Da dazu oder die Mathematik des Flecks (leicht rotverfärbtes Sonett)

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Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Zwar: "Eins plus eins ist zwei", wie du behauptest,
und ja, es stimmt, solange du nur zählst,
jedoch, bereits wenn du Tomaten wählst,
dann stimmt's nicht mehr, wie sehr du es auch glaubtest.

Denn: wenn du gleich dir zwei Tomaten raubtest,
und dann die beiden Kirschtomaten schälst,
dich nicht mit dem Tomatenriesen quälst,
gleich noch den Herd auf volle Pulle schraubtest,

es reicht nicht für den Ketchup für die Kleinen.
Jedoch: Es reicht gewiss für einen Fleck.
Machst du noch einen Fleck, dann werden's zwei.

Doch glaube mir, noch mehr sind oft nicht drei,
streichst etwas Ketchup für den wahren Zweck
du da dazu, so hast du nur noch einen.
 
F

Fettauge

Gast
Da dazu oder ...

Hallo Bernd,

du jonglierst ja ordentlich mit deinem Tomatenketchup herum. Nur ein Hinweis: Ins Sonett gehört auf keinen Fall das Enjambement. Grund: Das Enjambement wurde erst im 20. Jahrhundert in die Lyrik eingeführt, während das Sonett mindestens seit Petrarcas Zeiten existiert, und der gute Mann konnte leider nicht bis ins 20. Jahrhundert hellsehen. Pech, leider.

Übrigens, dein Sonett rechne ich zu den schwerverständlichen mit einem Hang ins Mysteriöse,
sozusagen eine unendliche Geschichte.

Gruß, Fettauge
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Schon Gryphius verwendet Enjambement. http://odl.vwv.at/deutsch/odlres/res4/Literaturgeschichte/Abend.html
Was ist daran falsch?
Auch in Petrarca-Sonetten wird Enjambement verwendet. - Zumindest in der Übersetzung. http://www.sonett-central.de/george/petrarca.htm
Hier ein Beispiel einer Übersetzung

PETRARCA:

“Bei solcher liebreicher und keuscher Worte Fülle
War mir als ob ich in dem Himmel bliebe.“
zeit verthan!

GLYPIUS:

Der port naht mehr und mehr sich / zu der glieder Kahn.
Gleich wie diß licht verfiel / so wird in wenig Jahren
Ich / du / und was man hat / und was man siht / hinfahren.
Diß Leben kömmt mir vor alß eine renne bahn.
 
F

Fettauge

Gast
Da dazu ...

Berndchen, du machst mir ja Kummer, das sage ich dir. Das Gryphius-Beispiel sind Alexander, die durch die 6 Hebungen nicht auf eine Zeile passten, weshalb die nachfolgende Zeile genutzt werden musste. Ist so üblich, wenn die Zeile zu lang ist.

Genauso sind die anderen Beispiele keine Enjambements, sondern reiner Zeilenstil.

Du wirst mir schon was über das Enjambement sagen wollen.
Lass es lieber, könnte peinlich werden.

Ein Beispiel für das Enjambement aus einem meiner Gedichte in freien Rhythmen:

Abseits, im Platanenhain, (Zeilenstil
fällt ein Blatt - einsames, klagloses (Enjambement)
Sterben des Sommers.

Gruß, Fettauge
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Es gibt unterschiedliche Formen des Enjambements.
Wesentlich ist aber die Frage: warum soll es in dieser Absolutheit falsch sein?
Meine Beisiele mögen nicht die besten sein, weil es auch stärkere Enjambements gibt.
Zumindest bei Gryphius brauchst Du aber bereits Zusatzannahmen.

Neu sind sie aber nicht. Und im 20. Jahrhundert wurden sie auch angewendet.

Georg Heym Der Hunger
1887 – 1912
Er fuhr in einen Hund, dem groß er sperrt
Das rote Maul.
Die blaue Zunge wirft
Sich lang heraus.
Er wälzt im Staub. Er schlürft
Verwelktes Gras,
das er dem Sand entzerrt.

Sein leerer Schlund ist wie ein großes Tor,
Drin Feuer sickert, langsam, tropfenweise
Das ihm den Bauch verbrennt. Dann wäscht mit Eis
Ihm eine Hand das heiße Speiserohr.


Er wankt durch Dampf. Die Sonne ist ein Fleck,
Ein rotes Ofentor. Ein grüner Halbmond führt
Vor seinen Augen Tänze.
Er ist weg.

Ein schwarzes Loch gähnt, draus die Kälte stiert.
Er fällt hinab, und fühlt noch,
wie der Schreck
Mit Eisenfäusten seine Gurgel schnürt
.

Heym kann ich komplett zitieren, da das Urheberrecht abgelaufen ist.

---

Für die, die nicht wissen, über was wir uns streiten:

https://de.wikipedia.org/wiki/Enjambement
Wenn in einem lyrischen Text ein Satz auf die nächste Verszeile übergreift (Zeilenabbrechung beziehungsweise Versabbrechung), wird dies als Enjambement bezeichnet.

Ist diese Definition falsch?
 
F

Fettauge

Gast
Da dazu

Ja, der Heym, das sind echte Enjambements. Natürlich gibt es unterschiedliche Formen des Enjambements, zurechtgeschnitten immer auf den Einzelfall. Aber deine anderen Beispiele sind eben keine Enjambements. Ich weiß jetzt bloß nicht, was dir so am Enjambement gelegen ist, es ist lediglich eine Form von zweien des Verses, im Grunde nichts Besonderes. Als es neu war, schrieb alles Enjambements, inzwischen hat es sich glücklicherweise doch etwas gegeben. Ein Enjambement sollte im Idealfall zwei Aussagen möglich machen, so wie ich es in meinem Gedichtbeispiel zeige. Übrigens, ein hervorragendes Enjambement habe ich mal bei Günter Kunert gelesen. Die ganze literarische Innung war schockiert - weil sie selbst es so nicht machen würden. Da mussten alle diese Literturkoryphäen ihr Weltbild korrigieren. Aber so etwas ist eben ein Glücksfall, und hier wirst du ihn wohl kaum finden. Nun alles klar?

Gruß, Fettauge
 

HerbertH

Mitglied
Lieber Bernd,

wie (fast) alle wissen, gibt es nicht nur die klassischen Formen des Sonetts. Im Gegenteil hat sich diese Form sehr entwickelt.
Wer heute noch nur in diesen alten Formen wandelt, sollte sich schnell mal über neuere Entwicklungen aufschlauen :D.

Mir gefällt Dein Sonett, nimmt es doch einiges sehr schön auf Schippe, selbst die hehre Mathematik.

Spontan fällt mir dazu das alte Rätsel
"Was wird größer, wenn man etwas wegnimmt?"
ein, dass ähnlich mit der mathematischen Logik im Lichte alltäglicher Erkenntnis spielt.

Liebe Grüße

Herbert
 
F

Fettauge

Gast
Da dazu

Hallo Herbert H.

du hast ja recht, es gibt nicht nur das eine Sonett, das du als "klassisch" bezeichnest. Es gibt viele verunglückte Versuche, das Sonett modernistisch aufzupeppen, aber wer so etwas wie ein ästhetisches Händchen hat, grinst darüber nur, zumal das meistens drittklassige Leute sind, die es versuchen. Auch die Lichtgestalt Rilke mit seinen Versuchen blieb ein einsamer Experimentierer. Von den hiesigen Versuchen wollen wir mal gar nicht reden. Die waschechten Lyriker kommen eben immer wieder auf das Ursprüngliche zurück, wer aber glaubt, er müsse durch "Neuerungen" glänzen, verschwindet sehr schnell im Orkus. Und das ist gut so. Auf der anderen Seite wäre dagegen nichts einzuwenden. Aber erst einmal muss das Original sitzen, das Handwerk beherrscht werden, dann kann man auch mal Abweichungen probieren. Aber es ist immer ein Probieren. Die klassische Form ist eben nicht zu übertreffen.

Wobei kein Mensch daran denkt, dass das Sonett auch bestimmte inhaltliche Anforderungen stellt und nicht für jedes Thema geeignet ist, es muss immer eine "höhere Idee" beinhalten.
Von solch einem Sonett kenne ich seit Jahren im gesamten Internet bis nur zwei oder drei. Alle anderen sind eigentlich ganz profane Gedichte, die mehr Wirkung hätten, würden sie eben nicht als Sonett geschrieben. Im übrigen wird um das Sonett viel zu viel Gewese gemacht, und das ausgerechnet von Leuten, die damit ihre Schwierigkeiten haben.

Gruß, Fettauge
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Vielen Dank für die Antworten.


Enjambement ist ganz allgemein, wenn ein Satz in der nächsten Zeile fortgeführt wird.
Man unterscheidet starkes ("hartes") Enjambement und schwaches Enjambement.
In den meisten oder zumindest in sehr vielen Gedichten kommt das schwache Enjambement vor.
Ich denke aber anhand der Beispiele, dass ich über Enjambement und Fettauge über starkes Enjambement gesprochen haben.

Die Fragen zum Enjambement können wir vielleicht im Theoretischen weiterbesprechen, dort hatte ich vor langer Zeit einen Artikel angelegt, in dem ich eine sehr kurze Definition gegeben habe, es ist der meistgelesene Artikel geworden ...
Das kann für viele hilfreich sein, die Diskussion dort würde aber möglichst öffentlich zu führen sein. http://www.leselupe.de/lw/titel-Enjambement--Hakenstil--Zeilenstil-93571.htm

---

Die Mathe habe ich zwar etwas auf die Schippe genommen, aber nicht wirklich.

Die Addition ist sehr abstrakt definiert. In der Praxis gehört ein Vergleichsmaßstab dazu.

Ich habe Johannisbeertomaten, die wiegen ein paar Gramm, und dann große, die wiegen ca. 200 g. Die Arithmetik behandelt sie gleich, nicht aber die Maßtheorie.


Der zweite Teil bezog sich auf die Topologie.

Wenn du zwei Flecken hast, kannst du sie durch einen dritten Feck zu einem einzigen vereinigen. Ich denke, das ist sehr leicht zu sehen.
 

HerbertH

Mitglied
kann ich leider so nicht unterschreiben, Fettauge. Willst Du Dich mit Shakespeare vergleichen? Warum ein stures Festhalten an einer alten Form per se besser sein soll, geht mir nicht ein. Man kann in der alten Form gute und weniger gute Gedichte schreiben, in den neueren aber genauso.
 
F

Fettauge

Gast
Da dazu

Da hast du sicher recht, Herbert H., mir fallen da auf Anhieb Beispiele ein, da muss ich gar nicht so weit kucken.
Mit Sturheit hat das doch nichts zu tun, sondern, vielleicht wirst du das nicht verstehen, mit einer gehörigen Portion Ästhetik. Und dass viele der sich modern gerierenden Erzeugnisse mit Ästhetik nicht mehr das geringste zu tun haben, das wirst du doch sicher auch wissen.

Und wieso soll ich mich mit Shakespeare vergleichen? Entschuldige, diese etwas ungezogene Art von Diskussion interessiert mich nicht. Du verstehst das hoffentlich.

Gruß, Fettauge
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Interessant ist aber, dass offenbar der Konjunktiv gut zu erkennen war, sonst wäre mir der um die Ohren geflogen.

Immer in der Entwicklung wird das gerade vorhandene als "nichtklassisch" angesehen. Das trifft für Sprache zu, ebenso wie für Literaturformen.

Wenn wir aber wirklich bis zu Petrarca zurückgehen, stellen wir fest, dass es ihm ebenso ging.

Sonett scheint aber eine Glaubenssache zu sein. Das habe ich schon des Öfteren festgestellt.

Literatur ist kaum zur Ausgrenzung geeignet. Mir ist letztlich egal, wie es bezeichnet wird. Wichtig ist, dass es "klingt".
Und das Spannung aufgebaut wird.

Ich finde es ja schade, dass wir die Diskussion nur intern geführt haben, da Außenstehende sicher viel lernen können.

Ich arbeite seit mehreren Jahren an einem Sonettartikel für die Leselupe, komme aber nicht wirklich vorwärts.
Ich habe mehrere eingeladen, aber niemand dazu gefunden.

Jedenfalls habe ich ein (natürlich augenzwinkerndes) Sonettkochbuch geschrieben, mit dem man Sonette köcheln kann.

http://www.leselupe.de/lw/titel-Hutschis-Sonettkochbuch-107558.htm


Es wird sein, wie mit Omas Soße. Was man auch anstellt, so gut wie Omas Soßen werden die eigenen nicht.

Aber die Rezepte helfen - im Nichtintuitiven Bereich.

Was hat es mit unserer Diskussion zu tun? Ich zeige dort die äußeren Strukturen von Sonetten, die es wirklich gibt. (Nicht die inneren inhaltlichen.)
 
F

Fettauge

Gast
Da dazu

Bernd, du meinst es sicher gut, aber schon, dass du die Alexandriner von Gryphius, die aus Platzgründen auf zwei Zeilen gebracht wurden, als Enjambements bezeichnest, lässt mich nicht gerade an deinen Kenntnissen zweifeln, nimm es mir nicht übel, aber nachdenklich macht mich das schon, um es mal so elegant auszudrücken.

Wie sieht das aus mit deinem Sonettkochbuch - findet man das in der LL?

Nebenbeigesagt: Ob es ein Gedicht geworden ist, das weiß ich, ohne dass ich es erklären könnte, sobald ich es gelesen habe.
Wir sollten vielleicht weniger theoretisieren, als vielmehr gute Gedichte schreiben, das ist meine Meinung.

Jetzt klinke ich mich mal aus.

Gruß, Fettauge
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ich habe nie geschrieben, dass die Alexandriner Enjambements sind, sondern dass das Gedicht Enjambements enthält.

GLYPIUS:

Der port naht mehr und mehr sich / zu der glieder Kahn.
Gleich wie diß licht verfiel / so wird in wenig Jahren
Ich / du / und was man hat / und was man siht / hinfahren
.
Diß Leben kömmt mir vor alß eine renne bahn.

Ein Enjambement ist ja einfach das Fortführen eines Satzes in einem nachfolgenden Vers.

Das ist hier gegeben. Es ist kein "hartes" sondern eher ein schwaches Enjambement. Und nicht der Alexandriner ist das Enjambement, sondern die Fortführung eines Satzes im nächsten Vers bedeutet, dass das Gedicht ein Enjambement enthält.

Ich habe das nur so klar geschrieben, weil es wichtig ist, dass zunächst die Definition klar ist.

Der Grund, warum ein Enjambement verwendet wird, hat nichts damit zu tun, ob es sich um eines handelt.

Damit will ich es hier ebenfalls bewenden lassen. Ich habe das nur geschrieben, damit Du nicht gar zu sehr enttäuscht bist.

Das Sonettkochbuch ist hier: http://www.leselupe.de/lw/titel-Hutschis-Sonettkochbuch-107558.htm
 
O

orlando

Gast
Ichsaachmaso:

Enjambement: Die syntaktische Einheit setzt sich in die nächste Verszeile fort. Diese Variante wird auch Hakenstil, Versbrechung oder Zeilensprung genannt.

Also Hakenstil = Enjambement
Versbrechung = Enjambement
Zeilensprung = Enjambement

Zeilenstil: Die syntaktische Einheit endet mit dem Versschluss.

---
:)
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Genau.
Die kleinste syntaktische Einheit ist das Wort, eine größere die Wortgruppe. Auch der Satz ist eine syntaktische Einheit. Gröere Einheiten spielen im gegebenen Zusammenhang keine Rolle.

Hier noch eine Literaturstelle: http://books.google.de/books?id=JJv...6AEwAA#v=onepage&q=enjambement grimm&f=false

Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft: Neubearbeitung des ...
herausgegeben von Georg Braungart,Harald Fricke,Klaus Grubmüller,Jan-Dirk Müller,Friedrich Vollhardt,Klaus Weimar

Streiten könnte man über "syntaktische Einheit". Ich stimme hier zu, manche geben aber auch "Sinneinheit" an.

http://books.google.de/books?id=IbP...a=X&ei=Odv8U6e-JMS7ygPimILABQ&ved=0CCQQ6AEwAQ

"Satz- oder Sinneinheit" Wiener Jahrbuch für Philosophie, Bände 9-10

Oft ist es das Gleiche.
 



 
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