Black Pearl
Mitglied
III. Dark Town
Ich wandere durch finsteren Regen, Häuser und Strassen fallen von mir ab
vergangene Schatten, die manchmal bei Nacht
mit stechenden Blicken Wunden brechen
die längst betoniert, verputzt, gefedert
geteert, ad acta
und begraben schienen -
ich wandere durch finsteren Regen, trage Visionen vor mir her
ihr Schatten fällt auf mich zurück, ihr Licht verlischt in anderen Augen
dumm gelaufen, könnte man sagen -
ich wandere durch finsteren Regen, mein Herz in der Tasche
für den Fall aller Fälle
doch noch gibt es dich, deine lodernden Augen
noch gibt es mich und ein Rätsel zu lösen
Wunden bluten
Wunden ruhen
ich hoffe nur
für den Fall aller Fälle
habe ich auch einen Pfahl dabei.
Dark Town. Dunkle Stadt voller dunkler Gestalten, so manche in dunkle Machenschaften verwickelt.
Die Anzahl der Toten und Stadtflüchtigen glich sich durch die Zuwanderung aus, gestaltete aber das Stadtbild völlig um. Forscher, Künstler, Mystiker und Aussteiger jeder Art fühlten sich hier heimisch.
Aber auch Menschen mit den verschiedensten Arten von Geisteskrankheiten, psychischen Störungen und Spleens, all zu oft mit kriminellem Charakter. Die Rate der Kriminalität schoss sprunghaft in die Höhe, sie konnte durchaus Großstädten wie New York und Los Angeles Konkurrenz machen. Zugleich war es die einzige Stadt der Welt, in der es in relativ kurzen Abständen immer wieder auch verbrechensfreie Nächte gab, auch wenn die Todesrate in ebensolchen Nächten sich verzehnfachte.
Underground City lautete damals eine der vorgeschlagenen Alternativen für den neuen Stadtnamen.
Dark Town schien aber in den meisten Ohren der braven Bürger eine abschreckendere Wirkung zu haben.
Sie irrten sich. Aber man hatte sich an den Namen schon gewöhnt. Wie an vieles andere. Zudem passte er am besten zum Klima.
So sehr die Sonne sich auch anstrengte, die dichte Dunstglocke über Dark Town verwandelte ihre Strahlen in ein hässliches, fahles Grau. Die täglich qualmenden Krematorien lieferten zuviel Nachschub.
Nur ich lichte das Dunkel manchmal ein wenig. Dark Town. Meine Stadt. Auch wenn das manche anders sahen. Vor allem Red Eye. Und seine Familie.
Aber ich brachte den Regen. Ich brachte die Dunkelheit. Und ich kann sie ihr wieder nehmen. Zumindest ein wenig.
Aber ich habe dich geschaffen. Und mit dir auch den Regen.
Red Eye... Und wieder hast du mich gefunden. Wie oft wollen wir diese sinnlose Diskussion noch führen? Du hast mich geschaffen, aber was ich dann wurde, war nicht dein Wille. Es war Zufall. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ich verursache den Regen, nicht du. Warum lässt du es nicht auf sich beruhen und genießt seine Vorteile?
Zufall? Vorhersehung! Es wurde mir in die Wiege gelegt, dich zu erschaffen, eine Königin mit einem unverwechselbaren Zeichen, eine Königin, die schwarze Tränen weint! Und was meinst du mit dem „ wahrsten Sinne des Wortes“?
Red Eye... wie immer kein Sinn für sprachliche Wendungen. Mit ein wenig Nachdenken findest du es heraus. Und Vorhersehung? Im Vericulum stand zwar etwas von einem Zeichen, aber nichts von Tränen, nichts von Regen, du hast es mir selbst gezeigt!
Eine auserwählte Königin, die gezeichnet ist – sind deine Tränen dir als Zeichen nicht deutlich genug??
Es war wohl eher mein Muttermal gemeint, das dich damals auf mich aufmerksam gemacht hat.
Das eine hängt mit dem anderen zusammen, das weißt du genau. Hör auf, davor wegzulaufen, dass du die Auserwählte bist!
Ich bin nicht auserwählt! Lass doch dein verdammtes Vericulum aus dem Spiel – diese Auswahl ist ein verfluchtes Pech, das ich loszuwerden gedenke wie dich, Vericulum hin oder her!!
Black Pearl, du bist arrogant und respektlos! Mich loswerden?? Dann lass uns sehen, wer von uns die heutige Nacht überlebt!!!
Er vergaß wie schnell sie lernte. Sie kannte seine Ablenkungsmanöver, um Zeit zu schinden. Sinnloses Diskutieren war eine seiner liebsten Vorgehensweisen.
Immerhin wusste er inzwischen, dass sie sich telepathisch finden ließ, er glaubte, aus Lust am Spiel. Er irrte sich. Sie war klug genug, nicht mit ihm zu spielen. Es gehörte zu ihrem Plan. Doch so lange er glaubte, es sei ein Spiel, war es nur hilfreich für sie.
Sie hatte ihn jetzt schon in manchen Fähigkeiten überholt. Zum Beispiel konnten sie beide am Gedankenkontakt die Entfernung ablesen. Doch er konnte sie dabei nicht täuschen. Sie ihn schon. Ein wenig Kreativität und telepathische Taktik, mehr war nicht nötig. Ideen, auf die er nie kam.
Der Vorteil der Jugend, hohe Anpassungsfähigkeit, schnelles Lernen und vor allem Kreativität. Ein freier, spielerischer Geist. Sein Geist lief schon zu lange in immer gleichen Bahnen. Er hätte ihr leid tun können, wäre sie dieses Gefühls ihm gegenüber fähig.
Sie stellte ihn sich vor, auf das Dach springend, auf dem sie gestanden hatte, bevor sie in ihren Keller zurückgekehrt war, der rote Ledermantel, den er bis heute nicht über sich gebracht hatte, abzulegen, wild im Wind flatternd, während er sich hektisch nach allen Seiten drehte, ihre Witterung noch in der Luft, aber sie war längst fort.
Nur ihr schwarzes Spitzenhöschen lag noch dort.
„Verdammt, wie machst du das?“ würde er wütend immer wieder brüllen - um das zu wissen, benötigte sie keine Telepathie. Er würde nach ihrer Witterung suchen, versuchen, sie telepathisch zu erspüren, ohne Erfolg.
Sie war eine Meisterin der Abschirmung geworden, in jeglicher Hinsicht.
Sie war sich nicht sicher, ob sie fähig war, ihn zu töten. Es war eine Sache, sich nicht finden zu lassen, eine andere, ihn zu töten oder immerhin zu überleben, sollte er sie tatsächlich eines Nachts leibhaftig finden.
Auch sie schindete Zeit. Denn im Gegensatz zu ihm glaubte sie an Zufall, an ein nicht durchschaubares und vor allem nicht im Vericulum wortwörtlich verzeichnetes Schicksal.
Sie mochte es, wenn er wütend war. Es erregte sie, seine blitzenden Augen, die, wenn er rasend war, glühend rot loderten, die schlanken Finger zu sehnigen Fäusten geballt, der gespannte kräftige Hals, die schmalen Lippen herrisch aufgeworfen, die langen spitzen Eckzähne – sie liebte seinen messerscharfen Biss... Sie wäre jetzt gern bei ihm gewesen. Es wäre eine verdammt wilde Nacht geworden - wenn auch mit tödlichem Ende.
Er war wie sie nicht vieler Gefühle fähig, aber Wut und Begierde waren der Motor fast all ihrer Handlungen.
Jeder ihrer Art bemühte sich, diese zügellosen Triebe unter Kontrolle zu halten, diese Kontrolle zu perfektionieren, denn sie machten den Geist schwach und angreifbar, im gleichen Maße, wie sie ihre physische Kraft verstärkten.
In der alten Zeit waren sie wie wilde tollwütige Tiere gewesen, eine rasende Urgewalt, zerstörerisch wie ein Wirbelsturm. Bis die Menschen sich nicht mehr damit begnügten, zu flüchten und sich zu wehren, sondern begannen, sie zu jagen. Der Mensch war nicht mehr nur Beute. Er wurde zu einem Feind.
Sie studierten den neuen Feind, seine Stärken, seine Schwächen. Dabei lernten sie von ihm. Sie lernten, den Geist zu nutzen. Und sahen, wozu sie dann fähig waren. Es begann mit Kleinigkeiten. Sie lernten sich zu verbergen. Niemand hinterließ mehr seine Beute mit Wunden, von denen noch das Blut tropfte. Sie brachen nicht mehr durch Türen, sie schlüpften durch offene Fenster und Schornsteine. Bald schon gingen die Begabten unter ihnen wieder durch Türen, jedoch ohne sie öffnen zu müssen. Ihrer tierischen Herkunft verdankten sie die Legenden. Dem geistigen Fortschritt verdankten sie, dass sie Legenden blieben.
Black Pearl war für die anderen Vampire eine Gefahr. Um Legenden zu bleiben, durften sie nicht zuviel Aufmerksamkeit auf sich lenken. Black Pearl aber zog eindeutig zuviel Aufmerksamkeit auf sich, wie Red Eyes Familie fand.
Der Regen, die Selbstmorde und Unfälle in jeder Nacht, in der sie auf die Jagd ging – es war nur eine Frage der Zeit, bis man die Spinnereien von Vampirsichtungen anfing, genauer zu untersuchen.
Der mysteriöse Regen zog genau die passende Sorte von Forschern an, die mit den wildesten paranormalen Theorien nur so um sich warfen und Phänomene wie Vampirsichtungen damit bald in Verbindung bringen würden.
Sie seufzte. Sie wünschte, sie wäre wenigstens ein Vampir wie alle anderen. Sie wünschte sie hätte wenigstens eine Wahl.
Aber sie hatte keine Wahl. Sie war ein Vampir ohne die Fähigkeit, das Opfer seines Blutdurstes wenigstens selbst auszusuchen. Im Gegenteil. Das Opfer suchte sich sie aus... Ironie des Schicksals.
Der Mann heute Nacht. Er hatte sie gerufen. Und sie hatte ihm gehorcht. Sie hatte ihn befreit – wenn auch auf eine für ihn nicht sehr angenehme Weise.
Die Vision – er hatte sie gesehen. Und mehr als das – er hatte sie durchlebt. Als wäre sie Realität. Das war sie auch – zumindest für ihn in jenem Moment. Sie war seinem Unterbewusstsein entsprungen, nicht ihrem. Sie war nur das Medium vom Unterbewusstsein zum Bewusstsein. Manchmal waren es auch wahre Erinnerungen, und manchmal befürchtete sie, dass sie die Zukunft sah – es wäre möglich...
Vergangenheit und Zukunft...
Wenn dem so war, hatte sie dem Mann tatsächlich einiges erspart. Nun ja, nicht ganz – in gewisser Weise hätte sie dann der Zeit nur vorgegriffen. Zumindest hatte er aber die Möglichkeit gehabt, dieser Vision zu entfliehen. In den Tod, zugegeben, aber vielleicht in einen besseren, als es ein zukünftiger gewesen wäre.
Doch den Preis dafür würde auch sie zahlen müssen – noch heute Nacht. Wie jede Nacht, wenn sie jemanden befreite. Doch nicht nur sie zahlte ihren Preis. Alle, die den Regen willkommen hießen, mussten dafür bluten...
Sie warf einen Blick auf die rote, fast niedergebrannte Kerze in der Ecke. Auch sie war nicht frei von Nostalgie. Doch nur im Geheimen. Im Gegensatz zu Red Eye hatte sie damals die Kleider, die er ihr geschenkt hatte, verbrannt. Sie hatte auch versucht, den Ring vom Finger zu ziehen – doch wie sie auch daran gezerrt hatte oder was sie ansonsten probiert hatte, um ihn vom Finger zu bekommen, vergeblich. Er war wie festgewachsen. Sie hatte sogar versucht, den Ring samt Finger abzutrennen. Mit dem Ergebnis, dass sie einige andere Finger verloren hatte, nur nicht den Ringfinger. Es hatte Wochen gedauert, bis sie vollständig nachgewachsen waren.
Immer wieder gelang es Red Eye, sie über die Blutlinie, verstärkt durch den Ring, telepathisch zu finden, all ihre Kunstfertigkeit in der Abschirmung konnte das nicht verhindern. Doch meist spürte sie es kurz vorher, wenn er durchzubrechen versuchte und ließ ihn gewähren. Es schadete nicht, denn ihren Aufenthaltsort bekam er dadurch nicht heraus, durch ihre Gedankenfilter drang er nicht durch.
Sie sollte schlafen. Aber sie zögerte es hinaus. Sie hatte Angst. Wenn sie einschlief, würden die Visionen kommen. Sie hatte im wachen Zustand schon Mühe, sie abzuwehren – doch schlafend war sie ihnen schutzlos ausgeliefert.
Sie hätte es nicht tun sollen. Hätte sie die Folgen geahnt – aber der Regen war vorher schon da gewesen. Ihr erster Biss und, wie sie glaubte, die Ermordung des Vaters ihres ersten Trankes, den sie nicht aus Blutdurst begangen hatte, hatte ihrem Potenzial Form gegeben, aber das Potenzial selbst – das war schon vorher da gewesen. Sie hatte keine Ahnung, ob sie verflucht war, dieses Schicksal ihr in die Wiege gelegt worden war oder bei ihrer Erweckung etwas schief gelaufen war – sie hatte das Vericulum Wort für Wort immer wieder studiert, niemals hatte es vor ihr einen Vampir mit einem solchen Makel gegeben.
Sie stand auf und trat ganz nah an den zwei Meter großen Kristallspiegel heran, ein wunderschönes Stück mit einem breiten, schön verschnörkelten Goldrahmen im Barockstil, den sie aus einem Antiquitätenladen mitgenommen hatte. Der Antiquar hatte sich, wenn man der Presse glauben wollte, erhängt – jedenfalls würde er den Spiegel nicht vermissen.
Sie sah sich tief in die Augen. Studierte das Dunkel in ihnen. Manchmal schienen kleine rote Funken darin auf zu glühen – doch vielleicht bildete sie sich das auch nur ein. Sie hatte sich schon oft stundenlang so in die Augen gestarrt, auf der Suche nach einer Antwort – ohne Ergebnis. Sie hatte nie mehr gesehen als heute. Keine Vision, nichts. Nur große blanke Opale, in denen sich das Licht der roten Kerze spiegelte.
Sie trat einen Schritt zurück und betrachtete nachdenklich ihr Spiegelbild. Ihre Augen waren schwarz unterlaufen, ihre Tränen hatten mit der Zeit immer dunkler werdende Hautver¬färbungen hinterlassen, die sie nicht mehr abgewaschen bekam. Sie sah aus wie eine blasse Gothic-Queen mit stark verlaufenem Kajal. Nicht, dass ihr das schlecht stand – es gab ihrem schmalen Gesicht mit den katzenförmig schrägen und doch großen dunklen Augen, das durch das lange, glatt herunter fallende schwarze Haar und die hohen Wangenknochen noch schmaler wirkte, einen unwiderstehlich melancholischen Touch. Es milderte auch die ägyptisch anmutende Härte ihres Blicks unter den schmalen, doch streng gezogenen Augenbrauen etwas ab. Ihre Mundwinkel waren von hauchzarten Zügen umweht, die eine Trauer und Verbitterung offenbarten, die ihren gelassenen Blick Lügen straften. Wenn sie jedoch ihre schön geschwungenen Lippen zu einem Lächeln verzog, bekam ihr Gesicht einen Liebreiz, der jeden mitten ins Herz traf – wenn sie nur wollte.
Der schwarze Regen von Dark Town machte ihr zwar nichts aus, doch ihrem selbstgeschneiderten Mantel dafür um so mehr. Einst purpurrot glänzender Samt, abgesetzt mit schwarzer Spitze, schwarzem Brokat und fein geschwungenen Verzierungen aus kleinen Opalen, hatte sich die glänzende Schmierschicht in den Stoff immer tiefer eingesogen, so dass man inzwischen schwer sagen konnte, ob es sich bei dem Stoff um Samt oder eher um eine Art Latex handelte – ein blutroter Schimmer war trotz alle dem erhalten geblieben, so dass man meinen könnte, ihr schlanker Körper sei von dunkel glänzendem Blut umflossen. Der schwarze Spitzenbesatz des Mantels hob den samtig hellen Schimmer ihrer Haut und die wohlgerundete Form ihres Busens betörend hervor, unterstrichen von kleinen Opal-Verzierungen, die ihre Rundungen auf dem Mantel verführerisch nachzeichneten.
Sie mochte das Gefühl von Schutz durch den schweren Mantel auf ihrer bloßen Haut, daher war sie darunter meistens nackt - nur manchmal ließ sie sich dazu hinreißen, in feine schwarze Spitzenwäsche zu schlüpfen. Interessanterweise war der Mantel durch den Regen fast undurchdringlich geworden, das hatte sie bei so manchem Kampf schon zu schätzen gewusst. Ihr Blick fiel auf die schwarzen Schnürstiefel in der Ecke, die angezogen bis weit über das Knie reichten, auch sie waren eine Maßanfertigung, wenn auch nicht aus eigener Hand – dafür mit einigen Extras als Dreingabe. Daneben lagen ihre hauchdünnen, aber rissfesten schwarzen Lederhandschuhe, ohne die sie nie ihr Nachtquartier verließ.
Sie gefiel sich, keine Frage. Und sie gefiel jedem, dem sie gefallen wollte.
Das Kerzenlicht flackerte, zischte und verlosch.
Sie ertastete den niedergebrannten Rest, hockte sich auf ihr Bett und knetete damit gedankenverloren herum. Als das Wachs zu hart wurde, steckte sie es seufzend in ihre Manteltasche. Hätte sie einen Blick darauf werfen können, hätte die einem Herz ähnelnde Form der Wachsmasse sie wehmütig lächeln lassen.
Leg dich schlafen, es hat ja keinen Sinn, sich künstlich wach zu halten, ermahnte sie sich. Ergeben streckte sie sich auf der bequemen Matratze ihres großen Bettes aus und fiel sofort in tiefen Schlaf.
Sie raste auf die Finsternis zu, fiel durch versengendes Feuer, hörte sich schreien – weiße Funken umwirbelten sie, ein Rasiermesser blitze auf und schnitt wie Butter durch ihr Fleisch, der Schmerz zischte durch sie hindurch, Blut lief – „Komm, Kleines...“, entsetzte Augen, sie fuhr sich an den Hals, Blut, ihre Hände voller Blut, etwas stach in ihre Augen, sie schrie und schrie, sah den kalten Hass in den dunklen Augen über ihr, ein Licht blinkte rot, etwas schnitt tief in ihren Rücken, sie war nur noch zu einem Krächzen fähig, wollte sich wehren, konnte sich aber nicht bewegen, etwas schnitt in ihre Handgelenke, hielt sie schmerzhaft gefesselt, sie riss panisch daran, Gafaband flog, sie sprang auf –
und fiel durch Scherben, die ihr die Haut aufrissen, nasses Kopfsteinpflaster raste auf sie zu, ihr Schädel barst – Finsternis. Regen.
Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen, presste sich durch ihren Leib, ihre Kehle, ihre Augen – sie sah große dunkle Augen vor sich, aus denen schwarze Tränen flossen, hörte sich selbst weinen, die Hände dunkel und nass von Blut und Tränen, sie rieb sich die Augen, doch es kamen immer neue, sie rieb und rieb, plötzlich hielt sie ihre eigenen Augen in der Hand, blau wie früher, Blut zog dunkle Schlieren durch das helle Blau, plötzlich zerplatzen sie in ihrer Hand, sie schrie und schluchzte, während dunkler Regen auf sie nieder fiel –
Mit einem Schrei kam sie zu sich. Sie fuhr wild suchend in ihre Manteltaschen, endlich erwischten ihre zitternden Finger das Feuerzeug. Sie fuhr sich durch ihr tränennasses Gesicht und betrachtete beim Schein des angeschnippten Feuerzeugs den schwarzen Schmier an ihrer Hand. Sie wusste schon, dass es geregnet hatte, der Regen sich aber inzwischen in ein Nieseln verwandelt haben dürfte.
Sie stand schwankend auf und lief zu einem Metalleimer an der Wand, legte das Feuerzeug weg und wusch sich im Dunkeln mit dem Wasser aus dem Eimer das schmierige Zeug ab. Sie warf den Mantel ab, suchte tastend nach dem Feuerzeug, fand es und stellte sich vor den Spiegel. Sie drehte ihm ihre linke Schulter zu und schnippte das Feuerzeug an.
Ihr Muttermal blutete. Wie immer, wenn sie die Visionen einholten. Sie betrachtete es. Mit ein wenig Fantasie sah der ca. vier Zentimeter breite Fleck wie ein dunkles Auge aus.
Ein schwarzer Opal, der seinen Blutzoll forderte.
Sie trieb ihn ein und gab ihn aus.
Ein ewiger Kreislauf.
Black Pearl.
Sie begann, diesen Namen zu hassen.
~~~
Ich wandere durch finsteren Regen, Häuser und Strassen fallen von mir ab
vergangene Schatten, die manchmal bei Nacht
mit stechenden Blicken Wunden brechen
die längst betoniert, verputzt, gefedert
geteert, ad acta
und begraben schienen -
ich wandere durch finsteren Regen, trage Visionen vor mir her
ihr Schatten fällt auf mich zurück, ihr Licht verlischt in anderen Augen
dumm gelaufen, könnte man sagen -
ich wandere durch finsteren Regen, mein Herz in der Tasche
für den Fall aller Fälle
doch noch gibt es dich, deine lodernden Augen
noch gibt es mich und ein Rätsel zu lösen
Wunden bluten
Wunden ruhen
ich hoffe nur
für den Fall aller Fälle
habe ich auch einen Pfahl dabei.
Dark Town. Dunkle Stadt voller dunkler Gestalten, so manche in dunkle Machenschaften verwickelt.
Die Anzahl der Toten und Stadtflüchtigen glich sich durch die Zuwanderung aus, gestaltete aber das Stadtbild völlig um. Forscher, Künstler, Mystiker und Aussteiger jeder Art fühlten sich hier heimisch.
Aber auch Menschen mit den verschiedensten Arten von Geisteskrankheiten, psychischen Störungen und Spleens, all zu oft mit kriminellem Charakter. Die Rate der Kriminalität schoss sprunghaft in die Höhe, sie konnte durchaus Großstädten wie New York und Los Angeles Konkurrenz machen. Zugleich war es die einzige Stadt der Welt, in der es in relativ kurzen Abständen immer wieder auch verbrechensfreie Nächte gab, auch wenn die Todesrate in ebensolchen Nächten sich verzehnfachte.
Underground City lautete damals eine der vorgeschlagenen Alternativen für den neuen Stadtnamen.
Dark Town schien aber in den meisten Ohren der braven Bürger eine abschreckendere Wirkung zu haben.
Sie irrten sich. Aber man hatte sich an den Namen schon gewöhnt. Wie an vieles andere. Zudem passte er am besten zum Klima.
So sehr die Sonne sich auch anstrengte, die dichte Dunstglocke über Dark Town verwandelte ihre Strahlen in ein hässliches, fahles Grau. Die täglich qualmenden Krematorien lieferten zuviel Nachschub.
Nur ich lichte das Dunkel manchmal ein wenig. Dark Town. Meine Stadt. Auch wenn das manche anders sahen. Vor allem Red Eye. Und seine Familie.
Aber ich brachte den Regen. Ich brachte die Dunkelheit. Und ich kann sie ihr wieder nehmen. Zumindest ein wenig.
Aber ich habe dich geschaffen. Und mit dir auch den Regen.
Red Eye... Und wieder hast du mich gefunden. Wie oft wollen wir diese sinnlose Diskussion noch führen? Du hast mich geschaffen, aber was ich dann wurde, war nicht dein Wille. Es war Zufall. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ich verursache den Regen, nicht du. Warum lässt du es nicht auf sich beruhen und genießt seine Vorteile?
Zufall? Vorhersehung! Es wurde mir in die Wiege gelegt, dich zu erschaffen, eine Königin mit einem unverwechselbaren Zeichen, eine Königin, die schwarze Tränen weint! Und was meinst du mit dem „ wahrsten Sinne des Wortes“?
Red Eye... wie immer kein Sinn für sprachliche Wendungen. Mit ein wenig Nachdenken findest du es heraus. Und Vorhersehung? Im Vericulum stand zwar etwas von einem Zeichen, aber nichts von Tränen, nichts von Regen, du hast es mir selbst gezeigt!
Eine auserwählte Königin, die gezeichnet ist – sind deine Tränen dir als Zeichen nicht deutlich genug??
Es war wohl eher mein Muttermal gemeint, das dich damals auf mich aufmerksam gemacht hat.
Das eine hängt mit dem anderen zusammen, das weißt du genau. Hör auf, davor wegzulaufen, dass du die Auserwählte bist!
Ich bin nicht auserwählt! Lass doch dein verdammtes Vericulum aus dem Spiel – diese Auswahl ist ein verfluchtes Pech, das ich loszuwerden gedenke wie dich, Vericulum hin oder her!!
Black Pearl, du bist arrogant und respektlos! Mich loswerden?? Dann lass uns sehen, wer von uns die heutige Nacht überlebt!!!
Er vergaß wie schnell sie lernte. Sie kannte seine Ablenkungsmanöver, um Zeit zu schinden. Sinnloses Diskutieren war eine seiner liebsten Vorgehensweisen.
Immerhin wusste er inzwischen, dass sie sich telepathisch finden ließ, er glaubte, aus Lust am Spiel. Er irrte sich. Sie war klug genug, nicht mit ihm zu spielen. Es gehörte zu ihrem Plan. Doch so lange er glaubte, es sei ein Spiel, war es nur hilfreich für sie.
Sie hatte ihn jetzt schon in manchen Fähigkeiten überholt. Zum Beispiel konnten sie beide am Gedankenkontakt die Entfernung ablesen. Doch er konnte sie dabei nicht täuschen. Sie ihn schon. Ein wenig Kreativität und telepathische Taktik, mehr war nicht nötig. Ideen, auf die er nie kam.
Der Vorteil der Jugend, hohe Anpassungsfähigkeit, schnelles Lernen und vor allem Kreativität. Ein freier, spielerischer Geist. Sein Geist lief schon zu lange in immer gleichen Bahnen. Er hätte ihr leid tun können, wäre sie dieses Gefühls ihm gegenüber fähig.
Sie stellte ihn sich vor, auf das Dach springend, auf dem sie gestanden hatte, bevor sie in ihren Keller zurückgekehrt war, der rote Ledermantel, den er bis heute nicht über sich gebracht hatte, abzulegen, wild im Wind flatternd, während er sich hektisch nach allen Seiten drehte, ihre Witterung noch in der Luft, aber sie war längst fort.
Nur ihr schwarzes Spitzenhöschen lag noch dort.
„Verdammt, wie machst du das?“ würde er wütend immer wieder brüllen - um das zu wissen, benötigte sie keine Telepathie. Er würde nach ihrer Witterung suchen, versuchen, sie telepathisch zu erspüren, ohne Erfolg.
Sie war eine Meisterin der Abschirmung geworden, in jeglicher Hinsicht.
Sie war sich nicht sicher, ob sie fähig war, ihn zu töten. Es war eine Sache, sich nicht finden zu lassen, eine andere, ihn zu töten oder immerhin zu überleben, sollte er sie tatsächlich eines Nachts leibhaftig finden.
Auch sie schindete Zeit. Denn im Gegensatz zu ihm glaubte sie an Zufall, an ein nicht durchschaubares und vor allem nicht im Vericulum wortwörtlich verzeichnetes Schicksal.
Sie mochte es, wenn er wütend war. Es erregte sie, seine blitzenden Augen, die, wenn er rasend war, glühend rot loderten, die schlanken Finger zu sehnigen Fäusten geballt, der gespannte kräftige Hals, die schmalen Lippen herrisch aufgeworfen, die langen spitzen Eckzähne – sie liebte seinen messerscharfen Biss... Sie wäre jetzt gern bei ihm gewesen. Es wäre eine verdammt wilde Nacht geworden - wenn auch mit tödlichem Ende.
Er war wie sie nicht vieler Gefühle fähig, aber Wut und Begierde waren der Motor fast all ihrer Handlungen.
Jeder ihrer Art bemühte sich, diese zügellosen Triebe unter Kontrolle zu halten, diese Kontrolle zu perfektionieren, denn sie machten den Geist schwach und angreifbar, im gleichen Maße, wie sie ihre physische Kraft verstärkten.
In der alten Zeit waren sie wie wilde tollwütige Tiere gewesen, eine rasende Urgewalt, zerstörerisch wie ein Wirbelsturm. Bis die Menschen sich nicht mehr damit begnügten, zu flüchten und sich zu wehren, sondern begannen, sie zu jagen. Der Mensch war nicht mehr nur Beute. Er wurde zu einem Feind.
Sie studierten den neuen Feind, seine Stärken, seine Schwächen. Dabei lernten sie von ihm. Sie lernten, den Geist zu nutzen. Und sahen, wozu sie dann fähig waren. Es begann mit Kleinigkeiten. Sie lernten sich zu verbergen. Niemand hinterließ mehr seine Beute mit Wunden, von denen noch das Blut tropfte. Sie brachen nicht mehr durch Türen, sie schlüpften durch offene Fenster und Schornsteine. Bald schon gingen die Begabten unter ihnen wieder durch Türen, jedoch ohne sie öffnen zu müssen. Ihrer tierischen Herkunft verdankten sie die Legenden. Dem geistigen Fortschritt verdankten sie, dass sie Legenden blieben.
Black Pearl war für die anderen Vampire eine Gefahr. Um Legenden zu bleiben, durften sie nicht zuviel Aufmerksamkeit auf sich lenken. Black Pearl aber zog eindeutig zuviel Aufmerksamkeit auf sich, wie Red Eyes Familie fand.
Der Regen, die Selbstmorde und Unfälle in jeder Nacht, in der sie auf die Jagd ging – es war nur eine Frage der Zeit, bis man die Spinnereien von Vampirsichtungen anfing, genauer zu untersuchen.
Der mysteriöse Regen zog genau die passende Sorte von Forschern an, die mit den wildesten paranormalen Theorien nur so um sich warfen und Phänomene wie Vampirsichtungen damit bald in Verbindung bringen würden.
Sie seufzte. Sie wünschte, sie wäre wenigstens ein Vampir wie alle anderen. Sie wünschte sie hätte wenigstens eine Wahl.
Aber sie hatte keine Wahl. Sie war ein Vampir ohne die Fähigkeit, das Opfer seines Blutdurstes wenigstens selbst auszusuchen. Im Gegenteil. Das Opfer suchte sich sie aus... Ironie des Schicksals.
Der Mann heute Nacht. Er hatte sie gerufen. Und sie hatte ihm gehorcht. Sie hatte ihn befreit – wenn auch auf eine für ihn nicht sehr angenehme Weise.
Die Vision – er hatte sie gesehen. Und mehr als das – er hatte sie durchlebt. Als wäre sie Realität. Das war sie auch – zumindest für ihn in jenem Moment. Sie war seinem Unterbewusstsein entsprungen, nicht ihrem. Sie war nur das Medium vom Unterbewusstsein zum Bewusstsein. Manchmal waren es auch wahre Erinnerungen, und manchmal befürchtete sie, dass sie die Zukunft sah – es wäre möglich...
Vergangenheit und Zukunft...
Wenn dem so war, hatte sie dem Mann tatsächlich einiges erspart. Nun ja, nicht ganz – in gewisser Weise hätte sie dann der Zeit nur vorgegriffen. Zumindest hatte er aber die Möglichkeit gehabt, dieser Vision zu entfliehen. In den Tod, zugegeben, aber vielleicht in einen besseren, als es ein zukünftiger gewesen wäre.
Doch den Preis dafür würde auch sie zahlen müssen – noch heute Nacht. Wie jede Nacht, wenn sie jemanden befreite. Doch nicht nur sie zahlte ihren Preis. Alle, die den Regen willkommen hießen, mussten dafür bluten...
Sie warf einen Blick auf die rote, fast niedergebrannte Kerze in der Ecke. Auch sie war nicht frei von Nostalgie. Doch nur im Geheimen. Im Gegensatz zu Red Eye hatte sie damals die Kleider, die er ihr geschenkt hatte, verbrannt. Sie hatte auch versucht, den Ring vom Finger zu ziehen – doch wie sie auch daran gezerrt hatte oder was sie ansonsten probiert hatte, um ihn vom Finger zu bekommen, vergeblich. Er war wie festgewachsen. Sie hatte sogar versucht, den Ring samt Finger abzutrennen. Mit dem Ergebnis, dass sie einige andere Finger verloren hatte, nur nicht den Ringfinger. Es hatte Wochen gedauert, bis sie vollständig nachgewachsen waren.
Immer wieder gelang es Red Eye, sie über die Blutlinie, verstärkt durch den Ring, telepathisch zu finden, all ihre Kunstfertigkeit in der Abschirmung konnte das nicht verhindern. Doch meist spürte sie es kurz vorher, wenn er durchzubrechen versuchte und ließ ihn gewähren. Es schadete nicht, denn ihren Aufenthaltsort bekam er dadurch nicht heraus, durch ihre Gedankenfilter drang er nicht durch.
Sie sollte schlafen. Aber sie zögerte es hinaus. Sie hatte Angst. Wenn sie einschlief, würden die Visionen kommen. Sie hatte im wachen Zustand schon Mühe, sie abzuwehren – doch schlafend war sie ihnen schutzlos ausgeliefert.
Sie hätte es nicht tun sollen. Hätte sie die Folgen geahnt – aber der Regen war vorher schon da gewesen. Ihr erster Biss und, wie sie glaubte, die Ermordung des Vaters ihres ersten Trankes, den sie nicht aus Blutdurst begangen hatte, hatte ihrem Potenzial Form gegeben, aber das Potenzial selbst – das war schon vorher da gewesen. Sie hatte keine Ahnung, ob sie verflucht war, dieses Schicksal ihr in die Wiege gelegt worden war oder bei ihrer Erweckung etwas schief gelaufen war – sie hatte das Vericulum Wort für Wort immer wieder studiert, niemals hatte es vor ihr einen Vampir mit einem solchen Makel gegeben.
Sie stand auf und trat ganz nah an den zwei Meter großen Kristallspiegel heran, ein wunderschönes Stück mit einem breiten, schön verschnörkelten Goldrahmen im Barockstil, den sie aus einem Antiquitätenladen mitgenommen hatte. Der Antiquar hatte sich, wenn man der Presse glauben wollte, erhängt – jedenfalls würde er den Spiegel nicht vermissen.
Sie sah sich tief in die Augen. Studierte das Dunkel in ihnen. Manchmal schienen kleine rote Funken darin auf zu glühen – doch vielleicht bildete sie sich das auch nur ein. Sie hatte sich schon oft stundenlang so in die Augen gestarrt, auf der Suche nach einer Antwort – ohne Ergebnis. Sie hatte nie mehr gesehen als heute. Keine Vision, nichts. Nur große blanke Opale, in denen sich das Licht der roten Kerze spiegelte.
Sie trat einen Schritt zurück und betrachtete nachdenklich ihr Spiegelbild. Ihre Augen waren schwarz unterlaufen, ihre Tränen hatten mit der Zeit immer dunkler werdende Hautver¬färbungen hinterlassen, die sie nicht mehr abgewaschen bekam. Sie sah aus wie eine blasse Gothic-Queen mit stark verlaufenem Kajal. Nicht, dass ihr das schlecht stand – es gab ihrem schmalen Gesicht mit den katzenförmig schrägen und doch großen dunklen Augen, das durch das lange, glatt herunter fallende schwarze Haar und die hohen Wangenknochen noch schmaler wirkte, einen unwiderstehlich melancholischen Touch. Es milderte auch die ägyptisch anmutende Härte ihres Blicks unter den schmalen, doch streng gezogenen Augenbrauen etwas ab. Ihre Mundwinkel waren von hauchzarten Zügen umweht, die eine Trauer und Verbitterung offenbarten, die ihren gelassenen Blick Lügen straften. Wenn sie jedoch ihre schön geschwungenen Lippen zu einem Lächeln verzog, bekam ihr Gesicht einen Liebreiz, der jeden mitten ins Herz traf – wenn sie nur wollte.
Der schwarze Regen von Dark Town machte ihr zwar nichts aus, doch ihrem selbstgeschneiderten Mantel dafür um so mehr. Einst purpurrot glänzender Samt, abgesetzt mit schwarzer Spitze, schwarzem Brokat und fein geschwungenen Verzierungen aus kleinen Opalen, hatte sich die glänzende Schmierschicht in den Stoff immer tiefer eingesogen, so dass man inzwischen schwer sagen konnte, ob es sich bei dem Stoff um Samt oder eher um eine Art Latex handelte – ein blutroter Schimmer war trotz alle dem erhalten geblieben, so dass man meinen könnte, ihr schlanker Körper sei von dunkel glänzendem Blut umflossen. Der schwarze Spitzenbesatz des Mantels hob den samtig hellen Schimmer ihrer Haut und die wohlgerundete Form ihres Busens betörend hervor, unterstrichen von kleinen Opal-Verzierungen, die ihre Rundungen auf dem Mantel verführerisch nachzeichneten.
Sie mochte das Gefühl von Schutz durch den schweren Mantel auf ihrer bloßen Haut, daher war sie darunter meistens nackt - nur manchmal ließ sie sich dazu hinreißen, in feine schwarze Spitzenwäsche zu schlüpfen. Interessanterweise war der Mantel durch den Regen fast undurchdringlich geworden, das hatte sie bei so manchem Kampf schon zu schätzen gewusst. Ihr Blick fiel auf die schwarzen Schnürstiefel in der Ecke, die angezogen bis weit über das Knie reichten, auch sie waren eine Maßanfertigung, wenn auch nicht aus eigener Hand – dafür mit einigen Extras als Dreingabe. Daneben lagen ihre hauchdünnen, aber rissfesten schwarzen Lederhandschuhe, ohne die sie nie ihr Nachtquartier verließ.
Sie gefiel sich, keine Frage. Und sie gefiel jedem, dem sie gefallen wollte.
Das Kerzenlicht flackerte, zischte und verlosch.
Sie ertastete den niedergebrannten Rest, hockte sich auf ihr Bett und knetete damit gedankenverloren herum. Als das Wachs zu hart wurde, steckte sie es seufzend in ihre Manteltasche. Hätte sie einen Blick darauf werfen können, hätte die einem Herz ähnelnde Form der Wachsmasse sie wehmütig lächeln lassen.
Leg dich schlafen, es hat ja keinen Sinn, sich künstlich wach zu halten, ermahnte sie sich. Ergeben streckte sie sich auf der bequemen Matratze ihres großen Bettes aus und fiel sofort in tiefen Schlaf.
Sie raste auf die Finsternis zu, fiel durch versengendes Feuer, hörte sich schreien – weiße Funken umwirbelten sie, ein Rasiermesser blitze auf und schnitt wie Butter durch ihr Fleisch, der Schmerz zischte durch sie hindurch, Blut lief – „Komm, Kleines...“, entsetzte Augen, sie fuhr sich an den Hals, Blut, ihre Hände voller Blut, etwas stach in ihre Augen, sie schrie und schrie, sah den kalten Hass in den dunklen Augen über ihr, ein Licht blinkte rot, etwas schnitt tief in ihren Rücken, sie war nur noch zu einem Krächzen fähig, wollte sich wehren, konnte sich aber nicht bewegen, etwas schnitt in ihre Handgelenke, hielt sie schmerzhaft gefesselt, sie riss panisch daran, Gafaband flog, sie sprang auf –
und fiel durch Scherben, die ihr die Haut aufrissen, nasses Kopfsteinpflaster raste auf sie zu, ihr Schädel barst – Finsternis. Regen.
Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen, presste sich durch ihren Leib, ihre Kehle, ihre Augen – sie sah große dunkle Augen vor sich, aus denen schwarze Tränen flossen, hörte sich selbst weinen, die Hände dunkel und nass von Blut und Tränen, sie rieb sich die Augen, doch es kamen immer neue, sie rieb und rieb, plötzlich hielt sie ihre eigenen Augen in der Hand, blau wie früher, Blut zog dunkle Schlieren durch das helle Blau, plötzlich zerplatzen sie in ihrer Hand, sie schrie und schluchzte, während dunkler Regen auf sie nieder fiel –
Mit einem Schrei kam sie zu sich. Sie fuhr wild suchend in ihre Manteltaschen, endlich erwischten ihre zitternden Finger das Feuerzeug. Sie fuhr sich durch ihr tränennasses Gesicht und betrachtete beim Schein des angeschnippten Feuerzeugs den schwarzen Schmier an ihrer Hand. Sie wusste schon, dass es geregnet hatte, der Regen sich aber inzwischen in ein Nieseln verwandelt haben dürfte.
Sie stand schwankend auf und lief zu einem Metalleimer an der Wand, legte das Feuerzeug weg und wusch sich im Dunkeln mit dem Wasser aus dem Eimer das schmierige Zeug ab. Sie warf den Mantel ab, suchte tastend nach dem Feuerzeug, fand es und stellte sich vor den Spiegel. Sie drehte ihm ihre linke Schulter zu und schnippte das Feuerzeug an.
Ihr Muttermal blutete. Wie immer, wenn sie die Visionen einholten. Sie betrachtete es. Mit ein wenig Fantasie sah der ca. vier Zentimeter breite Fleck wie ein dunkles Auge aus.
Ein schwarzer Opal, der seinen Blutzoll forderte.
Sie trieb ihn ein und gab ihn aus.
Ein ewiger Kreislauf.
Black Pearl.
Sie begann, diesen Namen zu hassen.
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