Das Haus im Wald

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Steppenwolf

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Achtung, Horror. Es folgen brutale und verstörende Szenen...

Sie sah zu ihrem Bruder hinüber. Der Kleine kauerte in der Ecke des rostigen Käfigs und presste sein Gesicht gegen die Knie. Seine Hose war nass von Schweiß und Urin. Wut stieg in ihr auf. Es war eine Wut, so stark und vernichtend, dass sie dabei fast ihre eigene Todesangst vergaß. Sie würde der Alten nicht die Genugtuung schenken, um ihr Leben zu betteln, wie Hänsel es bereits wimmernd getan hatte. Wenn sich die Gelegenheit bot, würde Sie alle verbliebenen Kräfte in ihrem malträtierten Körper aktivieren und der Alten das Leben aus der stinkenden Kehle quetschen. Sie sollte genauso leiden, wie es das kleine Mädchen getan hatte.
Marie war das dritte Kind, welches seit etwa einer Woche mit ihnen in dieser modrigen Stube gefangen und gequält wurde. Die zwei Geschwister hatten entsetzt mitansehen müssen, wie die bucklige Frau dem angeketteten Mädchen mit einer langen Klinge den Unterschenkel abschnitt. Dann hatte sie diesen vor den Augen aller im Ofen gegart die Kinder wurden Zeugen, wie Sie ihn ass. Marie lag seitdem reglos in der Ecke und Gretel zweifelte nicht mehr daran, dass sie tot war. Das Schlimmste an dem grausamen Akt waren für Gretel nicht die markerschütternden Schreie des Kindes nach ihrer Mutter gewesen oder das rasselnde Lachen der Alten. Das Schlimmste war der Geruch des schmorenden Unterschenkels, der aus dem zischenden Ofen drang. Seitdem schämte Sie sich wegen des Gefühls, welches sie beim Geruch des zischenden Kinderschenkels überkam: Hunger. Ja, ihr war das Wasser im Mund zusammengelaufen und als sie dem gewahr wurde, hatte sie sich erbrochen. Vielmehr als eine kleine Pfütze Magensaft hatte ihr halb verhungerter Leib dabei nicht hervorgebracht. Nein, diese Scham nagte mehr an ihr als die Angst um ihr Leben oder das ihres kleinen Bruders.

Die Holztür der Hütte knarrte und ließ Hänsel erschrocken hochfahren. Sogleich verfiel er in eine hastige Kurzatmigkeit. Die Alte trug ein Bündel Holz in der einen und ein schwarzes Etwas in der anderen Hand. Sie ließ das Holz vor den Ofen fallen und hievte das schwarze Ding auf den Tisch.
Es schien ein Dachs oder eine große Bisamratte zu sein, die ihr in eine der Fallen getappt sein musste. Mit stumpfen Hieben begann sie, das Tier aufzubrechen. An der Klinge hing noch das Blut von Marie. Hänsel versuchte vergeblich, seine Schnappatmung zu unterdrücken. Viel mehr Grausamkeit, Blut und Angst würde sein kleines Herz nicht vertragen, bevor es zerriss, da war sich Gretel sicher. Er war bereits hundertfach mutiger gewesen, als es seiner ängstlichen Natur entsprach. Sie selbst hatte eine Welt des Schreckens und der Angst betreten, die Sie niemals für existent gehalten hatte.
Doch jetzt war etwas anders. Im Gegensatz zu Hänsel war sie nun völlig ruhig. Sie verspürte zwar ein Zittern, jedoch kam es nicht von der Angst, sondern von einem bedingungslosen Hass gegen diese hässliche, von Grund auf böse Kreatur, die ihnen dieses Leid antat. Diesmal hatte die Alte einen Fehler gemacht. Gretel hatte geduldig gewartet, wie eine Jägerin, die im Dickicht am Waldesrand auf Ihre Beute lauerte, die Waffe entsichert, die Sinne geschärft.
Der Bolzen der rostigen Käfigtür war nach der letzten Peinigung Gretels durch die Alte mit dem typischen Klicken in seine Endposition gefahren. Jedoch hatte die kurzsichtige Schlampe ihn nicht richtig arretiert. Mit einem Holzspann hatte Gretel den Schließmechanismus von innen blockieren können. Die Stalltür zuhause hatte denselben Verschluss und nachdem Gretel zum dritten Mal von den beiden Nachbarsbrüdern Till und Siggi dort eingesperrt worden war, hatte sie herausgefunden, wie man die Verriegelung überlisten konnte. War ihr hämisches Gelächter verstummt, hatte Gretel den Bolzen mit einem geschickten Griff gegen die Federkraft zurückgeschoben und war pfeifend durch die Stalltür hinausspaziert. Nun biss sie sich auf die Unterlippe. Das hier wird kein Spaziergang.

Die Alte schien mit der Arbeit an dem Nagetier zufrieden zu sein. Sie legte die Klinge beiseite und wischte ihre blutigen Pfoten am zerfetzten Kittel ab. Nun schlurfte sie zum Ofen und gab dabei ein schmatzendes, widerwärtiges Geräusch von sich. An der Ofentür angekommen öffnete sie diese. Sie bückte sich nach dem Holzbündel und warf ein paar Scheite in die Glut. Ihre rechte Hand suchte den großen Schürhaken neben dem Ofen. Verwundert sah die Alte auf und erwachte urplötzlich aus ihrer geschäftigen Routine.
Sie hatte ins Leere gegriffen. Sofort straffte sich ihr schäbiger Buckel und sie wirbelte herum. Mit tiefem Entsetzten starrte Sie in den offenen Stahlkäfig. Das Mädchen war fort. Sie sah zum zweiten Käfig hinüber und erblickte den Jungen, der in der Ecke saß und verblüfft zu ihr hinübersah. Sie fing seinen Blick auf und merkte rasch, dass er nicht sie anstarrte, sondern auf etwas blickte, das hinter hier zu sein schien.
Zu spät. Der Schürhaken rauschte an ihrem Kopf vorbei, um gleich wieder nach hinten zu schnellen. Die Spitze fuhr ihr in den schrumpeligen Hals und riss die Schänderin nach hinten. Statt eines Schreis kam ein ersticktes Gurgeln aus der fauligen Kehle. Die Angreiferin kannte kein Zögern mehr und keine Gnade. Ein weiterer Ruck am Haken riss ihre Beute vollends zu Boden, wobei deren Kopf hart aufschlug. Benommen vernahm die Alte ein bekanntes Scharren über sich. Panisch streckte sie den Kopf nach hinten, um mehr zu sehen. Schon trat ihr ein Fuß auf die Stirn und riss ihren Kopf schmerzhaft in den Nacken. Entsetzt sah sie zu, wie die Schaufel aus dem Ofen kam und sogleich ein Berg lodernder Glut auf sie niederging. Der Schmerz, den die Glut im Gesicht und im aufgerissenen Rachen hervorrief, ließ sie fast ohnmächtig werden.
Hänsel war aufgesprungen und sah, halb triumphierend, halb fassungslos, wie seine Schwester der bösen Frau eine Portion Glut nach der anderen auf den Kopf schaufelte. Die Alte wand sich zwar wie ein Aal, doch Gretel schien von einer Kraft und Kaltblütigkeit durchströmt zu werden, die keinen Widerstand duldete. Dann wurde der Körper am Boden ganz ruhig. Gretel warf die Schaufel zur Seite und schritt auf Hänsel zu. Sie öffnete den Käfig, drehte sich um und ging zurück zum Ofen. „Nimm ihre Beine, sofort." Hänsel gehorchte ohne Zögern. Er wollte die Hexe brennen sehen. Also schob er gemeinsam mit seiner Schwester die stöhnende Alte mit aller Kraft in die glühende Ofenöffnung. Gretel schloss die Tür und öffnete den Sehschlitz. Ihr Seitenblick auf Hänsel war unmissverständlich. Er sollte zusehen. Und er wollte es. Die Alte kam zu sich und schien trotz ihrer verkohlten Augäpfel zu erkennen, wo sie war und was nun mit ihr geschah. Sie schrie auf, als Gretel den Kamin öffneten und die Flammen emporstießen. Hänsel sah zu und wusste in diesem Moment, dass seine Kindheit nun für immer vorbei war.

***

Erst Jahre später erkannte Hänsel, dass nur diese Tat ihm geholfen hatte, nicht an dem Geschehenen zu zerbrechen. Seine Schwester dagegen war rastlos geworden, war oft tagelang umhergestreift und hatte sich letztlich aufgemacht, in die Ferne zu ziehen. Hänsel wusste, dass ihr Durst nach Rache noch nicht gestillt war. Gretel hatte Bücher um Bücher gewälzt und herausgefunden, dass die Alte nicht die Einzige ihrer Art gewesen war. Gretel würde erst ruhen, wenn sie auch die letzte Schänderin aufgespürt und ihrem unausweichlichen Schicksal übergeben hatte: den Flammen.
 

Schreibfan

Mitglied
Großartig. Eine tolle Interpretation des klassischen Märchens. Mir gefällt der "real Talk" hier. Märchen sind nicht schön, sondern grausam.
Aber Gretel ist eine der wenigen Frauenfiguren in den von Jacob und Wilhelm Grimm gesammelten Märchen, die kompetent und von Männern unabhängig agieren. Und das ist hier detailreich dargestellt.

LG Schreibfan
 

Hans Dotterich

Mitglied
Boah, was für ein Text! Hänsel und Gretel, das Grimmsche Märchen als dunkle Vision von Erniedrigung, Wut und Rausch, in klare Worte gefasst. Ich bin begeistert. Es gibt nichts hinzuzufügen.

Hans
 



 
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