Das Fallen der Dominosteine

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rubber sole

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Die Umrisse des Zimmers verschwammen. Die Geräusche der lebenserhaltenden Geräte, die ein verhaltenes, rhythmisches Geräusch verbreiteten, wurden leiser. Selbst die stützende Funktion der Bettunterlage unter ihm schwächte sich ab. Der Physiker Lorentz Berger hatte das Gefühl, sich auf einer sanft zurückrollenden Welle in Richtung Meer zu befinden. Er erlebte eine vorher nie empfundene Befindlichkeit, schwerelos in einer Art Halle schwebend, in der sein Blick im diffusen Licht keinen Anhaltspunkt hatte. Es handelte sich jedoch nicht um einen geschlossenen Raum – dafür fehlten Dach und Wände. Er sah auf eine große Fläche, auf der er eine unendliche Zahl von aufgereihten Dominosteinen bemerkte. Diese wirkten wie schwarz glänzende Versatzstücke, wohlgeordnet und von hellen Linien durchzogen. Sie standen in exakter Formation aufrecht nebeneinander, als würden sie auf ein Zeichen warten - und dann fiel der erste Stein.

In Lorentz' Gedächtnis erschien das Gesicht eines Jungen, der mit einem Schraubendreher in der Hand auf ein sorgfältig zerlegtes Radio blickte - das Resultat seiner frühen Neugier. Das Geräusch der Steine wurde schneller und synchronisierte sich mit seinem Herzschlag. Weitere Steine fielen, sie neigten sich in einem gleichmäßigen Rhythmus. Dann sah er sich als jungen Erwachsenen in einem Hörsaal, hinter seiner Stirn war die angestrengte Konzentration zu erahnen; sein ehrgeiziger Vortrag, gestützt auf ausformulierte Daten, floss in Richtung Publikum. Er genoss es: die Aura der Rednerbühne, das dezente Lichtspiel und die Anerkennung durch den Beifall nach seinem ersten öffentlichen Auftritt. Dann fielen die Steine schneller, die Abstände zwischen ihnen waren kaum zu erkennen.

Der junge Wissenschaftler fand sich in einem Durcheinander aus Glanz und Anstrengung wieder. Er kämpfte sich durch schlaflose Nächte, an verschiedenen Orten, immer in Räumen voller Zuhörer. Und es entstand ein langsamerer Rhythmus, als ob die Steinreihe eine Atempause einlegte. Dann bemerkte er in der Reihe einen Stein, der heller war als alle anderen - dieser blieb stehen, als wolle er nicht umfallen. Lorentz kam näher. Und er blickte auf die See: Der Cookinseln-Archipel in einem blauen Meer, das wie eine Unendlichkeit wirkte. Und dort am Ufer sah er sie: Eine junge einheimische Frau barfuß im Sand, ihre Haare schimmerten im Sonnenlicht und ihre Augen leuchteten. Der Name Anahera war ihm vertraut. Und er vernahm ihr Lachen deutlich, das im sanften Wind klang wie leises Aneinanderschlagen von Muschelschalen. In dieser Umgebung hatte die Zeit einen anderen Rhythmus.

Die junge Frau streckte ihm ihre Hand entgegen, und ihm wurde klar: Dies war kein Traum, es war eine konkrete Erinnerung an eine glückliche Zeit. Dann wurde er abgelenkt, er blickte auf einen Brief, den er in den Händen hielt: ein leichtes, für ihn aber schweres Stück Papier. Ein helles Blatt, der Inhalt wie aus schwerem Stein: Ein verlockender Aufruf, in die alte Heimat zurückzukehren, zu wissenschaftlicher Anerkennung und Ruhm - den Ruf auf eine Bühne, die wie für ihn gemacht war. Seine Finger schlossen sich, zunächst zögerlich, und dann entschieden, um das beigelegte Flugticket. Und dann fiel auch dieser Stein. Die nachfolgende Reihe zog ihn mit sich fort – in ein Leben voller Anerkennung, Forschung, Vorträge und Applaus im strahlenden Licht der Öffentlichkeit. Und auch das Private fand in diesem Leben statt: Die Ehe mit einer Kollegin, anfänglich voller Verlangen und Zuneigung, die später in Routine und Kälte umschlugen. Die Aura dieser Verbindung löste sich allmählich auf wie ein Dunstschleier, und das Licht, welches vorher so beglückend gestrahlt hatte, blendete nur noch.

Und immer weiter fielen die Steine, immer schneller, bis er sie kaum noch auseinanderhalten konnte. Er bäumte sich auf, wollte die fallende Reihe anhalten, und sah das, was eigentlich unmöglich war: Der Weg teilte sich, und es eröffneten sich zwei Optionen, die zu zwei verschiedenen Lebenswegen führten. Auf dem einen: Sein berufliches Leben - voller Glanz und Bedeutung, aber auch mit Belastungen verbunden. Die andere Möglichkeit - ein leuchtend farbenfroher Weg. Dort lagen die Steine lockerer und weiter auseinander, als ob sie kein Gewicht hätten, sondern Spielzeug sorgloser Menschen wären. Lorentz vernahm unbeschwertes Lachen und empathische Stimmen. Er trat einen Schritt näher an die Reihe heran. Und dort stand sie, Anahera, mit einladend ausgestreckten Armen, eingebettet in ein zeitloses Flair. Und er folgte ihrer Einladung, seiner Sehnsucht.

Jetzt verschwammen die Bilder. Hat er sich in einem Sterbenstraum der Täuschung hingegeben? Handelte es sich um ein finales Aufbäumen seiner Wahrnehmungen? Oder war es die Wahrheit, die ihn weiterzog? Die Dominosteine verwischten nach und nach, sie zerfielen. Er nahm einen tiefen Atemzug. Die Geräusche der Geräte neben seinem Bett verstummten. Jede scharfe Kontur verschwand. Er ging barfuß auf das Meer zu.
 
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Shallow

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Hallo @rubber sole,

mein Eindruck beim ersten Lesen: Sauber geschrieben, liest sich flüssig, schreiben kannst du, keine Frage! Ein alter Mann auf dem Sterbebett mit dem Rückblick auf sein Leben und den Alternativen, die es gab.

Er fühlte sich in diesem Zustand aufgrund seiner unterschwelligen Wahrnehmung in einer unbekannten Sphäre,

Bisschen dick aufgetragen, die unterschwellige Wahrnehmung und die unbekannte Sphäre, bin nicht sicher, ob das an dieser Stelle nötig ist, oder es etwas nüchterner dieselbe Wirkung bringen könnte.

In Lorentz' Gedächtnis erschien das Gesicht eines Jungen, der mit einem Schraubendreher in der Hand auf ein sorgfältig zerlegtes Radio blickte - das Resultat seiner frühen Neugier.

Hier erklärst du dem Leser, was du nicht erzählst, oder? Vielleicht könnte man einen Satz ergänzen, damit sich das aus der Erzählung ergibt und den Nachsatz weglassen?

Dann kommt das Zeigen der beiden Alternativen: Auf der einen Seite der schnöde Mammon und die Anerkennung, und auf der anderen Seite:

Eine junge einheimische Frau barfuß im Sand, ihre Haare schimmerten im Sonnenlicht und ihre Augen leuchteten. Der Name Anahera war ihm vertraut. Und er vernahm ihr Lachen deutlich, das im sanften Wind klang wie leises Aneinanderschlagen von Muschelschalen

Also dit is jetzt mal, naja, aus meiner Sicht richtig ordentlich in den Kitsch gegriffen. Auch wenn es sich um einen Engel handelt. Aber die Muschelschalen haben was.

Und dort stand sie, Anahera, mit einladend ausgestreckten Armen, eingebettet in ein zeitloses Flair. Und er folgte ihrer Einladung, seiner Sehnsucht.

Na gut, dann würde ich auch auf den Mammon verzichten. Trotzdem gut geschrieben und gern gelesen, schönen Gruß von

Shallow
 
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rubber sole

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@Matula:

Ja, das stimmt, Matula, ein Hauch von Viele-Welten-Theorie ist hier andeutungsweise zu erkennen. Ich möchte das Konstrukt der Geschichte aber nicht philosophisch erhöht wissen und dabei unterschiedliche Universen definieren. Die Draufsicht auf multilaterale Nahtodvisionen soll hier leicht und spielerisch bleiben. Danke für deinen Beitrag und das Rating.

Gruß von rubber sole
 
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rubber sole

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@Shallow:

Es freut mich, dass dich meine Art zu schreiben anspricht, Shallow. Inhaltlich birgt eine Geschichte wie 'Das Fallen der Dominosteine ' die Gefahr, einen solchen Text zu blumig zu gestalten, vor allem, wenn es um schwer zu deutende Wunschträume und Sphären geht – Stereotype geraten da leicht hinein, und die Grenze zum Kitsch ist auch nah. Deine Verbesserungsvorschläge habe ich aufgenommen und den Text in Teilen 'entschärft'- um die unbekannte Sphäre herum. Danke für dein Interesse und die Anregungen.

Gruß von rubber sole
 



 
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