Das Gespräch und das Leben

TaugeniX

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Petr Lwowitsch trat ins Zimmer, wo sich hinter verschlossenen Fensterläden im Dunklen sein Herzenskind gleich einem verletzten Tier, das sich zum Sterben in eine Höhle verkriecht, vor der ganzen Welt versteckte. „Maschenjka“, sprach er sie leise an, „Kind, lass mich dein liebes Gesicht ansehen, das ich so vermisst habe, lass mich ein wenig Licht machen hier.“ Sie sprang fast von ihrem Bett als sie die Stimme ihres alten Herrn hörte und streckte ihm die Arme lebhaft entgegen. Doch sogleich sie nahm sich zurück, drehte sich weg und presste das Kinn trotzig zur Brust. „Ich will aber kein Licht. An mir ist alles kaputt, alles haben sie kaputt gemacht und ich bin nicht mehr schön anzusehen. Also will ich im Dunklen sitzen und allein sein.“ Petr Lwowitsch setzte sich auf die Bettkante und berührte zärtlich ihr Gesicht. „Meine Hände sehen genug, mein Liebes, dass ich weiß wie hübsch und schön du bist auch nach deinem Leide.“ „Es ist doch gar nicht weg, mein Leid. Tag ein und Tag aus ist es da.“

„Und warum verharrt mein Mädchen im Leiden so lange über den Wundschmerz hinaus? Du musst immer nur zurückdenken, immer das Gleiche, nicht wahr? Diese Gedanken kreisen über das erlebte Übel wie Aasgeier und halten dein Seelchen in ihren Krallen fest, dass es sich nicht davon lösen kann. Wenn wir aber diese Gedanken ganz und gar gerade und zu Ende denken, bleibt ihnen kein Kreisen mehr, sie lassen aus und deine Seele wird wieder frei und wird von selbst zur Ruhe finden und zur Freude, „als flöge sie nach Haus“, mein Kind.“
„Ich habe aber Angst. Ich sitze hier im Dunklen und leide und bin es schon gewohnt, und meine Gedanken, die kreisen, bin ich gewohnt. Wenn wir aber gerade und bis zum Ende denken, was ist danach?“

Da erinnerte sich Petr Lwowjitsch schaudernd an „Phaidon“, seine letzte Lektüre, wo Sokrates selbst, der weise wahrheitsmutige Sokrates der Gleichzeitigkeit von Lust und Schmerz, diesem Paradoxon der menschlichen Empfindung, nicht beikommen konnte und kleinselig in absichtliche Ungenauigkeiten auswich. „Ach, was habe ich dem Kind bloß versprochen! Wie sollen wir ein Ding zu Ende denken, an dem so große Geister gescheitert sind und einen Umweg nahmen?“ Doch er schüttelte heftig den Kopf um seiner Zweifel wie lästiger Mücken loszuwerden und beschloss auf die Ehrlichkeit und Einfachheit zu vertrauen. „Die gedanklichen Widersprüche, die vor dem weisen Sokrates wie Abgründe klafften, werden uns gar nicht sichtbar. Vielleicht gelangen wir drüber hinweg zu einer Wahrheit, mit der mein Mädchen glücklich leben kann. Hat doch der Herr nicht umsonst den Kleinen offenbart, was den Weisen verborgen blieb.

Zu Maschenjka sagte er aber mit heiterer Stimme: „Fürchte dich nicht vor Wahrheit, Liebes, denn wenn wir Klarheit schaffen und einen reinen Tisch über dein Unglück und seine Gründe, kommt danach einfach ein Weiterleben für dich. Das Leben wird dich einholen und die Vergangenheit wird endlich vergehen. Es wird wohl nicht mehr so sein wie früher, aber es heißt nicht, dass es übler sein wird. Setz dich auf und reiche mir die Hände, damit ich dich aufstützen kann und hinausführen in die helle Stube. Wir wollen darüber reden, wie es dazu kam, dass ein unschuldiges zartes Weib aus freien Stücken die Strafe auf sich nahm, die einer ganzen Meute Räuber galt.

Vasilij sah sein Weib erstaunt und beglückt an, als sie auf die Schulter von Petr Lwowjitsch gestützt in die Stube reinkam, doch die Eifersucht gab ihm einen kleinen schmerzlichen Stich, denn es ist dem Greis in einer knappen Stunde gelungen, was der junge Mann in langen Wochen nicht erreichen konnte. „Nun, gehe und umarme deinen Mann“, sagte der alte Herr, da er diese Eifersucht verstand, „zu ihm sollst du halten, wie du es vor dem Pfaffen versprochen hast, in guten und in schlechten Tagen.“ Er schubste sie leicht von sich weg und übergab sie Vasilij, der sie wie ein kleines Mädchen auf seinen Schoss setzte.

„Erinnere dich, Maschenjka, an deine erste Züchtigung, die du bei mir gelitten und genossen hast. Du bist zu mir gekommen, weil Du schuldig warst, aber auch weil du die Auspeitschung gesehen hast, und sie hat dich geängstigt und gelockt zugleich, nicht wahr?“

„Gar nicht geängstigt, Väterchen! Gleich wollte ich die Strafe haben, als ich sie sah, bald hätte ich mich dem Mann auf den Rücken geworfen um seine Schläge aufzufangen.“
„Also ging es dir nicht erst um dein schlechtes Gewissen und Sühne, sondern um das Erleben der Strafe, eigentlich aber um das Erleben von Rutenstreichen. Siehe zu, Maschenjka, stelle dir vor, ich hätte dich damals einen stinkenden Hühnerstall ausmisten lassen zur Buße, sage mir ehrlich und schonungslos, wie wir es beschlossen haben zu sein, ob du ähnliches Glück empfunden hättest.“

„Sie sehen mir ins Herz, Väterchen, sodass mir nichts übrig bleibt als schonungslos zu sein. Genauso war es: ich wollte nur bestraft werden mit der Strafe, die ich mir wünschte, schmerzhaft, aber genau so wie ich es haben wollte.“
“Du wolltest also nicht, dass es dir übel ergehe unter den Ruten! Und es ist gut und recht so. Wenn du dir selber Böses wünschtest, müßte man dich für irre halten. Doch eine echte Strafe muss ein Übel mit Übel vergelten, - Auge für Auge. Kann man es denn noch mit Recht als Strafe bezeichnen, was du bei mir gesucht hast?“

„Wie Sie es deuten, Väterchen, was es wohl keine echte Strafe. Aber was war es dann?“

Vasilij, der bis dahin schweigend zuhörte, sah sie beide mit aufgerissenen ungläubigen Augen an. „Was sollen denn die Schläge anderes sein als Strafe? Ich hab es am eigenen Leib erfahren: mein Vater sparte nicht mit der Rute als ich ein kleiner Junge war und unser Verwalter auch nicht, als ich erwachsen wurde. Es tut fürchterlich weh und elend zumute ist einem danach. Kein Mensch auf Gottes Erden kann sich das wünschen, auch mein armes Weib nicht.“

„Doch sie wünscht es sich sehnlichst“, erwiderte Petr Lwowjitsch, „und ach, so unähnlich bist du, Vasilij, Deinem Weib nicht, wie Du es glaubst! Überlege: zum Fest der Jesu Taufe springt ihr, junge Männer, in ein Eisloch und da mischt sich das selige Lachen zu spitzen Schreien, die euch der Kälteschmerz abzwingt. Und zur frommen Absicht, sich die Sünden reinzuwaschen im Eisbade mischt sich der seltsame Schmerzgenuss.“

„Das kann man doch nicht gleichstellen!“ Verteidigte sich Vasilij. „Wir springen ja selber um uns tapfer und standhaft zu zeigen und, weil man sich danach wie neugeboren fühlt, - so rein und glücklich, als hätte man allen Kummer und Sünde im tiefen Wasser gelassen. Wie kann man es mit jemandem vergleichen, der verprügelt wird?“
Maschenjka warf den Kopf in den Nacken und schaute zu ihrem Gatten hinauf. „Ich fühlte mich aber auch wie neugeboren, als mir unser Väterchen die Ruten gab.“ Meinte sie schüchtern.

„So ist es, Vasilij“, griff Petr Lwowitsch ein, „siehe, auch sie will sich reinigen und einen Neuanfang haben für die Seele. - Aber was ihr, starke Männer, euch im Übermut und mit strotzender Kraft selber nehmt, muss sie ihrer Natur entsprechend in weiblicher Demut empfangen. Und es ist die Sache vom Mann an ihrer Seite, ob Vater, Ehegatte oder Beichtiger, ihr zu geben, was sie dafür braucht. Du willst doch nicht, dass sie mit euch ins Eisloch springt! Und da sind wir so weit, dass es klar wird, es gehe dabei nicht um Bestrafung von Vergehen. Nicht mal um Buße für konkrete Sünden. Es ist ganz allgemeine Bedürftigkeit der menschlichen Seele, sich den einen oder anderen Schmerz als Reinigungsbad zu nehmen.“

„Und ihre Seele, Väterchen, was braucht sie?“ Fragte Maschenjka, erschrak sogleich über ihre unstatthafte Frage und wurde rot vor Scham, ihre Augen aber blieben scharf und neugierig unter gesenkten Wimpern.

„Ich? Nun, ich habe es nicht so mit meinem Körper.“ Petr Lwowjitsch fühlte sich erwischt und ein wenig bloßgestellt. „Ich bin ein Greis. Doch auch als ich jung war, lebte ich eher in den Büchern, die ich las. Meine Seele reinigt sich, wenn ich über ein Buch oder ein Musikstück weine.“ Petr Lwowjitsch hielt an und gedachte seines Versprechens ehrlich und schonungslos zu sein. Er atmete tief durch und setzte fort. „Und wenn ich dir, mein Seelenkind, die Schläge gab, konnte ich deinen Schmerz und dein Glück so mitfühlen, als wären es meine eigenen. Du hast mir deinen Körper geliehen, deinen unschuldigen tapferen Körper, damit sich meine alte Seele reinigen kann. Dafür liebe ich dich auch mehr als meine eigenen Söhne, dafür fühle ich mich dir auch so innig verwand, wie keine Blutsverwandtschaft es vermag.“ Petr Lwowjitsch dachte plötzlich daran, dass er gerade die aristotelische Katharsis in einfachste Worte und eigene Erfahrung gedeutet hat.

„Und wird sie es immer brauchen?“ Fragte Vasilij.
„Wir wissen es nicht“, - mußte Petr Lwowjitsch eingestehen. „Maschenjka ist so beschaffen, dass sie das Fehlen dieses Reinigungsrituals viel schmerzhafter empfindet als wir alle. Wir haben ja gesehen, wie weit sie die Verzweiflung treiben kann: wie ein Schiffbrüchiger, der vom Durst die Besinnung verliert und das salzige tödliche Meereswasser trinkt, so nahm unser armes Mädchen eine Exekution, die für eine Räuberbande zugedacht war, weil ihr niemand ihre Rutenstreiche geben wollte. Und es ist ihr übel ergangen. Ob sie nun mehr Angst vor Schlägen hat, als ihr Hunger danach ist?“ Petr Lwowjitsch schaute Maschenjka fragend an.
Sie seufzte, dachte nach, klammerte sich schutzsuchend am mächtigen Arm ihres Gatten. „Aber nur ganz leicht“, flüsterte sie, „nicht wie diese…“ ihr Gesicht verzerrte sich plötzlich in eine ängstliche Grimasse, man sah förmlich, wie die schreckliche Erinnerung über sie herfiel.

„Oh, es wird nicht einfach“, dachte Petr Lwowjitsch, „wer weiß, ob wir jemals diese Erinnerung für immer loswerden können. Wohl nicht, wohl wird sie ein Teil von ihr.“ Dann dachte er darüber nach, wie er die zartesten Spitzen der Weidenzweige schneiden wird um ihr die erste Züchtigung sanfter zu geben als ein Federstreich. Er fragte Vasilij feierlich um Erlaubnis sein Weib als Seelenkind bei sich für moralisches Gespräch und körperliche Züchtigung zu empfangen. Ohne viel Verständnis und mit einem nachsichtigen Lächeln gab Vasilij in gleich feierlichen Worten sein Einverständnis. Im Grunde war er nur froh, dass sein Weib wieder Lebenszeichen von sich gab und spielte das harmlose Ritual gerne mit.

Als es Nacht wurde, nahm Vasilij sein Weib, das langsam und mit ungelenken Schritten wie nach einer langen Krankheit durch die Zimmer ging und ein wenig am vernachlässigten Haushalt nestelte, auf die Arme und trug sie ins Bett. Zum ersten Mal seit vielen Monaten spürte er, wie sie seine Umarmung annimmt, er spürte auch ihre Lippen an seinem Hals und Ohren. Eine ganze ganz alte, tief verschüttete Erinnerung kam auf die Oberfläche seiner Sinne: als winziges Kind lag er bäuchlings am warmen Schoss seiner Mutter, ihre Schürze roch nach Äpfeln und Brot; ihre haltende schützende Hand um seinen Rücken war stark und ihre strafende Hand an seinem Podex ganz zart. Es gab also auch in seinem Leben eine Züchtigung, die sich wie Zärtlichkeit anfühlte. „Ich habe keine Ruten“, meinte er lachend, „aber damit du nicht ins Eisloch springen mußt mit den Männern oder noch seltsamere Dinge unternimmst, du unvernünftiges Weib, gebe ich dir selbst ein Schmerzbad, bevor wir uns lieben.“ Er zog sie aus, legte sie sich über die Knie und gab seinen linken Arm fest haltend und schützend über ihren Rücken.
 



 
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