidigerin blieb im Spiel. Sie wollte ihre vorteilhafte Situation nicht aus der Hand geben. Tatsächlich schlug ihre Ersatzwaffe Livana in die Flucht. Ein Strahl ins Gesicht und die Angreiferin ließ von ihrer Beute ab. Die Kreatur verschwand zwischen den Büroschränken weiter hinten in der dunkelsten Ecke.
Diesmal wusste sie, wo ihre Freundin aufzufinden war. Amina fasste all ihren Mut zusammen und trat in die Finsternis, beruhigende Worte aussprechend. »Liv? Ich bin dir nicht böse, hörst du?! Wie könnte ich …«, warf sie der düsteren Ecke entgegen. Die Verhandlungs(un)sichere streckte ihre linke Hand aus, zitternd wie Espenlaub. »Ich glaube dir. Du kannst nichts dafür. Nimm einfach meine Hand und wir gehen zusammen nach Hause, ja? Niemand wird hiervon erfahren, das verspreche ich.« Amina stand direkt vor der keuchenden Dunkelheit, unwillig noch einen Schritt weiter zu gehen. »Bitte! Bevor jemand die Polizei holt.« Sie ließ die bewaffnete Hand sinken. Ein Zeichen der vertraulichen Übereinkunft.
Eine Klauen-bewährte Pranke schlug der Diplomatin erneut die händische Waffe weg. Aus dem Schwarz sprang die Angreiferin hervor und warf ihren ganzen Leib gegen die Brust ihres neuen Opfers, riss es damit zu Boden. Ein Bündel enormer Sicheln reckte sich empor, bereit zuzuschlagen.
Amina schloss die Augen, hielt die Luft an. Und dann: … Sie wartete einmal mehr auf einen Schlag, der nie ausgeführt wurde. Dann schlug sie die Augen wieder auf und erblickte immer noch das gleiche Bild: Ein monströses Wesen, das gewillt war seinen Streich auszuführen … doch es nicht tat.
In einem seltenen Moment der Klarheit hielt Livana kurz inne, bevor sie bereit war, die abartig langen Krallen in ihre Freundin zu schlagen.
Diese Sekunden des Zögerns verschafften Amina die Zeit ihre handliche Sekundärwaffe aufzunehmen. Sie richtete das helle Ende auf und vertrieb die zögernde Livana damit von ihrer Brust. Mit einem kraftvollen Aufatmen, schaffte es Amina auf die Beine zu kommen. Sie taumelte das finstere Schlachtfeld entlang, strahlte hier hin und da hin, versuchte auf jedes Geräusch zu achten. Überall raschelte es: links, wie rechts von ihr. Die Einsicht wuchs in ihrem Verstand, dass diese kleine Lampe gegen die Opposition nicht viel auszurichten vermochte. Also sank ihr Blick gen Boden, suchte ihn ab, suchte den Strahler. Als Amina weiter vorne auf die Fensterfassade zuging, fand sie das Verteidigungsobjekt und riss es gleich an sich.
Schon sprang die Gegnerin erneut aus dem schützenden Schatten hervor. Amina erstarrte. Doch mit dem erbeuteten Strahler hatte sie den Vorteil in den eigenen Händen. Da erfasste Livana der Lichtschein des Items. Das Monster konnte dieser schweren Breitseite nichts entgegensetzen und schwankte.
Ihre Chance nutzend, verpasste die Verteidigerin der Taumelnden ein Dauerfeuer an UV-Strahlen. Es war mehr eine Reflexhandlung, als eine gezielte Racheaktion. Tatsächlich übernahm in dieser Situation Aminas Instinkt die Kontrolle über ihre Aktionen. Der Verstand glich in diesem Moment nur einem verschwommenen Weiß im abnehmenden Nebel. Der Schrecken, der ihre Glieder durchfuhr, klang nach und nach ab.
Livana krümmte sich am Boden. Rauch stieg von ihrem Körper empor.
Das Schreien ihrer Partnerin verursachte bei Amina ein nicht weniger zerrendes Leiden. Sie konnte es nicht aushalten und schaltete die Lampe ab, wollte ihre Freundin tröstend in die Arme nehmen, erntete hingegen nur ein aggressives Fauchen.
Livana fuhr ihre Krallen abermals aus und schlug nach der einstigen Freundin. Die Klauen hinterließen Tiefe spuren im Fleisch des Opfer.
Blutend sah Amina keine andere Option, schaltete den Strahler ein letztes Mal an und zielte direkt auf die Bestie. »Gib mir gefälligst meine Liv zurück!« Diesmal hielt sie solange drauf bis sich nichts mehr vor ihren Augen rührte.
Es herrschte Totenstille, als der Lichtwerfer endlich erlosch. Es war getan. Trauer umschloss das Herz der Überlebenden, als sie das Werk vor ihr erblickte. Amina kniete sich hin und stieß den verbrannten Körper ihrer Freundin vorsichtig an. Dampfschwaden, losgelöst von der Leblosigkeit, zogen der Decke entgegen. »Liv?« Sie schüttelte etwas kräftiger. »Liv?!« Ihre Augen wollten nicht aufhören zu tränen. »Bitte!« Einem Hund gleich stupste Amina die gefallene Seele mit der Nase an ihre Lippe, fuhr dann die Wangen hinauf, und daraufhin zur Seite, bis sich beider Nasen berührten.

Ein kleines Lebenszeichen – ein Beben im Herzen. Die monströsen Auswüchse verschwanden langsam. Livana Leib transformierte zurück zum vollwertigen Menschen.
Der Puls schlug ihr bis zum Äußersten. Amina warf sich auf die wiederauferstandene Partnerin und umarmte sie fest.
Ein schwaches Flüstern erfüllte die Szenerie: »Hey, hey! Lass mich noch ein wenig leben.«
Geschwächte von den UV-Lampen konnte Livana gerade noch laufen. Die Verbrennung machten ihr zu schaffen. Einmal mehr half der Schnee das getrocknete Blut zu entfernen, auch kühlte er die Verletzungen. Sie schrie auf.
Die Krankenschwester war etwas besorgt, da sie leider nicht genügend von dem sauberen Weiß auftreiben konnte. Die Wunden wurden mit einer Menge braunem Matsch konfrontiert. Noch ein Grund schnell von hier zu verschwinden.
Amina schleppte ihre Liebe schwer prustend in Richtung Heimat. Auf den Schultern gestützt, nahm sie all die Kraft zusammen – Livana war keinesfalls so leicht, wie sie aussah. Zum Glück hatte Amina in diesem Punkt schon Erfahrung. Nur war der Weg diesmal ein Größerer. Nervös blickte sie stets von einer Seite auf die andere, in der Hoffnung, keine ungebetenen Zeugen zu erblicken.
Die Distanz zum Tatort vergrößerte sich die nächsten Minuten nur geringfügig. Sie fühlte die Ewigkeit. Zwischendurch sammelte Amina etwas frischen, liegengebliebenen Schnee auf und strich jenen über den Rest der blutverschmierten Stellen. Natürlich mied Amina auf dem Rückweg sämtliche Lichtkegel der Straßenlaternen. Sie steuerte das errettende Domizil nicht direkt an, sondern strebte das Ziel durch einen umständlichen, bei weitem längeren Weg an. Einen Weg der mehr Fußabdrücke aufwies und die eigenen Spuren in der Menge verschwinden ließ.

Weit nach 21 Uhr – endlich am Wohnhaus angekommen. Niemand ging mehr in aller Regelmäßigkeit zu dieser Uhrzeit ein und aus. Tja, ruhige Gegend. Ein Umstand den Amina in dieser Situation feiern sollte. Doch war ihr nicht wirklich danach. So oder so, musste sie für ihre Partnerin einstehen. Zeugen konnte es schließlich bereits zahlreiche geben, ungeachtet der Vorsicht, die Amina an diesem Abend als höchstes Gut betrachtete.
Amina verfluchte die Tatsache, dass dieses alte Gemäuer keinen Fahrstuhl aufwies. Stufe um Stufe, Treppe um Treppe, wurde die Verwundete hinauf getragen.
Die Wohnung letztendlich erreicht, fand sich der geschundene Körper Livanas im gemeinsamen Bett wieder. »Es tut mir leid, es tut mir so leid, Mina.« Sie sprach wie von Sinnen.
Ob sie es überhaupt ernst meint? »Schon gut. Ruh dich – Ruhe dich einfach aus, ja?«
»Ich bin immer eine Last für alle …«
Amina verzieh ihr, brachte aber kein weiteres Wort hervor. Sie war weit weg von jedem klaren Gedanken. Neben der Erleichterung gärte auch die Wut in ihr: Wut auf ihre Freundin, Wut auf sich selbst und ihre Gefühle, Wut auf das ganze beschissene Dasein. Dazu gesellte sich die Angst, die Polizei bald am Hals zu haben.
Vorsichtig versorgte Amina ihre Wunde. Nadel und Faden waren in der Wohnung noch reichlich vorhanden. Eine routinierte Operation. Dann rief sie noch einem bei der Arbeit an. Sie teilte ihnen mit, dass sie es für diese Schicht nicht schaffen würde: es gäbe eine Familiensituation. Nach dem Gespräch vergrub die Schadensbegrenzerin ihren Kopf in die Hände. Zu allen Übel musste sie jetzt auch noch eine Geschichte für ihren Arbeitgeber ausbaldowern, um das Fernbleiben in der heutigen Nacht zu rechtfertigen. Großartig! Ein Blick in das Schlafzimmer verriet, dass Livana schon am Schlummern war. Ein Gemisch unterschiedlichster Gefühle floss bei diesem Anblick durch Aminas Brust.


Crimson and Clover / Over and over

Um die Nacht grauenhafter Erfahrungen legte sich der Schleier der Vergangenheit. Von Bettlägerigkeit geschlagen, kämpfte Livana mit der eigenen Hitze. Starkes Fieber bildete das erste Stadium eines intensiven Krankheitsverlaufes. Amina war der Meinung, Livana unterlege allgemein einer Art der Leukämie. Näheres konnte sie bei der besonderen Anatomie kaum erkenne, denn die Blutarmut beherrschte Livanas Körper von Beginn an. Ausgezehrt lag sie da, unfähig ihre Glieder zu rühren. Ein Heilungsprozess war nur im geringen Maße zu verzeichnen. Langsam löste die trockene Haut ihre Schale von der wunden Oberfläche.
Amina beschaffte eine medizinische Salbe für verbrannte Haut und rieb den halben Leib der Verwundeten damit ein, denn Livana plagte eine permanente Trockenheit, zusätzlich zu den schweren Verbrennungen. Ausgehöhlte Wangenknochen zierten das magere Antlitz, das nun der Welt mit leblosen Augen entgegenblickte. Sie war in einem leidvollen Zustand dauerhafter Übelkeit. Mehr als einmal versuchte Amina die wankende Frau in ihrem geschwächten Zustand quer durch die Wohnung zur Toilette zu tragen, da der Kreislauf Livana nicht auf den eigenen Beinen stehen ließen. Auf dem Klo erbrach sie einen Schwall aus Blut: ein unappetitlicher Vorgang, der tagtäglichen Wiederholung unterworfen. Dies beachtend stellte die persönliche Pflegerin ihr am Abend stets einen kleinen Eimer an die Seite des Bettes.
Des Öfteren wachte Amina nachts von der Geräuschkulisse eines kräftigen Würgen auf. Dann legte sie ihre tröstende Hand auf die Schulter der übergebenden Livana und strich mit zarter Hand über ihren Nacken. »Geht es?«
Livana jedoch bliebt dabei stumm und nickte nur schwach mit dem Kopf. Sie drehte sich weg, sah Amina nicht an. Eine regelrechte Aura unangenehmer Gefühle strahlten von der Umsorgten ab.
Später beim Aufstehen am Nachmittag musste die Pflegerin den Eimer dringend ausleeren.
So schlecht ihr es auch ging; Livana schien es völlig zuwider, fremde Hilfe anzunehmen. Ihr ganzes Leben war sie auf sich allein gestellt, in jenem Stolz vergraben, errichtet auf ihrer Seele. Andere ihrer Art kannte sie nicht; konnte sich ihnen somit nicht anvertrauen. Und Menschen … die sah sie stets als natürlichen Feinde an. Unvermindert legte sie eine Haltung an den Tag, welche die vermeintlich Souveräne immer weiter von ihrer besorgten Partnerin wegtrieb.
Amina ertrug diese Sturheit; brachte der Pflegebedürftigen das ‚Essen‘ ans Bett, auch wenn sie für ihre Tat nur abweisende Blicke erntete. Es war ein präparierter Transfusionsbeutel mit Gummischlauch als Strohhalm-artiges Gebilde. »Hier, das müsste gehen.«
In ihrem angeschlagenen Zustand versuchte Livana gerade zu sitzen. Unter Schmerzen gelang es ihr das auch – nach einer Weile.
»Ist das für dich angenehm? Soll ich dein Kissen aufschütteln?«
Sofort spuckte jene – von einer affektierten Psyche getrieben – den Schlauch aus und wandte den Blick kopfschüttelnd von Amina ab. »Ist nicht dein Ernst, oder?!«
In reichlich unbequemer Sitzstellung saß die besorgte Helferin am Bettrand und rieb nervös ihre Hände. Leise brachte sie eine Kritik an die Frau. »Weißt du, … Es ist echt nicht leicht mit dir zur Zeit.« Stille war das Einzige was die Anklagende erntete.
Livanas Augen stierten tief in die Leere des Raums hinein, als ob sie an der Zimmerdecke etwas suchen würden.
»Wenn du mir nur sagen könntest, wie ich dir am Besten helfen könnte?!«
»Du könntest mich in Ruhe lassen«, säuselte es giftig hervor. »Wie wäre es damit für den Anfang?«
»Liv. Hör zu …« Ein sachlicher Anfang. »Mir ist bewusst –«
»Ach, dir ist was bewusst!! Das ist ja ganz was Neues!« Der Schrei klang so heiß. Ihre ganze Kraft, den ganzen Zorn projizierte sie auf die nächste, nahestehende Person. »Seit dem ich dich kenne, bin ich hier drinnen eingeschlossen! Alles ist ein Käfig, sogar das Bett!« Die Stimme wieder senkend, gab Resignation den Ton an. »Lass mich einfach!«
Darauf konnte Amina nichts antworten. Sie versuchte es trotzdem – und scheiterte schon am Ansatz. Die Enttäuschung über jene Worte hatte in ihrer Brust Haken in allerlei Richtungen geschlagen. So stumm, wie innerlich leer, verließ sie unverzüglich das Zimmer. In ihrer Seele breitete sich ein Vakuum aus. Ein schützendes, wohlig betäubendes Schild, das schon sehr bald der Abnutzung zum Opfer fallen würde. Sollte die Trägerin es verlieren, könnte sie dem Terror, der darauf folgte, nicht mehr die Stirn bieten. Dann würde nur noch der Hass helfen, als Antrieb für das Herz zu dienen.
Amina sah sich einer Realität gegenüber, in dem ihr bloßes Dasein jemand anderem diente. Eine Wirklichkeit in der sie womöglich nie eigenes Glück erfahren konnte. Konfrontiert mit eine Unmenge an Verantwortung auf beiden Seiten, konnte sie nur noch vom Privatem zerren. Doch die heimische Treue versagte ihr mit jedem neuen Tag. Der Rückhalt durch die häusliche Freude schien sich weiter und weiter zu entfernen.

Die Zeit schaffte Abhilfe. Sie brachte ein Erstarken von Livanas Muskulatur und damit die Hoffnung auf ein normales Leben zurück. Ein Lächeln breitete sich über ihre erschlafften Züge hinweg aus, als sie das erste Mal seit langem alleine das Bett verlassen konnte.
Emotional zersetzt vom Stress der letzten Tage und Wochen durchfuhr Amina eine große Welle der Erleichterung. Noch viel länger hätte sie es nicht ausgehalten. In gemeinsamer Zusammenarbeit nahmen die beiden Livanas Toilettengang wieder regelmäßig auf. Dies ging jedoch nicht ohne Hilfestellung von statten. Auch konnten beide jetzt wieder in der Küche Mahlzeiten zu sich nehmen.
Im eigentliche Sinne erleichtert, stellte das alltägliche Tragen der Geschwächten für Amina erneut einen anstrengenden Prozess dar. Sie konnte nun mal niemanden um Hilfe fragen, aus der Angst heraus, jemand könnte hinter das Geheimnis kommen. Vielleicht kann ich ihren Zustand mit Porphyrie erklären?
Der Alltag wurde zum Zahltag und hatte wenig mit Freizeit zu tun. Amina sah sich mit der Realität konfrontiert, früher aufstehen zu müssen, um den Aufwand an Arbeit, der vor ihr lag, bewältigen zu können. Zum Glück hatte sie in ihrem Beruf keine Privatbesuche bei Patienten zu tätigen. Dafür wäre jetzt, bei aller Liebe, wirklich keine Zeit.
Am Küchentisch fassten beide Frauen die unbequeme Wahrheit ins Auge. Auch wenn Livanas Motorik eine rasante Erholung erfuhr; das Aufreißen einer Blutpackung fiel ihr in diesem halbgaren Zustand noch reichlich schwer. Mit den schwachen, gekrümmten Fingern versuchte sie ihr Glück, doch wollte es nicht gelingen. Es sah ganz danach aus, als würde ihre Physis noch Monate brauchen, um in Gänze zu genesen.
Sie traurig von der Seite betrachtend, hörte Amina auf ihre Suppe zu löffeln. Der Anblick des noch immer massiv kränkelnden Wesens, das einst so voller Leben war, vermochte ihr jegliches Hungergefühl auszutreiben. Ob sie jemals wieder die Alte sein wird? Sie stand auf und half ihr beim geplanten Verzehr.
»Lass das!«, fauchte es in aller hilfsbedürftigen Ablehnung entgegen. »Ich kann das allein!« Was bei weitem nicht der Fall war. In Wirklichkeit benötigte Livana bei der Konsumtion alsbald wohl oder übel ein Lätzchen.
Amina sah sich mit einem Giganten konfrontiert, der sie zu erdrücken suchte. Der Leviathan stahl ihr das Leben und die Entscheidung zu wählen. Mit Bedacht musste nun das rare Gut der Zeit verteilt werden. Eine Liste sollte in dieser Situation Abhilfe schaffen. In vollkommener Überarbeitung getränkt, hoffte sie mit der Umsetzung dieser Idee, ihr Masse an Erledigungen in den Griff bringen zu können. Der Ablauf des Tages untergliederte sie in Abschnitten, die dem unnachgiebigen Tempo einer Stoppuhr unterlegen waren. Wenn nicht alle Aufgaben in einem gewissen Zeitrahmen erledigt wären, drohte den beiden der Verlust des gemeinsamen ‚Für-sich-seins‘.
Nicht lange dauerte es, bis Livana diese Abhandlung eines normierten Tagesablaufs vor Augen hatte. Kurze, skizzenhafte Notizen bekleideten die fein säuberliche Aufreihung protokollierter Daten.

15:45 aufstehen, zurechtmachen, alles vorbereiten
16:30 Liv wecken, eincremen, Toilettengang
16:45-17:15 Frühstück, Geschirr spülen,
17:15 zweiter Toilettengang, Liv zurück ins Bett bringen
17:30 Einkäufe erledigen Spaß haben? /Wenn Einkäufe, dann etwas früher losgehen, wegen Banktermin
19:30 fertigmachen für die Arbeit, Liv fragen, ob sie alles hat/ Müll wegbringen nicht vergessen!
20:00-06:00 Arbeit macht das Leben froh
06:30 Duschen
06:45 Liv aus dem Bett holen
07:00-07:30 Abendessen, Geschirr spülen
07:30 Spaß haben Einkäufe erledigen?/ Ich müsste noch in die Apotheke gehen
Irgendwann zwischen 9:00-11:00 Schlafen gehen

Uns es war das ungewollte Auffinden jener Liste, das Livana wohl dazu brachte, dieses Opfer, welches ihr geschenkt wurde, als Geschenk zu betrachten. »Es tut mir leid, dass ich dir soviel Arbeit mache.«
Amina wusste, dass sie so etwas sagen sollte wie: Ich werde trotzdem immer an deiner Seite sein. Doch musste sie ihren Verstand dafür selber erst davon überzeugen.
Das verführerische Egos war stark. Jene Eigensinnigkeit wandelte sich in ihrem Geist weg von einem Schimpfwort, hin zu etwas Willkommenen. Sie nickte Livana nur entgegen und lächelte verkrampft.
»Ich weiß, was du denkst. Eigentlich willst du das gar nicht alles. Du wünschtest, du hättest mich nie kennen gelernt – und ich kann das verstehen. Liebe ist erst dann anstrengend, wenn sie zur Routine wird; wenn sie nicht mehr vom Alltag zu unterscheiden ist und der Arbeit gleicht.«
In Amina schlugen sogleich unbändige Gefühle aus. »Nein, so ist das nicht«, dementierte sie schluchzend. Der Geist der zukünftigen Weihnachten blickte ihr in die Augen. Ohne Livana könnte ihre eigene Mentalität erst recht nicht mehr diese Motivation aufbringen, solch eine Arbeit bewältigen zu können. Von diesem Nektar gekostet, reifte die Aussicht auf mehr. Ohne die Kraft, welche die Partnerin ihr zusprach, konnte sie dem Stress keinen Einhalt bieten. Es war die positive Entartung einer zerstörerischen Kraft, die zum Antrieb verhalf.
Livana, die den Schmerz, den ihre Freundin verspürte, verstanden hatte, entschied sich, zum Wohle Aminas, für die Genesung. Wie so oft, siegte der starke Geist über die bloße Materie. Das Tätigen kürzerer Abendspaziergänge war mit der Zeit kein unüberwindbares Hindernis mehr, wenn Livana auch im Anschluss daran dringend den Aufenthalt des Bettes benötigte.
Für eine umfangreiche Heilung benötigte es grundsätzlich mehr Blut. Eine Unmöglichkeit für Amina, die sich damit in einer moralischen Bredouille befand. Sollte sie, nur für wenige Tage, wieder Konserven aus dem Krankenhaus stehlen? Die Gefahr dabei erwischt zu werden war hoch. »Ich werde sehen, wo ich mehr Blut auftreiben kann«, flüsterte Amina Livana im gemeinsamen Bett zu.
Diese schüttelte leicht mit dem Kopf. Zu mehr war sie im Moment nicht fähig. »Nein, wirst du nicht. Das wäre sehr dumm von dir. Und ich möchte keine dumme Frau lieben.«
»Dann wird das mit deiner Heilung sehr lange dauern.« Sie berührte Livanas Hand. Die trockene Haut fühlte sich kalt an. Es war so als wäre die Kränkliche permanent am Zittern. »Liv? Sag mal, ist dir eigentlich sehr kalt?«
»Mir machen die Schmerzen im Augenblick mehr zu schaffen – aber ja.«
Amina kuschelte sich fest an ihre Partnerin heran. Der warme Lebenssaft sollte der Erkalteten wenigstens in dieser Form helfen.

Die Konsequenzen von Livanas blanker Existenz lösten sich nicht in Wohlgefallen auf. An jenem Abend hatten beide am Tatort einige Spuren hinterlassen, auch wenn der starke Schneefall sie größtenteils verwischte.
Es klingelte an der Tür. Nicht zum ersten Mal an diesem Tag. Der Griff zur Türklingel wurde schon einmal getätigt, während der Schlaf im Wohnungsinneren noch weilte.
Amina spähte durch den Spion – und sah sich mit einem halben Herzinfarkt konfrontiert. Draußen standen zwei Polizisten. Sie versuchte zu überlegen, abzuwägen, überschlagen, vorausschauend zu handeln, kam aber zu keinem Ergebnis.
Ein erneutes Klingeln. Es half nichts; Amina musste ihre Pforten öffnen. Doch vorher schloss sie noch die Schlafzimmertür. Die Person, die nicht für diese Wohnung gemeldet war, sollte unentdeckt bleiben. Sie erlaubte den Einlass.
»Guten Abend, Frau Najaf. Wir müssen Sie kurz stören.«
Ungünstig! Sie spielte die Müde, ließ die Augenlider entspannt herunterhängen. Einfach nur ungünstig!! »Muss das sein. Sie müssen wissen, ich habe im Moment viel um die Ohren.«
»Ich fürchte, es kann nicht warten«, sprach A, der Vordermann.
Amina gewährte den Staatsbeamten A und B Einlass. »Ich habe aber wirklich nicht viel Zeit. Ich bin Krankenpflegerin, müssen Sie wissen.«
»Können wir verstehen, junge Frau, wir sind ja Polizisten«, brachte der andere – B – zum Besten.
Beide erkundeten die offenen Räume, observierten kurz die Küche und das Bad und den Wohnbereich.
»Hübsch hier«, bemerkte B.
Der Bestätigung wegen, lächelte Amina ihm nervös entgegen.
»Nur der Formalität halber«, ergänzte A. »Sie sind Amina Najaf?«
Einmal kurz genickt. »Ja.«
»Wohnt hier noch jemand?«
Einen Staatsbeamten zu belügen, so wusste die gestressten Bürgerin, glich einer Straftat. »Ich bin die einzig eingetragene Person für diese Wohnung, wenn sie das meinen. Es gehen auch andere hier ein und aus – enge Bekannte.«
»Und wer ist die junge Frau, mit der sie öfters im Haus und der Umgebung gesehen wurden? Groß, schlank … dunkelhäutig.«
»Eine der engeren Bekannten.«
»In welcher Beziehung stehen sie beide?«
»Wie ich bereits sagte …«
»Sie sollen ja permanent mit ihr zusammen sein, haben wir gehört.«
Ein verlogenes Grinsen – »Ist nicht illegal.« – und ein verlegenes Auflachen.
Der eine, A, zog verlegen die Mundwinkel hoch. »Das meine ich gar nicht.« Ein Blick nach unten, wo seine Hände mit dem Funkgerät herumspielten. »Es ist nur … Da unten befindet sich nur ihr Namensschild an der Klingel und den Briefkasten.«
B stand eine Weile schon vor der verschlossenen Schlafzimmertür. »Könnten wir da ein Blick hineinwerfen?«
»Wenn wir diese Tür öffnen –«, ergänzte A. » – werden wir da jemanden finden? Noch haben sie die Gelegenheit mit uns zusammen zu arbeiten und die Wahrheit zu sagen.«
Die Chancen wurden kurz abgewägt. Letztendlich resignierend nickte Amina mit dem Kopf und öffnete ihnen die Tür. Mit hängendem Kopf gab sie niedergeschlagen die letzte Information weiter. »Bitte stören sie sich nicht zu lange. Ihr geht es nicht gut.«

A betrat das Schlafgemach. Sogleich wanderte der Blick in Richtung der gewölbten Bettdecke. Sein Kollege gebar sich anständig und wartete an der Tür.
Livana witterte die fremde neue Präsenz in ihrer Gegenwart und schlug die Augen auf.
Der Mann trat an das Bett. »Wie heißen Sie?«
»Liv«, antwortete sie verlegen und richtete ihren Oberkörper – unter sichtlichen Schmerzen – halb auf.
»Und ihr Nachname?«
»Ich habe keinen … und auch keine Sozialversicherungsnummer, wenn sie das wissen wollen. Im Grunde können Sie mich auch Najaf nennen, auch wenn wir nicht verheiratet sind.« Die Worte – langsam gesprochen – waren Zeichen ihres desaströsen Stadiums.
»Und wer sind sie, wenn ich fragen darf?« Diese Frage klang sachlicher als vermutet.
»Was die Ordnung angeht, so kann der Staat sie nur verteufeln.« Livana kämpfte, seine Frage ignorierend, ihren Körper aus dem Bett – zuerst mit geringfügigem Erfolg.
»Sie können gerne liegen bleiben.«
Auch diese Worte ausblendend, versucht die Gestalt – die nun mehr einem Skelett glich – es weiter.
»Sie müssen das nicht tun.«
Letztendlich schaffte es Livana alleine die aufrechte Haltung zu bewahren.
»Brauchen Sie Hilfe?«
Langsam hob Livana eine Hand und winkte diese Anfrage ab. Vorsichtig einen Fuß nach dem anderen setzend, schritt sie auf den Polizisten zu, der nun vor ihr stand. »Ich bin der Teufel.«
Er ignoriere ihre emotional motivierten, vom Zorn getriebenen, Worte. »Wir haben berechtigten Verdacht sie zu verhaften. Einige Zeugenaussagen passen zu den Spuren im Schnee.«
»Nur zu. Verhaften Sie mich. Falls ich den Weg zum Revier überlebe.«
Der eine sah zu dem anderen bei der Tür. Beide tauschten fragende Blicke aus, steckten die Köpfe nah zusammen und diskutierten flüsternd. Nach der absolvierten Kommunikation trat A wieder der Verdächtigten entgegen. »Wir glauben, Sie schaffen das schon.«
»Was wird mir eigentlich vorgeworfen? Mord? Totschlag? Sehen Sie mich an! Mein Zustand spricht, glaube ich, Bände.« Livanas Augen wurden feucht. Sie schnaufte, wollte hier nicht weg. »Weder Sie, noch die, für die sie arbeiten, haben ein Recht, das zu tun. Sie geben uns nämlich nicht die Möglichkeit, die zu sein, die wir sind.«
A blieb stumm. Er wollte seinen stoischen Ausdruck anscheinend nicht opfern: Gefühle sollten das Urteil nicht trüben. »Sie werden beschuldigt gegen das Gesetz verstoßen zu haben. Wenn dem so ist, sollten sie bestraft werden. So steht es geschrieben.«
»Diese Bestrafung ist doch recht Einseitig, finden Sie nicht? Wer bestraft die, die dieses Gesetz erlassen haben?«
»Wer sollte für was bestraft werden?«
»Regeln sind nur für die nützlich, die sie geschrieben haben. Andere müssen sich ihnen anpassen und sehen, wo sie bleiben.«
»Regeln sind dazu da, um die Ordnung aufrecht zu erhalten.«
»Ihre Ordnung.«
Resignation breitete ihre Schwingen aus. »Okay, ich denke, wir kommen hier nicht weiter.« Und A trat wieder seinem wortkargen Kollegen entgegen und aus dem Schlafzimmer heraus.
Leicht erschöpft fiel Livana zurück ins Bett.
»Wir melden uns.«
Die beiden Polizeibeamten zogen ab.
A drehte noch einmal seinen Kopf. »Das mit dem Namensschild da unten … Darum sollten sie sich wirklich kümmern. So etwas sieht die Hausverwaltung nicht gerne. Ich kenne das. Einen schönen Abend noch, die werten Damen.« Der Mann lächelte, bevor er sich mit seinem Partner davon machte. Ein ehrliches Lächeln.
Amina schloss die Eingangstür, ging langsam zu Livana ins Schlafzimmer und kroch zu ihr unter die Decke. »Und nun?«
»Wenn ich wieder aufstehen kann, werde ich mich freiwillig anzeigen. Ich kann dir keine weiteren Schwierigkeiten machen. Ich habe deinem Vater doch versprochen, auf dich aufzupassen.«
»Du wirst nichts dergleichen tun. Die können dir nichts nachweisen. Würden dich sowieso nur bei lebendigen Leib aufschneiden.«
Livana drückte ihre Liebe fest.
»Wie lange, denkst du, hältst du noch durch?«
Es folgte keine Antwort, nur ein Zucken mit den Schultern.
Fest hielt auch Amina ihr geliebtes Wesen in den Armen, wohl wissend, dass die gemeinsame Zeit viel zu schnell bald ihr unvermeidliches ENDE finden würde …
… doch war es noch nicht soweit. Wichtig ist das da jemanden ist, um sich in den dunklen Stunden anzulehnen, der in der Nacht bei einem wohnt. Alle Ängste der Vergangenheit und der Gegenwart, wie auch um die Zukunft treten mit einem Mal in den Hintergrund, sind vergessen. Und selbst die finstersten Gedanken weichen, denn einem tritt ins Bewusstsein, dass dieser Schild auch morgen da sein wird, selbst wenn sein Träger längst nicht mehr zugegen ist. Nimm die fremde Motivation auf, lass sie zum eigenen Antrieb werden und halte stets die Erinnerung daran hoch.

‚Crimson & Clover‘-Songtext: Tommy James, Peter Lucia (1968)/ Joan Jett (1983)
 

ahorn

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo LarsZschoke,

ich bin ein Mensch, der direkt ausspricht, was er denkt.
Es gibt Texte in der Leselupe, die liest man ein erstes Mal und sagt sich echt geil, wenn man als Leser genauer liest, ins Detail geht kringeln einen die Fußnägel.
Bei deinem Text ist es genau andersherum. Versuch nicht Autoren, die du magst zu kopieren, es geht in die Hose. Wenn du mit klaren Sätzen schreiben würdest, was du aussagen willst, könnte der Leser es verstehen.
Was ist ein weiteres Element, das die Saiten der unheimlichen Atmosphäre zupft?
Welches Geräusch, kann eine junge Frau nicht ignorieren, welches auf einmal dem Flimmern entstieg, so sehr sie es doch versuchte?
Wie soll jemand dem Ursprung des Flackerns mit den Augen folgen?
Wie macht alles eine Talfahrt stromabwärts in schwindelerregende Gefilde in ihrem Inneren?
Worin liegt das Glück, dass im Augenblick keine Geräusche zu vernehmen waren, sonst würde sie den Feldzug gegen die Dunkelheit kurzfristig abblasen und ihren Hintern auf sofortige Weise zurück ins Büro schieben?

Die Sache mit den Blutkonserven gefällt mir, obwohl die Beschreibung übertrieben ist.

Gruß
Ahorn
 



 
Oben Unten