Dann wenn am Ende eines kurzen Tages

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Walther

Mitglied
Dann wenn am Ende eines kurzen Tages
Die Sonne in dem schwarzen Meer versinkt,
In dem sie schlafend schwimmt, doch nicht ertrinkt,
Fliegt nicht nur wegen eines Glockenschlages

Die weiße Taube auf: Sie flieht den Raben,
Der kurz ein Krächzen seufzend flattert.
Im Kirchturm knarzt ein Uhrwerk, tickt und rattert.
Und Nebel füllen schon den tiefen Graben,

Den Straßen in die Stadt geschlagen haben.
Ein stummer Wanderer hat sie ergattert:
Den letzten Schlafplatz, karge Essensgaben,

Ein Glas, in dem nur schales Wasser schwingt.
Es ist genug für Leute seines Schlages,
Die kalter Wind in eine Zuflucht zwingt.
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Taube und Rabe

Ich las gerade zur Osterzeit, wie jedes Jahr, die Chymische Hochzeit: Der Wanderer Christian Rosencreutz macht am Ostervormittag Rast an einer Wegkreuzung, wo eine Inschrift ihn mahnt, einen der vier Wege mit Bedacht auszuwählen, als er eine weiße Taube beobachtet, die von einem Raben verfolgt wird. Er läuft hinterher, um der Taube zu helfen - und dadurch entscheidet sich ihm der weitere Weg.
 

Walther

Mitglied
hi mondnein,

danke für deinen kenntnisreichen eintrag. die verwendung der bilder ist im obigen text durchaus nicht zufällig - ähnlichkeiten sind also beabsichtigt.

lg w.
 
Hallo Walter,
ich nehme an, du sprichst von einem Obdachlosen.
Da ich in der Bahnhofsmission arbeite, kenne ich viele, die oft noch den letzten Schlafplatz ergattert haben.
Ich würde den Tippelbruder aber nicht Wanderer nennen.
Vielleicht würde ich auch die Sonne nicht im schwarzen, sondern im dunklen Meer versinken lassen, weil ja das Schwarze Meer ein feststehender Begriff ist.
Ansonsten hat mich dein Gedicht sehr angesprochen.
Viele Grüße,
Marie-Luise
 

Walther

Mitglied
lb marie-luise,

der "Wanderer" ist ein begriff aus der literaturmetaphernkiste. er kann ein Treber sein, muß das aber nicht. auch ein vertriebener würde passen. der wanderer ist ein einsamer, ein outcast, ein ausgeworfener.

auch das "schwarze Meer" ist eine solche begrifflichkeit. sie steht für nichts, das all, die nacht. alles hängt zusammen. die eigentliche farbe der schöpfung ist schwarz, licht- und materielos. das universum ist zum größten teil leer, also voller nichts und damit für unsere augen schwarz.

ich danke dir für deine gedanken und deine soziale arbeit.

lg w.
 
Lieber Walther,
meine Vorstellung von einem Wanderer ist ein Mann in zünftiger Kleidung mit Rucksack und vielleicht noch mit einem Hut und Stock.
Wenn ich die Tippelbrüder in der BM sehe, habe ich diese Vorstellung nicht. Sie kommen in einer dem Wetter nicht angepassten Kleidung dort an. In jeder Hand eine Plastiktüte.
Daher kommt es sicher, dass ich mich mit dem Wanderer in deinem Gedicht nicht recht anfreunden kann. Tramp wäre vielleicht besser.
Doch wie gesagt, es ist ja nur meine Meinung.

Viele Grüße,
Marie-Luise
 

Walther

Mitglied
lb marie-luise,

dann können wir zusammen nicht kommen. hier geht es nicht um das bild des wanderers in deinen augen, es geht um das, was der wanderer an bezug aus der literatur über jahrhunderte entwickelt hat.

lyrik ist größtmögliche verdichtung bei gleichzeitiger aufweitung des denk- und betrachtungsfeldes. der "tramp" engt den "wanderer", der ja auch der zwischen den welten ist, ein.

lg w.
 
Leider, lieber Walther, kommen wir nicht zusammen.
Das kommt daher, dass ich durch die BM die Leute vor Augen habe.
Ich glaube, sie würden selbst erstaunt sein, wenn man sie als Wanderer bezeichnen würde.
Doch vielleicht würden sie sich ja darüber freuen.
Trotzdem gefällt mir dein Gedicht.

Noch einmal Grüße von mir.
 

Walther

Mitglied
lb. marie-luise,

der "Wanderer" der literatur ist der entwurzelte, der, den der wind durch sein leben treibt.

danke und lieber gruß w.
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
der Wanderer

und der, der "dem Wind entgegen geht" (Wotan in Wagners Siegfried),
und auch der Pilger auf Abend- oder Morgenlandfahrt,
und auch der Flüchtling
und der Mönch eines Bettelordens
und der Geselle (früher mal)
und die Honigbiene (metaphorisch oder real)
 

Walther

Mitglied
du sagst/schreibst es,

lb mondnein,

und deine aufzählung ist fein, hat aber nicht alle der vielen bedeutungsstränge aufgenommen. danke dafür.

lg w.
 



 
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