Das Corona Problem

4,00 Stern(e) 3 Bewertungen

Robert Poster

Mitglied
Hier ist die aktuelle Version.


»Wo willst du denn hin?«

Meine Mutter war zu neugierig! Ständig wollte sie wissen, was ich mache oder wo ich hingehe. Dabei bin ich letzten Monat 17 Jahre alt geworden. Noch ein Jahr bis zur Volljährigkeit, dann bestimme ich selbst über mein Leben. Das waren in etwa meine Gedanken, als meine Mutter mich ansah.

»Ach, nur ein paar Kumpels treffen. Nüscht weiter!«

»Nur ein paar Kumpels treffen? Junge. Der Virus. Denk an die Seuche. Damit ist nicht zu spaßen.«, warnte meine Mutter.

»Ach, det is doch keine Seuche. Det ist ne Pandemie. Haben se doch in den Nachrichten gesagt.«

»Es ist trotzdem gefährlich da draußen.«

Wortlos sah ich meine Mutter an. Sie trat auf mich zu und richtete mein Pullover. Ich senkte meinen Kopf beschämt zu Boden. Ich hasste es, wenn sie sowas tut und das wusste sie auch. Aus dem Wohnzimmer konnte ich das Brüllen meines Stiefvaters hören.

»Nicht so gefährlich, wie zu Hause.«, warf ich ein, konnte meinen Blick aber nicht vom Boden lösen.

»Wie meinst du das denn?«, wollte Mutter wissen.

»Weßt de doch!«, kommentierte ich trotzig.

»Nein weiß ich nicht.«

Obwohl die Stimme meiner Mutter mich eigentlich beruhigen sollte, wühlte sie mich innerlich nur noch mehr auf. Ich fühlte die Wut aufkommen. Ignorierte Mutter mit Absicht, was zu Hause geschah? Aus dem Wohnzimmer schrie mein Stiefvater nun noch lauter. Jemand solle ihm gefälligst sein Bier bringen. Das übliche Verhalten halt.

»Warum lässt de dir dat gefallen?«

»Er hat eine schwierige Phase. Das ist nicht dein Problem, Junge.«, erklärte Mutter mir. Sie war 37. Ich fand sie eigentlich ganz hübsch. Manchmal, da stellte ich mir abends vor ... ich meine ... wenn sie aus der Dusche kam. Sie schien sich in meiner Gegenwart nicht zu schämen, wenn ich sie nackt sehen konnte. Und dann kamen mir diese Gedanken. Einfach so. Ich weiß, es ist nicht richtig, aber was konnte ich dagegen schon machen?

»Er hat doch immer eine schwierige Phase. Sonst würde er dich nicht ständig schikanieren, wenn du ihn kein Schnaps bringst.«

Ich pöbelte meine Mutter aufgebracht an. Sie gab mir eine Ohrfeige, ich wendete meinen Blick von ihr ab und hielt mir die Wange. Normalerweise würde ich meinen Blick jetzt nicht nur abwenden, sondern einfach gehen. Und am Abend für mein Verhalten vielleicht eine weitere Ohrfeige kassieren. Von ihm.

»Du sagst in letzter Zeit oft, ick soll mir ansehen, was Corona aus der Welt macht. Und weißt de wat, Mama? Det ist nicht Corona. Det Problem gab's schon immer in unserer Familie. Er trinkt. Du guckst zu. Er weiß nicht, was er machen soll. Du versuchst das Problem zu ignorieren.«

Ich sah, wie meine Mutter erneut zum Schlag ausholen wollte, doch sie stoppte in der Bewegung. Ihre Gesichtszüge waren starr wie Stein in diesen Moment. Ich konnte eine Träne in ihren Augen sehen. Aus einer Träne wurden mehr, bis sie ihr schließlich über die Wange lief.

»Macht er wieder Ärger?«, hörte ich plötzlich die Stimme meines Stiefvaters, der mittlerweile in die Küche kam. Seine rechte Hand stellte die leere Bierflasche ab, während seine linke Hand langsam zum Gürtel wanderte. »Ich kann das für dich regeln, Emma. Söhne brauchen eine strenge Erziehung. Das weißt du!«

Mir stockte der Atem, als ich sah, wie mein Stiefvater den Gürtel lockerte. Er würde jeden Moment einen Ausraster bekommen und ich würde Schmerzen erleiden, die ich so schnell nicht vergessen würde.

»Nein.«, antwortete Mutter. »Die Corona Krise macht uns alle fertig, Stefan. Er ist nervlich am Ende. Das sehe ich jetzt ein.«

»Wie? Nervlich am Ende? Seit die Schule zu ist, hängt der Bursche doch nur noch zu Hause rum. Spielt den ganzen Tag Computer, sieht Fernsehen und lädt sich Pornos auf sein Smartphone runter.«

»Das war ich nicht!«, rief ich entsetzt und bekam die nächste Klatsche. Dieses Mal warf mich die Ohrfeige zu Boden und ich fühlte, wie meine Wange anschwoll. Mein Körper zitterte, ich bewegte mich langsam auf die Küchentür zu.

»Tue das nicht, Stefan!«, die Stimme meiner Mutter klang jetzt warnend.

»Sonst was?«, wollte Stefan wissen.

»Wir müssen einen Weg finden.«, flehte meine Mutter ihn an. »Sonst verlieren wir alles, was wir haben: unsere Familie. Der Junge hat vielleicht recht. Wir haben Probleme und wir dürfen sie nicht länger verdrängen.«

Ich wagte es nicht, auch nur einen Blick zu riskieren, bis ich die Küchentür erreichte und mich langsam auf die Beine brachte.

»Daran ist nur der Corvid-Virus schuld! Ich verliere vielleicht meinen Job. Was soll ich denn machen?«, herrschte Stefan meine Mutter an.

»Wir sollten reden und gemeinsam eine Lösung finden. Meinen Sohn verprügeln ist jedenfalls keine Lösung. Das siehst du doch ein?«

Ich drehte meinen Kopf kurz um. Stefan sass jetzt am Küchentisch, die Hände ins Gesicht geschlagen. Weinte er etwa? Ich habe ihn noch nie weinen sehen. Stefan wirkte bislang immer so männlich.

»Du kannst gehen.«, flüsterte mir Mutter zu. »Nimm wenigstens ein Halstuch mit und benutze es auch anständig, ja?«

Ich wusste nicht, ob ich sie alleine lassen sollte. Stefan war betrunken und wirkte sehr emotional. Was, wenn er wieder handgreiflich wird?

»Ich regel das mit Stefan schon.«, flüsterte Mutter erneut. Die Tränen liefen ihr jetzt die Wange herunter, wie ein Fluss. »Das ist etwas, was ich mit Stefan regeln muss. Allein.«

Als ich die Küche verließ und mich auf dem Treppenhaus befand, wurde mir plötzlich klar, dass meine Mutter in diesen Moment vor der größten Herausforderung ihres Lebens stand.
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:

Ji Rina

Mitglied
Oh je….Solche Texte kann ich nicht lesen – weil sie mich brechen. Ich finde, Du hast die Situation ganz gut beschrieben. Wie viele Ehen werden wohl während dieser Krise kaputt gehen? Wieviel zugespitzte Situationen? Und immer sind es die Kinder, die alten Menschen, die leidenden und die sich nicht wehren können.

Ein paar Dinge im Text könnte man ändern: 17 (Zahlen ausschreiben); Diesen Satz: Ich pöbelte meine Mutter aufgebracht an: weglassen, denn das liest man ja bereits im Satz zuvor. Und Diesen wichtigen Satz als ersten gelten lassen: Sie gab mir eine Ohrfeige. Dann diesen Satz weglassen: Normalerweise würde ich meinen Blick jetzt nicht nur abwenden; Und bei: Das übliche Verhalten halt (Das halt weglassen)

Der Titel klingt für mich seltsam. Hab auch nicht ganz verstanden, warum der Junge diesen Dialekt spricht – und die Mutter nicht.

Herzlich Willkommen!

Mit Gruss, Ji.
 

Robert Poster

Mitglied
Vielen Dank für dein Feedback. Ich arbeite mal die Punkte ab.

Problem: Ich finde in meinem Beitrag gerade kein Button zum Editieren. Das Board sieht aus, wie ein Woltlab Forum (benutze ich selber). Daher nehme ich an, dass ich zum Bearbeiten eigener Beträge nicht freigeschaltet bin. (Bezieht sich auf die Geschichte, denn diesen Beitrag kann ich bearbeiten.)

Zum Inhalt:

Die von dir erwähnten Sätze könnte man tatsächlich abändern. Das werde ich mir genauer überleben und auch machen, sobald es mir möglich ist.

Der Satz: „Das übliche Verhalten halt“

Den habe ich tatsächlich noch während der Überarbeitung hinzugefügt, weil ich damit provozieren möchte. Und zwar die Leser, die sich gerne Gedanken machen über Charaktere. Ist der Junge hier einfach nur persönlich voreingenommen? Oder folgt er in seiner Meinung sozusagen dem Kliesche „Alle Stiefväter sind so“?

Der Dialekt: Ausprobieren


Über das Warum habe ich mir tatsächlich keine Gedanken gemacht. Es ist eine Kurzgeschichte, da kann man zum Glück ausprobieren und testen. In dem Fall wollte ich mal sehen, ob es möglich ist, in einer Kurzgeschichte einem Charakter einen Dialekt zu geben, um ihn von den anderen Charakteren abzuheben. Und wie weit man dabei gehen kann, sprich, ob es Leser akzeptieren. Ich erlese an der ersten Kritik, dass man sich um das Warum Gedanken machen sollte, weil du, als Leserin, automatisch davon ausgehst, dass der Dialekt des Jungen von der Mutter stammen müsste, obwohl nirgendwo im Text eine Information über den tatsächlichen Vater zu finden ist und es auch keinen Hinweis gibt, wie lange diese Familie zusammenlebt. Im Grunde genommen weitere ragen, die die Geschichte dehnen würde.

Fazit: Für mich diente die Kurzgeschichte zunächst als eine Art Testlauf, Charaktere und Konflikt in der Kurzgeschichte zu testen. Mir gehts auch darum, ob sich diese Art Kurzgeschichte im späteren Verlauf (Monate, Jahre) als Diskussionsgrundlage eigenen würde, wenn man sich an die Corona Krise zurückerinnert. Tatsächlich habe ich mehrere Konflikte wahrgenommen, die in unterschiedlichen Settings spielen und Situation beleuchten, an die wenig Menschen denken. Diese Geschichte ist da mehr eine offensichtlichere Sache, die sich eigentlich jeder vorstellen kann. Die Kurzgeschichte war nicht dazu gedacht, ich zitiere „dich zu brechen“ sondern sollte mehr die Frage beleuchten, ob alle sozialen Probleme, die wir kennen, in diesen Tagen leicht auf das Corona Problem geschoben werden können. Ich denke, dazu kann sich jeder selbst Gedanken machen, was ja auch im Sinne von Kurzgeschichten ist.

Vielen dank für deine Meinung. Es wird mir helfen, mich zu entwickeln. :)
 

Ji Rina

Mitglied
Hallo Robert,

Falls Du in diesem Text etwas ändern möchtest, musst Du ihn kopieren und neu dranhängen. Wenn du dann dem Mod. eine Mail schickst – verschiebt er sie nach oben. Anders gehts (leider) nicht.

Nochmal zu den Anmerkungen:

„Das übliche Verhalten halt“

Den habe ich tatsächlich noch während der Überarbeitung hinzugefügt, weil ich damit provozieren möchte. Und zwar die Leser, die sich gerne Gedanken machen über Charaktere. Ist der Junge hier einfach nur persönlich voreingenommen? Oder folgt er in seiner Meinung sozusagen dem Kliesche „Alle Stiefväter sind so“?


Hier meinte ich nicht den Satz, sondern das wort “halt”, da es meiner Meinung nach nichts aussagt und nur ein Füllwort ist. Übrigens sagt mir dieser Satz (wenn ich mich in den Jungen hineinversetze) dass dies das übliche Verhalten des Stiefvaters ist (da er anscheinend lange von ihm auf diese Art erzogen worden ist).

Der Dialekt
Über das Warum habe ich mir tatsächlich keine Gedanken gemacht. Es ist eine Kurzgeschichte, da kann man zum Glück ausprobieren und testen. In dem Fall wollte ich mal sehen, ob es möglich ist, in einer Kurzgeschichte einem Charakter einen Dialekt zu geben, um ihn von den anderen Charakteren abzuheben. Und wie weit man dabei gehen kann, sprich, ob es Leser akzeptieren. Ich erlese an der ersten Kritik, dass man sich um das Warum Gedanken machen sollte, weil du, als Leserin, automatisch davon ausgehst, dass der Dialekt des Jungen von der Mutter stammen müsste, obwohl nirgendwo im Text eine Information über den tatsächlichen Vater zu finden ist und es auch keinen Hinweis gibt, wie lange diese Familie zusammenlebt. Im Grunde genommen weitere ragen, die die Geschichte dehnen würde.


Also meiner Meinung nach sollte man sich während des Schreibens schon über das eigene Vorhaben genaue Gedanken machen. Sprache im Text ist ja wichtig. Ausprobieren und testen kannst du überall: In einer Kurzgeschichte, in einer Kurzprosa, in einem Gedicht, in einer Erzählung. Den Jungen diese Sprache sprechen zu lassen war für mich ein wenig irritierend, da ich es nirgends zuordnen konnte, woher die Sprache stammt. Wie du sagts: Die Mutter spricht nicht so – der Stiefvater auch nicht. Ein Mittel um einen Charakter herauszuheben – ist es für mich (in diesem Fall) nicht. Um so kompakter, klarer, nachvollziehbarer eine Kurzgeschichte ist – um so besser. Wenn irgendwo eine Frage offenbleibt, die der Leser nicht nachvollziehen kann, bleibt es ein Störfaktor. Aber das ist natürlich nur meine Meinung. Sicherlich gibt es Leser, die gerade diesen Dialekt den der Junge spricht, als etwas besonderes ansehen. Wenn du den Jungen von den anderen abheben wolltest (was meiner Meinung nach hier garnicht nötg ist) dann hätte ich ihn Zum Beispiel, stottern lassen.


Fazit: Für mich diente die Kurzgeschichte zunächst als eine Art Testlauf, Charaktere und Konflikt in der Kurzgeschichte zu testen. Mir gehts auch darum, ob sich diese Art Kurzgeschichte im späteren Verlauf (Monate, Jahre) als Diskussionsgrundlage eigenen würde, wenn man sich an die Corona Krise zurückerinnert. Tatsächlich habe ich mehrere Konflikte wahrgenommen, die in unterschiedlichen Settings spielen und Situation beleuchten, an die wenig Menschen denken. Diese Geschichte ist da mehr eine offensichtlichere Sache, die sich eigentlich jeder vorstellen kann. Die Kurzgeschichte war nicht dazu gedacht, ich zitiere „dich zu brechen“ sondern sollte mehr die Frage beleuchten, ob alle sozialen Probleme, die wir kennen, in diesen Tagen leicht auf das Corona Problem geschoben werden können. Ich denke, dazu kann sich jeder selbst Gedanken machen, was ja auch im Sinne von Kurzgeschichten ist.

Also für meinen Geschmack hast du die Charaktere und die Konflikt-Situation gut beschrieben- Und es ist ja ganz simpel: Jede Krisen-Situation ist eine Herausforderung. Und gerade zu diesen Corona Zeiten hocken die Menschen aufeinander; sie müssen zusammenbleiben ob sie wollen oder nicht und können nicht mal eben zum Kumpel/in die Kneipe/ ins Büro oder sonstwohin flüchten wenn dicke Luft herrscht. Sie sind gezwungen sich auseinanderzusetzen. Genau da kommen viele Konflikte ans Tageslicht, Konflikte die man vorher gut ignorieren, überspielen oder verbergen konnte. Und mittendrin hängen die Kinder. Ich denke daran jeden Tag und deshalb schrieb ich, dass mich diese Gedanken brechen, weil ich dann Bilder im Kopf habe: Kinder die sich nicht wehren können; und ich mit einer inneren Ohnmacht konfrontiert werde.

Vielen dank für deine Meinung. Es wird mir helfen, mich zu entwickeln.

Ich danke Dir, für diesen freundlichen Austausch!

Mit Gruss, Ji
 

Robert Poster

Mitglied
Version 1.1 - Überarbeitet

»Wo willst du denn hin?«

Meine Mutter war zu neugierig! Ständig wollte sie wissen, was ich mache oder wo ich hingehe. Dabei bin ich letzten Monat 17 Jahre alt geworden. Noch ein Jahr bis zur Volljährigkeit, dann bestimme ich selbst über mein Leben. Das waren in etwa meine Gedanken, als meine Mutter mich ansah.

»Ach, nur ein paar Kumpels treffen. Nüscht weiter!«

»Nur ein paar Kumpels treffen? Junge. Der Virus. Denk an die Seuche. Damit ist nicht zu spaßen.«, warnte meine Mutter.

»Ach, det is doch keine Seuche. Det ist ne Pandemie. Haben se doch in den Nachrichten gesagt.«

»Es ist trotzdem gefährlich da draußen.«

Wortlos sah ich meine Mutter an. Sie trat auf mich zu und richtete mein Pullover. Ich senkte meinen Kopf beschämt zu Boden. Ich hasste es, wenn sie sowas tut und das wusste sie auch. Aus dem Wohnzimmer konnte ich das Brüllen meines Stiefvaters hören.

»Nicht so gefährlich, wie zu Hause.«, warf ich ein, konnte meinen Blick aber nicht vom Boden lösen.

»Wie meinst du das denn?«, wollte Mutter wissen.

»Weßt de doch!«, kommentierte ich trotzig.

»Nein weiß ich nicht.«

Obwohl die Stimme meiner Mutter mich eigentlich beruhigen sollte, wühlte sie mich innerlich nur noch mehr auf. Ich fühlte die Wut aufkommen. Ignorierte Mutter mit Absicht, was zu Hause geschah? Aus dem Wohnzimmer schrie mein Stiefvater nun noch lauter. Jemand solle ihm gefälligst sein Bier bringen. Das übliche Verhalten.

»Warum lässt de dir dat gefallen?«

»Er hat eine schwierige Phase. Das ist nicht dein Problem, Junge.«, erklärte Mutter mir. Sie war 37. Ich fand sie eigentlich ganz hübsch. Manchmal, da stellte ich mir abends vor ... ich meine ... wenn sie aus der Dusche kam. Sie schien sich in meiner Gegenwart nicht zu schämen, wenn ich sie nackt sehen konnte. Und dann kamen mir diese Gedanken. Einfach so. Ich weiß, es ist nicht richtig, aber was konnte ich dagegen schon machen?

»Er hat doch immer eine schwierige Phase. Sonst würde er dich nicht ständig schikanieren, wenn du ihn kein Schnaps bringst.«

Sie gab mir eine Ohrfeige, ich wendete meinen Blick von ihr ab und hielt mir die Wange. Normalerweise würde ich ich jetzt einfach gehen. Und am Abend für mein Verhalten vielleicht eine weitere Ohrfeige kassieren. Von ihm.

»Du sagst in letzter Zeit oft, ick soll mir ansehen, was Corona aus der Welt macht. Und weißt de wat, Mama? Det ist nicht Corona. Det Problem gab's schon immer in unserer Familie. Er trinkt. Du guckst zu. Er weiß nicht, was er machen soll. Du versuchst das Problem zu ignorieren.«

Ich sah, wie meine Mutter erneut zum Schlag ausholen wollte, doch sie stoppte in der Bewegung. Ihre Gesichtszüge waren starr wie Stein in diesen Moment. Ich konnte eine Träne in ihren Augen sehen. Aus einer Träne wurden mehr, bis sie ihr schließlich über die Wange lief.

»Macht er wieder Ärger?«, hörte ich plötzlich die Stimme meines Stiefvaters, der mittlerweile in die Küche kam. Seine rechte Hand stellte die leere Bierflasche ab, während seine linke Hand langsam zum Gürtel wanderte. »Ich kann das für dich regeln, Emma. Söhne brauchen eine strenge Erziehung. Das weißt du!«

Mir stockte der Atem, als ich sah, wie mein Stiefvater den Gürtel lockerte. Warum sind wir bloß mit Stefan zusammengezogen? Die letzten 4 Jahre mit ihm waren keineswegs besser, als die Jahre zuvor. Er würde jeden Moment einen Ausraster bekommen und ich würde Schmerzen erleiden, die ich so schnell nicht vergessen würde. In dieser Sekunde erinnerte ich mich an meinem sächsischen Vater.

»Nein.«, antwortete Mutter. »Die Corona Krise macht uns alle fertig, Stefan. Er ist nervlich am Ende. Das sehe ich jetzt ein.«

»Wie? Nervlich am Ende? Seit die Schule zu ist, hängt der Bursche doch nur noch zu Hause rum. Spielt den ganzen Tag Computer, sieht Fernsehen und lädt sich Pornos auf sein Smartphone runter.«

»Das war ich nicht!«, rief ich entsetzt und bekam die nächste Klatsche. Dieses Mal warf mich die Ohrfeige zu Boden und ich fühlte, wie meine Wange anschwoll. Mein Körper zitterte, ich bewegte mich langsam auf die Küchentür zu.

»Tue das nicht, Stefan!«, die Stimme meiner Mutter klang jetzt warnend.

»Sonst was?«, wollte Stefan wissen.

»Wir müssen einen Weg finden.«, flehte meine Mutter ihn an. »Sonst verlieren wir alles, was wir haben: unsere Familie. Der Junge hat vielleicht recht. Wir haben Probleme und wir dürfen sie nicht länger verdrängen.«

Ich wagte es nicht, auch nur einen Blick zu riskieren, bis ich die Küchentür erreichte und mich langsam auf die Beine brachte.

»Daran ist nur der Corvid-Virus schuld! Ich verliere vielleicht meinen Job. Was soll ich denn machen?«, herrschte Stefan meine Mutter an.

»Wir sollten reden und gemeinsam eine Lösung finden. Meinen Sohn verprügeln ist jedenfalls keine Lösung. Das siehst du doch ein?«

Ich drehte meinen Kopf kurz um. Stefan sass jetzt am Küchentisch, die Hände ins Gesicht geschlagen. Weinte er etwa? Ich habe ihn noch nie weinen sehen. Stefan wirkte bislang immer so männlich.

»Du kannst gehen.«, flüsterte mir Mutter zu. »Nimm wenigstens ein Halstuch mit und benutze es auch anständig, ja?«

Ich wusste nicht, ob ich sie alleine lassen sollte. Stefan war betrunken und wirkte sehr emotional. Was, wenn er wieder handgreiflich wird?

»Ich regel das mit Stefan schon.«, flüsterte Mutter erneut. Die Tränen liefen ihr jetzt die Wange herunter, wie ein Fluss. »Das ist etwas, was ich mit Stefan regeln muss. Allein.«

Als ich die Küche verließ und mich auf dem Treppenhaus befand, wurde mir plötzlich klar, dass meine Mutter in diesen Moment vor der größten Herausforderung ihres Lebens stand.
 



 
Oben Unten