Das Interview

Max Neumann

Mitglied
„Die schlimmsten Feinde eines Menschen können ihm nicht wünschen, was er sich selber ausdenkt.“
– Volksweisheit


"The only thing that burns in hell is the part of you that won't let go of your life.
Your memories, your attachments, they burn 'em all away. But they're not punishing you, they're freeing yourself.
Relax."

Zitat aus dem Film Jacob's Ladder.



Zwei Männer in einem Kopierraum. Sie sitzen auf Drehstühlen aus schwarzem Leder zwischen Kopiergeräten und Scannern, ihre Namen sind Isaac Weis und Goran Flupp. Die Männer sind von unterschiedlichem Alter, Isaac ist ungefähr fünfundvierzig, Goran um die dreißig Jahre alt.

Isaac ist auffällig gepflegt, muskulös, grauschwarze Haare fallen gewellt auf die Schultern, über zwei Meter groß, stämmiges Kreuz. Jeans, schwarzweiße Turnschuhe, weißes Rippchenoberteil.

Goran ist kleinwüchsig und dünn; er sieht unter einer Brille aus wachen Augen hervor. Pupillen bewegen sich schnell, er erscheint aufgeschlossen und ungeduldig. Goran ist mit einem ockergelben Pullover, einer grauen Stoffhose und mintgrünen Schuhen bekleidet. Über seiner Oberlippe steckt ein goldfarbenes Medusa-Piercing.

Herzlich Willkommen zum Interview, Isaac. Hattest Du eine gute Anreise?

Ja, hatte ich. Danke für die Einladung.

Gern. Du musst sicher durstig sein. Bitte, ein Mineralwasser. Möchtest Du mehr, so schenk Dir einfach nach.

Aah. Danke. Das hat gut getan.

Ich freue mich, dass Du da bist. Das ist nicht unser erstes Interview. Du bist heute zum dritten Mal gekommen und zum dritten Mal müssen wir aufgrund von Sanierungsmaßnahmen in einen der Kopierräume ausweichen. Hierfür bitte ich um Verzeihung.

Schon gut, ist nicht so schlimm. Wird immer noch umgebaut?

Leider, mmh. Die Entkernung des Gebäudes ist bisher nicht abgeschlossen worden.
Mein lieber Scholli.

Mein lieber Scholli. Aber was soll's? Es ist alles in Ordnung. Und ich glaube, dass es heute ein ganz schön spannendes Interview wird. Die Zusammenfassung des von Dir vorgeschlagenen Interviewthemas habe ich mit Rieseninteresse gelesen.

Wieso denn?

Vielleicht wegen des Vergleichs zu den vorhergehenden Themen. Im ersten Interview sprachen wir über Deine Erlebnisse im Jugoslawien-Krieg, beim Massaker in Srebrenica, 1995.
Ein Treffen darauf interviewte ich Dich zu Deinem Leben als erfolgreicher Autor von Ärzte-Romanen. Heute willst Du über Dein „weibliches Idealbild“ sprechen. Dies erscheint im Vergleich zum Krieg als zahmes Gesprächsthema.

Ahah. Da stimme ich voll und ganz zu, Goran.

Na ja. Wir werden es spannend machen. Auch diesmal. Übrigens eine gute Gelegenheit, loszulegen. Ich starte die Aufnahme:
Isaac Weis, ideologisch Verfolgter, Autor von Ärzteromanen und Single, ist auf der Suche nach der idealen Frau. Hallo Isaac.

Hallo Goran.

Ich möchte ganz klassisch beim Namen beginnen: Wie könnte die ideale Frau heißen?

Ich kenne ihren Namen schon.

Du kennst ihn schon.

Ja. Sie heißt Delilah.

Du sprichst diesen Namen aus, als seist Du Delilah begegnet.

Nicht nur einmal.

Oh. Wie sieht Delilah aus?

Sie hat schwarze und rote Haare, zweifarbig. Die Haare sind dicht und kraus. Oberhalb ihres Ohrläppchens laufen feine Sommersprossen zusammen, die hernieder zur Halsschlagader hin abfallen, dort in regenbogenfarbenen Schlieren enden. Ganz aufreizend sind ihre Lippen: Fleischig-voll, sinnlich und purpurfarben. Sie üben auf mich eine enorme Anziehung aus und erregen mich. Wenn ich Delilahs Lippen längere Zeit ansehe, passieren Dinge mit meinem Körper, gegen die mein Geist machtlos ist. Uff.

Oooh. Wie vereinnahmend.

Schon, ja. Aber – entscheidend ist, was Delilah unter ihrer Haut verbirgt. Etwas Betörendes trägt sie in sich.

Was ist das genau?

Es ist nichts, was ich in einem Interview angeben werde.

Wirklich nicht? Das weckt Neugierde.

Nein, Isaac. Das werde ich nicht tun.

Schade. Leser und ich möchten erfahren, woraus das Betörende in Delilah gemacht ist.

Ist.

Ja: Ist.

Ist. Ist.

Goran.

Nichts, nichts. Alles in Ordnung.

Echt?

Alles ist in Ordnung, nichts. Um sieben Uhr habe ich Zeit. Es ist nichts. Alles ist in Ordnung.

Goran! Aufwachen!!

Ja. Ja, ja. Ich dachte gerade an Delilahs Wohnung. Ich sah, fühlte und roch die Dinge dort, als sei ich dagewesen.

Warst Du denn mal dort?

Nicht selten.

Du und Dein Ideal. Na ja. Als Du Dich gerade in Delilahs Wohnung wähntest: War sie auch dort?

Nein. Ich war alleine.

Hmmh. Gibt es zwischen Dir und Delilah bestimmte Lieblingsthemen?

Nein. Delilah spricht nicht. Kein einziges Wort.

Und Buchstaben. Hat Delilah einen Buchstaben ausgesprochen?

Nicht wirklich. Aber manchmal belausche ich, wie Speichel auf Delilahs Zunge raschelt. Ich wünsche mir dann, dass sie fast schon etwas sagt. Wobei... eigentlich ist das Unsinn. Aus Spekulationen will ich keine Tatsachen inszenieren. Bitte lösch' den letzten Absatz vor der Veröffentlichung des Interviews.

Klaro, Goran. Ich werde den letzten Absatz entfernen.

Ich brauche eine Pause.


***


Isaac?

Ja?

Hast Du das gehört?

Habe ich was gehört?

Diesen Ton.

Es ist doch so still hier drinnen. Du meinst das Kratzen meines Bleistifts auf dem Zeichenblock?

Näh. Hörst Du denn gar nichts, Isaac?

Muss passen.

Der Ton ist leise, aber scharf; in regelmäßigen Intervallen kommt er. Aus den Sitzkissen der Stühle, vielleicht aus dem Hohlraum zwischen Zimmerwänden und Außenfassade. Oder von der Straße her.

Das kann ich mir nicht vorstellen. Von der Straße nicht – um uns liegt abgelegenes Industriegebiet. Und jetzt ist es 02:47 Uhr in der Frühe. Kein Volk auf dem Bürgersteig. Zu den Stühlen, Goran, sieh genau hin. Enthalten kein einziges Loch: Wie sollte in ihrem Innern sich ein Ton abspielen. Getier oder Insekten können nicht in sie hinein gelangen.

Aber die Wände, Isaac. Aus den Wänden muss etwas kommen. Hörst Du's nicht?

Ähäh. Ausgeschlossen. Dreh den Kopf nach rechts, da liegt die Durchschrift einer Handwerkerrechnung. Erst gestern haben die Maurer mehrere Wände durchbrochen, damit die Räumlichkeiten optimierender genutzt werden können.

Nicht alle Handwerker sind qualifiziert.

Das hab' ich überhört. Unser Partner setzt die sorgfältigsten Maurer der Region ein. Sie klopften abstehende Putzbrocken ab, rissen die Wand heraus und glätteten das Innere des Mauerwerks. Woyzeck, der Meister, hatte ein Stethoskop dabei, mit dem er nach Abschluss der Arbeiten die Wände behorchte und überprüfte, dass garantiert nichts zwischen ihnen zurückbleiben konnte.

Wirklich gar nichts? Das kann nicht sein, Isaac. Der Ton wird immer lauter. Er brennt in meinen Ohren. Es dröhnt.

Alles Einbildung. Ich versichere es Dir. Den Ton gibt es nicht. Das Gebäude ist perfekt. Und ich schwöre: Auf die Thora, die Bibel und den Koran. Vertrau' mir.

Ich vertraue Dir ja. Der Ton ist es. Es muss ein Trommeln sein, zuerst in Intervallen aufkommend, dass ich nicht weiß: Muss ich den Ton oder die zwischen ihm liegenden Pausen fürchten. Es gibt kurze Unterbrechungen, wie bei dem behäbigen Taktschlag auf eine Trommel. Jetzt ist dieser Ton nahezu dauerhaft präsent. Wie zuckende Schläge.

Komm schon, Du übertreibst.

Nein, das tue ich nicht.

Ach wirklich, Goran. Alles ist in Ordnung. Das versichere ich Dir. Denn weißt Du was? Mit Woyzecks glänzender Auftragserledigung war es längst nicht getan. Nachdem er mit den Gesellen abgezogen war, erschien sein Cousin Petar Silberzweig, der Kammerjäger. Ein sehr erfahrener, der auf jahrzehntelange Expertise zurückblickt: Zuletzt befreite er die Straßen Manhattans von katzengroßen Ratten. Einige, so die Legende, erlegte er mit den bloßen Händen und brach ihnen mit Daumen und Zeigefinger das Genick. Wohlgemerkt, während er mit der anderen Hand und coolem Lächeln einer seiner zahlreichen Geliebten per Smartphone Gedichte schickte. Einen wie Petar gibt es einmal in einer Milliarde. Er vernichtet alles, was in Gebäuden unerwünschte Töne erzeugen kann.

Wie soll ich Dir glauben?

Ich lüge nicht. Ich sage die Wahrheit. Das Gebäude ist perfekt. Hier gibt es nichts Schlimmes. Keine Geräusche, Klänge oder Töne. Außer denen, die es gibt. Welche nicht, muss jeder selbst herausfinden. Ich wünschte, mehr tun zu können, Goran. Doch ich gelange an die Grenzen des Möglichen. Und so gern' ich Deine Furcht abmildere: Mein Brot muss ich verdienen. Darum würde ich gerne fortfahren, über Delilah zu sprechen. Ist Dir das Recht?

Ich weiß es nicht.

Warum?

Wegen des Tons.

Er stört Dich immer noch.

Er spukt.

Ich habe eine Idee: Halt die Luft an. Bestimmt wird der Ton verschwinden.

Für wie lange?

Der Ton verschwinden wird?

Ich die Luft anhalten soll.

Siebzehn Sekunden lang. Zähle indessen rückwärts.

Ich habe jetzt siebzehn Sekunden lang die Luft angehalten. Der Ton ist verschwunden.

Tatsächlich?

Ja.

Ha. Wusst ich's doch. Die simplen Methoden sind die effektivsten.

Mmh.

Kannst Du das Interview nun ohne Beeinträchtigungen weiterführen?

Ja. Ich kann weitermachen, Isaac. Der Ton ist fort aus meinem Ohr. Und weißt Du, was die Ironie daran ist? Töne suchen mich regelmäßig heim, nicht nur in dieser Nacht. Sie kommen, wann sie wollen und bleiben, solange sie wollen, machen, was ihnen nur so einfällt. Wie eine Horde Sechsjähriger, die ein Zimmer mit Farbe beschmieren, Essen zermanschen, ihre Finger in Schranktüren einquetschen, aufschreien, weh leiden, brüllen, und alles nur, um den nächsten Anlauf zu nehmen. Die Kinder in mir zelebrieren lautstark die Pausen ihres körperlichen Leidens. Ich bin mit den Kindern in einen Raum gesperrt. Ich kann nicht aus dem Raum heraus. Also will ich sie zur Ruhe bringen, denn ihre Schreie sind laut und grässlich. Sie zermürben und höhlen mich mit Angst aus. Ich schaffe es aber nicht, die Kinder zu beruhigen.

Warum nicht?

Weil sie mich wie einen Unsichtbaren
behandeln. Wie einen Geist.

Wollen sie Dich nicht sehen oder sehen sie Dich nicht?

Ich kann mir das nicht erklären. Mal glaube ich das eine, mal das andere.

Weißt Du was, Goran?

Hmmh?

Das klingt, als hättest Du akustische Halluzinationen. Und bevor Du Dich ängstigst: Sei unbesorgt. So etwas ist erklärbar.

Das höre ich nicht zum ersten Mal. Meine Kindertherapeutin hat mir das zugeflüstert; mein Grundschullehrer gesagt; der Vater meiner Jugendliebe vermittelt; der Gutachter einer Einstellungskommission erläutert; mein Psychoanalytiker es mir untersucht. Fünf Personen sind über den Sachverhalt im Bilde. Besser geraten ist nichts. Vielleicht kann ich deshalb, je mehr ich mein Problem erkenne, mich nur noch auf Delilah konzentrieren: Weil sie niemals spricht. Sie sagt kein Wort zu mir, gleich wann oder wo. Drum ist sie ein Mensch, von dem ich mir etwas zu hören wünsche. Ich will ihre Stimme hören. Wenigstens einmal. Ich will irgendein Wort von ihr hören.

Was für ein Wort denn?

Irgendeins. Denn Delilah hüllt sich in Schweigen, obwohl ich ihr nahe war. Ich habe ihren nackten Körper im stockdunklen Zimmer berührt. Ich habe sie gerochen. Ich habe stundenlang ihrem Atem gelauscht, als ihr Kopf auf meiner Brust lag: Ich stellte mir die Frage, ob ihre Augen offen oder geschlossen seien dabei.

Hast Du sie nicht gefragt?

Ich glaube schon. Ich weiß es nicht mehr. Falls, so hat sie auch damals nicht geantwortet.

Wie willst Du sie zum Sprechen bringen, wenn sie schon so lange schweigt?

Das ist mir noch nicht klar. Was ich weiß, ist, dass es mir nicht ohne einen Trick gelingen wird. Ich werde sie überlisten müssen, zu sprechen. Sie aus der Reserve locken und reinlegen, so dass sie unweigerlich etwas sagen muss. Unter Umständen werde ich einen Notfall vortäuschen. Mich zum Beispiel tot stellen.

Meinst Du, das wird Dir gelingen?

Vielleicht, Isaac. Vielleicht auch nicht.

Warum sollte es denn nicht? Delilah kannst Du bestimmt reinlegen.

Ich weiß es nicht.

Doch, doch. Sie ist nicht helle. Sie wird auf Deinen Betrug reinfallen. Nicht?

Hah. Nicht helle. Das glaubte ich, zugegeben, auch hin und wieder. Ich vermutete dann, sie könnte aufgrund eines kognitiven Defizits nicht sprechen.

Meinst Du etwas Kindheitsbedingtes?

Ja, genau. Wie das Mädchen, das alleine in den Wäldern aufwuchs. Beeren und Kräuter aß. Im Winter eine Krustenhaut als Schutz vor der Kälte ausbildete. Die ohne andere Menschen lebte. Ohne Gesprächen zu lauschen, war sie der Chance enthoben, erste Laute, Wörter, Sätze bilden zu können. Aber was bedeutet das überhaupt: Ein Mensch ohne Sprache? So ein Mensch kann nicht sprachlos sein im Sinne der Sprechenden... ich glaube, er ist wesenlos. Er hat im Kern des Innern keine Identität, kein Individuum und keine Wesenhaftigkeit ausgeformt.

Dir fehlt die Empathie, Goran.

Bitte?

Ja. Denn Du siehst nur durch Deine Augen.

Durch welche denn sonst.

Na, durch die Augen der Schweigenden. Sie ist wesenlos, meinst Du? Das ist, ich versichere es Dir, nicht der Fall.

Jemand, der niemals spricht, kann nicht das Wesen eines Sprechenden ausbilden.

Es geht nicht nur darum.

Aber – wir brauchen eine Identität. Jeder von uns. Und ein Bewusstsein über Existenz. Über unser Ich-Dasein. Das scheidet uns vom Tier.
Die Schweigende kann das nicht, meinst Du.

Bloß, weil sie schweigt? Da beginnt doch das Mysterium, Goran. Du versuchst gerade, eine Antwort in eine Frage zu zwängen. Die Schweigende aber ist nicht an die Grenzen ihres Körpers gebunden: Das unterscheidet sie vom Menschen. Durch Deinen Körper spuken Kinderstimmen; Delilah besetzt Körper. Sie ist, was man einen freien Geist nennen mag. Und sie kontrolliert Ängste, Töne und Umgebungen.

Red' keinen Quatsch, Isaac.

Tue ich nicht. Sieh Dich um.

Wo bin ich?

Sieh Dich um.

Ich bin nicht mehr im Kopierraum.

Du bist nicht mehr im Kopierraum.

Vielleicht war ich dort noch nie.

Vielleicht noch nie.

Es sieht aus wie in Delilahs Badezimmer.

Es sieht aus wie in Delilahs Badezimmer.

Delilah muss mich betäubt haben. Nicht?

Delilah muss mich betäubt haben. Nicht?

Hör bitte auf, mir nachzusprechen.

Hör bitte auf, mir nachzusprechen.

Das macht mich wahnsinnig. Ich kriege die Panik!

Das macht mich wahnsinnig. Ich kriege die Panik!

Hör auf!

Hör auf!

Bitte, bitte hör auf. Ich kann das nicht ertragen!!!

Bitte, bitte hör auf. Ich kann das nicht ertragen!!!

Warum tust Du das, Isaac?

Warum tust Du das, Isaac?

Es macht mich verrückt.

Es macht mich verrückt.
Ich glaube, es gibt Dich gar nicht.

Ich glaube, es gibt Dich gar nicht.

Es gibt keinen Isaac.

Es gibt keinen Isaac.

Es gibt keine Delilah.

Es gibt keine Delilah.

Das Interview hat niemals stattgefunden.

Dieses Interview hat niemals stattgefunden.

Halt! Das war nicht derselbe Satz.

Halt! Dieser Satz war nicht derselbe.

Meine Einbildung ist es, nicht?

Es ist nicht meine Einbildung.

Ja genau. Die wiederholten Sätze und ihre Wiederholungen gehorchen keiner Reihenfolge. Sie bilden eine Einheit.

Genau. Ja. Die wiederholten Sätze basieren nicht auf Reihenfolgen. Sie bilden keine Einheit.

Wenn ich nichts mehr sage und schweige, wie Delilah, kann sie mir nichts anhaben.

Wenn ich nichts mehr sage und schweige, wie Delilah, kann sie mir nichts anhaben.

Lass mich in Ruhe, Du Schwein!

Lass mich in Ruhe. Schwein.

Du wirst mich nicht besiegen.

Du wirst mich nicht besiegen!

Du kannst mir nichts anhaben.

Du kannst mir nichts anhaben!

Ich zittere am ganzen Körper. Vor Wut, nicht vor Angst.

Vor Angst und nicht vor Wut zittere ich am ganzen Körper. Ich habe Angst vor Dir.

Ich habe keine Angst vor Dir!

Du hast keine Angst vor mir!

Hör auf damit! Ein für allemal. Ich halte das nicht mehr aus. Verschwinde aus meinem Kopf. Raus mit Dir!
Raus mit Dir! Verschwinde aus meinem Kopf. Ein für allemal. Hör auf damit!

Sie muss mich betäubt haben, nicht? Ich trank vorhin ein bitter schmeckendes Mineralwasser. Mein Kopf dröhnt.

Dein Kopf dröhnt. Du Hundekind.

Ich versuche, aus der Wanne herauszusteigen, doch meine Füße, Beine und Hände sind mit Bambusseilen zusammengebunden.

Du bist gefesselt.

Kälte kriecht auf meine Haut wie Blutegel und saugt sich fest: Auf meinem Pimmel, der Eichel.

Es ist gut, Goran. Alles ist in Ordnung. Das Gebäude ist perfekt.

Kälte und Eis auf Füßen, Unter- und Oberschenkeln, Anus.

Alles ist in Ordnung: Kälte und Eis auf Füßen und Schenkeln: Kälte im Arschloch.

Achselhöhlen, Schulterblätter, Haare, Ohren, Mund. Das Eis sickert überall rein. Es ist aus gefrorenem Öl, voller Schlieren und verdreckt. Es stinkt bestialisch. Ich atme giftige Dämpfe.

Das Öl wurde mit Wasser gestreckt, das zuvor Eis war. Und vorher Wasser. Und vorher Eis. Und vorher Wasser. Und vorher Wasser. Und vorher Eis. Und vorher Wasser. Und vorher Wasser. Und vorher Eis. Und vorher Wasser.

Hör auf!

Und vorher Wasser. Und vorher Eis. Und vorher Wasser.

Bitte. Ich flehe Dich an. Bitte. Bitte verschone mich. Bitte gib mir Stille. Bitte gib mir Stille. Mir wird so unerträglich heiß.

Ich gebe Dir Stille. Ich gebe Dir Stille.

Ich muss verhindern, zu sterben. Aber hört's nich' auf, werde ich mich umbringen. Ich werde mir das Leben nehmen, Delilah. Willst Du das?

Ich kann nicht mehr, Goran. Ich kann nicht zulassen, dass Du's nicht tust. Ich verlange Deinen Tod.

Ich will leben. Ich will leben. In der Frühe des Tages bin ich nicht zum Sterben aufgestanden. Ich will leben. Ich muss meine Knöchel im Wasser so lange gegen das Seil reiben, bis ich's aufgescheuert hab' und mich befreien kann. Wenn nicht, friert mein Körper ein und wird bald erkaltet sein. Ich kämpfe. Gegen das Seil, gegen das Eis. Wo ist Isaac? Ich kann ihn nicht mehr hören. Habe ich nach Goran oder nach Delilah gefragt? Wer ist wer? Ich weiß es nicht. Wusste ich es? Als jemand eben meine Sätze wiederholte, wiederholte niemand meine Sätze. Das war ich selbst. Nicht?

Nicht.

Ich scheure meine Knöchel aneinander, suche mit wild gewordenen Pupillen den Raum ab. Ich will Antworten: Wo bin ich und warum?

Äng. Ong.

Die Ruhe bewahren. Sachlich werden, rational vorgehen. Die Umgebung sichten. Pläne machen. Aber: Was tue ich zuerst? Ich. Ich. Erkennen, wo ich bin. Kacheln und Badewanne, ein Badezimmer. Die Kacheln dunkelbraun, auf Boden mintgrüner Teppich, schwarze Haare überall. Überm Waschbecken ein runder Spiegel, eingerahmt von Zweigen und Ästen. Zweige grün-grau, dran kleben vertrocknende Blätter. Drunter die Schwarzweißaufnahme einer Familie. Das Bild ist vergilbt, muss uralt sein. An der Decke Lampenschirm in purpur, es flackert weißes Glühbirnenlicht. Werd' ich sterben? Ich fühl' meinen Körper gar nicht, Isaac. Fühl' nix mehr von mir – aber sehen kann ich dich doch. Ich kann sehen, meine Augen sind frei: Im Spiegel steht die durchsichtige Spiegelung von Delilah. Die schweren, krausen, rot-schwarzen Haare. Knochige Hände. Delilah presst Fingerspitzen in meine Schläfen, durchbohrt sie, öffnet die Schädeldecke, füllt Buchstaben ins Gehirn ein. Was ich sagen werde und was nicht, was ich gesagt habe und wer ich zu sein glaubte: Es gerät sämtlich in Vergessenheit und in meine Erinnerung zurück. Als hätte es mich nie und gleichzeitig zu Hunderten gegeben. Beim Einfüllen der Buchstaben summt Delilah Verse. In einer Sprache, die ich nicht kenne. Verstehst Du das, Isaac? Isaac? Delilah?
Wo seid ihr? Wo? WO, WO, WO?


Youtube: Donnie Darko To Whom The Bell Tolls
 
Zuletzt bearbeitet:

Max Neumann

Mitglied
Es musste dringend eine Überarbeitung her, wegen ein paar Logikfehlern und Formatierungspfusch von mir.



Das Interview



„Die schlimmsten Feinde eines Menschen können ihm nicht wünschen, was er sich selber ausdenkt.“
– Volksweisheit



Zwei Männer in einem Kopierraum. Sie sitzen auf Drehstühlen aus schwarzem Leder zwischen Kopiergeräten und Scannern, ihre Namen sind Isaac Weis und Goran Flupp. Die Männer sind von unterschiedlichem Alter, Isaac ist ungefähr fünfundvierzig, Goran um die dreißig Jahre alt.

Isaac ist auffällig gepflegt, muskulös, grauschwarze Haare fallen gewellt auf die Schultern, über zwei Meter groß, stämmiges Kreuz. Jeans, schwarzweiße Turnschuhe, weißes Rippchenoberteil.

Goran ist kleinwüchsig und dünn; er sieht unter einer Brille aus wachen Augen hervor. Pupillen bewegen sich schnell, er erscheint aufgeschlossen und ungeduldig. Goran ist mit einem ockergelben Pullover, einer grauen Stoffhose und mintgrünen Schuhen bekleidet. Über seiner Oberlippe steckt ein goldfarbenes Medusa-Piercing.

Herzlich Willkommen zum Interview, Isaac. Hattest Du eine gute Anreise?

Ja, hatte ich. Danke für die Einladung.

Gern. Du musst sicher durstig sein. Bitte, ein Mineralwasser. Möchtest Du mehr, so schenk Dir einfach nach.

Aah. Danke. Das hat gut getan.

Ich freue mich, dass Du da bist. Das ist nicht unser erstes Interview. Du bist heute zum dritten Mal gekommen und zum dritten Mal müssen wir aufgrund von Sanierungsmaßnahmen in einen der Kopierräume ausweichen. Hierfür bitte ich um Verzeihung.

Schon gut, ist nicht so schlimm. Wird immer noch umgebaut?

Leider, mmh. Die Entkernung des Gebäudes ist bisher nicht abgeschlossen worden.

Mein lieber Scholli.

Mein lieber Scholli. Aber was soll's? Es ist alles in Ordnung. Und ich glaube, dass es heute ein ganz schön spannendes Interview wird. Die Zusammenfassung des von Dir vorgeschlagenen Interviewthemas habe ich mit Rieseninteresse gelesen.

Wieso denn?

Vielleicht wegen des Vergleichs zu den vorhergehenden Themen. Im ersten Interview sprachen wir über Deine Erlebnisse im Jugoslawien-Krieg, beim Massaker in Srebrenica, 1995.
Ein Treffen darauf interviewte ich Dich zu Deinem Leben als erfolgreicher Autor von Ärzte-Romanen. Heute willst Du über Dein „weibliches Idealbild“ sprechen. Dies erscheint im Vergleich zum Krieg als zahmes Gesprächsthema.

Ahah. Da stimme ich voll und ganz zu, Goran.

Na ja. Wir werden es spannend machen. Auch diesmal. Übrigens eine gute Gelegenheit, loszulegen. Ich starte die Aufnahme: Isaac Weis, ideologisch Verfolgter, Autor von Ärzteromanen und Single, ist auf der Suche nach der idealen Frau. Hallo Isaac.

Hallo Goran.

Ich möchte ganz klassisch beim Namen beginnen: Wie könnte die ideale Frau heißen?

Ich kenne ihren Namen schon.

Du kennst ihn schon.

Ja. Sie heißt Delilah.

Du sprichst diesen Namen aus, als seist Du Delilah begegnet.

Nicht nur einmal.

Oh. Wie sieht Delilah aus?

Sie hat schwarze und rote Haare, zweifarbig. Die Haare sind dicht und kraus. Oberhalb ihres Ohrläppchens laufen feine Sommersprossen zusammen, die hernieder zur Halsschlagader hin abfallen, dort in regenbogenfarbenen Schlieren enden. Ganz aufreizend sind ihre Lippen: Fleischig-voll, sinnlich und purpurfarben. Sie üben auf mich eine enorme Anziehung aus und erregen mich. Wenn ich Delilahs Lippen längere Zeit ansehe, passieren Dinge mit meinem Körper, gegen die mein Geist machtlos ist. Uff.

Oooh. Wie vereinnahmend.

Schon, ja. Aber – entscheidend ist, was Delilah unter ihrer Haut verbirgt. Etwas Betörendes trägt sie in sich.

Was ist das genau?

Es ist nichts, was ich in einem Interview angeben werde.

Wirklich nicht? Das weckt Neugierde.

Nein, Isaac. Das werde ich nicht tun.

Schade. Leser und ich möchten erfahren, woraus das Betörende in Delilah gemacht ist.

Ist.

Ja: Ist.

Ist. Ist.

Goran.

Nichts, nichts. Alles in Ordnung.

Echt?

Alles ist in Ordnung, nichts. Um sieben Uhr habe ich Zeit. Es ist nichts. Alles ist in Ordnung.

Goran! Aufwachen!!

Ja. Ja, ja. Ich dachte gerade an Delilahs Wohnung. Ich sah, fühlte und roch die Dinge dort, als sei ich dagewesen.

Warst Du schon mal bei Delilah?

Nicht selten.

Als Du Dich gerade in Delilahs Wohnung wähntest: War sie auch dort?

Nein. Ich war alleine.

Hmmh. Gibt es zwischen Dir und Delilah bestimmte Lieblingsthemen?

Nein. Delilah spricht nicht. Kein einziges Wort.

Und Buchstaben. Hat Delilah einen Buchstaben ausgesprochen?

Nicht wirklich. Aber manchmal belausche ich, wie Speichel auf Delilahs Zunge raschelt. Ich wünsche mir dann, dass sie fast schon etwas sagt. Wobei... eigentlich ist das Unsinn. Aus Spekulationen will ich keine Tatsachen inszenieren. Bitte lösch' den letzten Absatz vor der Veröffentlichung des Interviews.

Klaro Goran. Ich werde den letzten Absatz entfernen.

Ich brauche eine Pause.



Isaac?

Ja?

Hast Du das gehört?

Habe ich was gehört?

Diesen Ton.

Es ist doch so still hier drinnen. Du meinst das Kratzen meines Bleistifts auf dem Zeichenblock?

Näh. Hörst Du denn gar nichts, Isaac?

Muss passen.

Der Ton ist leise, aber scharf; in regelmäßigen Intervallen kommt er. Aus den Sitzkissen der Stühle, vielleicht aus dem Hohlraum zwischen Zimmerwänden und Außenfassade. Oder von der Straße her.

Das kann ich mir nicht vorstellen. Von der Straße nicht – um uns liegt abgelegenes Industriegebiet. Und jetzt ist es 02:47 Uhr in der Frühe. Da ist kein Volk auf dem Bürgersteig. Und die Stühle, Goran, sieh genau hin: Sie enthalten kein einziges Loch: Wie sollte in ihrem Innern sich ein Ton abspielen. Getier oder Insekten können nicht in sie hinein gelangen.

Aber die Wände, Isaac. Aus den Wänden muss etwas kommen. Hörst Du's nicht?

Nope – ausgeschlossen. Dreh den Kopf nach rechts, da liegt die Durchschrift einer Handwerkerrechnung. Erst gestern haben die Maurer mehrere Wände durchbrochen, damit die Räumlichkeiten optimierender genutzt werden können.

Nicht alle Handwerker sind qualifiziert.

Das hab' ich überhört. Unser Partner setzt die sorgfältigsten Maurer der Region ein. Sie klopften abstehende Putzbrocken ab, rissen die Wand heraus und glätteten das Innere des Mauerwerks. Woyzeck, der Meister, hatte ein Stethoskop dabei, mit dem er nach Abschluss der Arbeiten die Wände behorchte und überprüfte, dass garantiert nichts zwischen ihnen zurückbliebt.

Wirklich gar nichts? Das kann nicht sein, Isaac. Der Ton wird immer lauter. Er brennt in meinen Ohren. Es dröhnt.

Alles Einbildung. Ich versichere es Dir. Den Ton gibt es nicht. Das Gebäude ist perfekt. Und ich schwöre: Auf die Thora, die Bibel und den Koran. Vertrau' mir.

Ich vertraue Dir ja. Der Ton ist es. Es muss ein Trommeln sein, zuerst in Intervallen aufkommend, dass ich nicht weiß: Muss ich den Ton oder die zwischen ihm liegenden Pausen fürchten? Es gibt kurze Unterbrechungen, wie bei dem behäbigen Taktschlag auf eine Trommel. Jetzt ist dieser Ton nahezu dauerhaft präsent. Wie zuckende Schläge.

Komm schon, Du übertreibst.

Nein, das tue ich nicht.

Ach wirklich, Goran. Alles ist in Ordnung. Das versichere ich Dir. Denn weißt Du was? Mit Woyzecks glänzender Auftragserledigung war es längst nicht getan. Nachdem er mit den Gesellen abgezogen war, erschien sein Cousin Petar Silberzweig, der Kammerjäger. Ein sehr erfahrener, der auf jahrzehntelange Expertise zurückblickt: Zuletzt befreite er die Straßen Manhattans von katzengroßen Ratten. Einige, so die Legende, erlegte er mit den bloßen Händen und brach ihnen mit Daumen und Zeigefinger das Genick. Wohlgemerkt, während er mit der anderen Hand und coolem Lächeln einer seiner zahlreichen Geliebten per Smartphone Gedichte schickte. Einen wie Petar gibt es einmal in einer Milliarde. Er vernichtet alles, was in Gebäuden unerwünschte Töne erzeugen kann.

Wie soll ich Dir glauben? Ich kann es nicht.

Ich lüge nicht. Ich sage die Wahrheit. Das Gebäude ist perfekt. Hier gibt es nichts Schlimmes. Keine Geräusche, Klänge oder Töne. Außer denen, die es gibt. Welche nicht, muss jeder selbst herausfinden. Ich wünschte, mehr tun zu können, Goran. Doch ich gelange an die Grenzen des Möglichen. Und so gern' ich Deine Furcht abmildere: Mein Brot muss ich verdienen. Drum würde ich gerne fortfahren, über Delilah zu sprechen. Ist Dir das Recht?

Ich weiß es nicht.

Warum?

Wegen des Tons.

Er stört Dich immer noch.

Er spukt.

Ich habe eine Idee: Halt die Luft an. Bestimmt wird der Ton verschwinden.

Für wie lange?

Der Ton verschwinden wird?

Ich die Luft anhalten soll.

Siebzehn Sekunden lang. Zähle indessen rückwärts.

Ich habe jetzt siebzehn Sekunden lang die Luft angehalten. Der Ton ist verschwunden.

Tatsächlich?

Ja.

Ha. Wusst ich's doch. Die simplen Methoden sind die effektivsten.

Mmh.

Kannst Du das Interview nun ohne Beeinträchtigungen weiterführen?

Ja. Ich kann weitermachen, Isaac. Der Ton ist fort aus meinem Ohr. Und weißt Du, was die Ironie daran ist? Töne suchen mich regelmäßig heim, nicht nur in dieser Nacht. Sie kommen, wann sie wollen und bleiben, solange sie wollen, machen, was ihnen nur so einfällt. Wie eine Horde Sechsjähriger, die ein Zimmer mit Farbe beschmieren, Essen zermanschen, ihre Finger in Schranktüren einquetschen, aufschreien, weh leiden, brüllen, und alles nur, um den nächsten Anlauf zu nehmen. Die Kinder in mir feiern lautstark und ich bin mit ihnen in einem Raum eingesperrt. Ich kann nicht aus diesem Raum heraus. Also will ich sie zur Ruhe bringen, denn ihre Schreie sind laut und grässlich. Sie zermürben und höhlen mich mit Angst aus. Ich schaffe es aber nicht, die Kinder zu beruhigen.

Warum nicht?

Weil sie mich wie einen Unsichtbaren behandeln. Wie einen Geist.

Wollen sie Dich nicht sehen oder sehen sie Dich nicht?

Ich kann mir das nicht erklären. Mal glaube ich das eine, mal das andere.

Weißt Du was, Goran?

Hmmh?

Das klingt, als hättest Du akustische Halluzinationen. Und bevor Du Dich ängstigst: Sei unbesorgt. So etwas ist erklärbar. Und es gibt gute Medizin dagegen. Antipsychotika und so.

Behalt' die Pillen für dich... Ich bin doch nicht verrückt! Akustische Halluzinationen, haha. Das höre ich nicht zum ersten Mal. Meine Kindertherapeutin hat mir das zugeflüstert; mein Grundschullehrer gesagt; der Vater meiner Jugendliebe vermittelt; der Gutachter einer Einstellungskommission erläutert; mein Psychoanalytiker es mir untersucht. Fünf Personen sind über den Sachverhalt im Bilde. Besser geraten ist nichts. Also geht es mir gut, denn wenn nichts besser wurde, gab es auch niemals etwas Schlechtes.

Aber Goran, begreifst du, dass du ein Problem haben könntest?

Ja und nein. Denn je mehr ich mich auf mein Problem konzentriere, desto mehr hänge ich wieder bei Delilah, denn ich rede ja nicht über mein Problem und da liegt zwischen ihr und mir die tiefe Gemeinsamkeit. Nock krasser sogar, da Delilah rein gar nicht mit mir spricht. Sie sagt kein Wort zu mir, gleich wann oder wo. Drum ist sie ein Mensch, von dem ich mir etwas zu hören wünsche. Ich will ihre Stimme hören. Wenigstens einmal. Ich will irgendein Wort von ihr hören.

Was für ein Wort denn?

Irgendeins. Denn Delilah hüllt sich in Schweigen, obwohl ich ihr nahe war. Ich habe ihren nackten Körper im stockdunklen Zimmer berührt. Ich habe sie gerochen. Ich habe stundenlang ihrem Atem gelauscht, als ihr Kopf auf meiner Brust lag: Ich stellte mir die Frage, ob ihre Augen offen oder geschlossen seien dabei.

Hast Du sie nicht gefragt?

Ich glaube schon. Ich weiß es nicht mehr. Falls, so hat sie auch damals nicht geantwortet.

Wie willst Du sie zum Sprechen bringen, wenn sie schon so lange schweigt?

Das ist mir noch nicht klar. Was ich weiß, ist, dass es mir nicht ohne einen Trick gelingen wird. Ich werde sie überlisten müssen, zu sprechen. Sie aus der Reserve locken und reinlegen, so dass sie unweigerlich etwas sagen muss. Unter Umständen werde ich einen Notfall vortäuschen. Mich zum Beispiel tot stellen.

Meinst Du, das wird Dir gelingen?

Vielleicht, Isaac. Vielleicht auch nicht.

Warum sollte es denn nicht? Delilah kannst Du bestimmt irreführen.

Ich weiß es nicht.

Doch, doch. Sie ist nicht klug. Sie wird auf Deinen Betrug reinfallen. Nicht?

Hah. Nicht klug. Das glaubte ich, zugegeben, auch hin und wieder. Ich vermutete dann, sie könnte aufgrund eines kognitiven Defizits nicht sprechen und nur langsam denken.

Meinst Du etwas Kindheitsbedingtes?

Ja, genau. Wie das Mädchen, das alleine in den Wäldern aufwuchs. Beeren und Kräuter aß. Im Winter eine Krustenhaut als Schutz vor der Kälte ausbildete. Die ohne andere Menschen lebte. Ohne Gesprächen zu lauschen, war sie der Chance enthoben, erste Laute, Wörter, Sätze bilden zu können. Aber was bedeutet das überhaupt: Ein Mensch ohne Sprache? So ein Mensch kann nicht sprachlos sein im Sinne der Sprechenden... ich glaube, er ist wesenlos. Er hat im Kern des Innern keine Identität, kein Individuum und keine Wesenhaftigkeit ausgeformt.

Dir fehlt die Empathie, Goran.

Bitte?

Ja. Denn Du siehst nur durch Deine Augen.

Durch welche denn sonst.

Na, durch die Augen der Schweigenden. Sie ist wesenlos, meinst Du? Das ist, ich versichere es Dir, nicht der Fall.

Jemand, der niemals spricht, kann nicht das Wesen eines Sprechenden ausbilden.

Es geht nicht nur darum.

Aber – wir brauchen eine Identität. Jeder von uns. Und ein Bewusstsein über Existenz. Über unser Ich-Dasein. Das scheidet uns vom Tier.

Die Schweigende kann das nicht, meinst Du.

Bloß, weil sie schweigt? Da beginnt doch das Mysterium, Goran. Du versuchst gerade, eine Antwort in eine Frage zu zwängen. Die Schweigende aber ist nicht an die Grenzen ihres Körpers gebunden: Das unterscheidet sie vom Menschen. Durch Deinen Körper spuken Kinderstimmen; Delilah besetzt Körper. Sie ist, was man einen freien Geist nennen mag. Und sie kontrolliert Ängste, Töne und Umgebungen.

Red' keinen Quatsch, Isaac.

Tue ich nicht. Sieh Dich um.

Wo bin ich?

Sieh Dich um.

Ich bin nicht mehr im Kopierraum.

Du bist nicht mehr im Kopierraum.

Vielleicht war ich dort noch nie.

Vielleicht noch nie.

Es sieht aus wie in Delilahs Badezimmer.

Es sieht aus wie in Delilahs Badezimmer.

Delilah muss mich betäubt haben. Nicht?

Delilah muss mich betäubt haben. Nicht?

Hör bitte auf, mir nachzusprechen.

Hör bitte auf, mir nachzusprechen.

Das macht mich wahnsinnig. Ich kriege die Panik!

Das macht mich wahnsinnig. Ich kriege die Panik!

Hör auf!

Hör auf!

Bitte, bitte hör auf. Ich kann das nicht ertragen!!!

Bitte, bitte hör auf. Ich kann das nicht ertragen!!!

Warum tust Du das, Isaac?

Warum tust Du das, Isaac?

Es macht mich verrückt.

Es macht mich verrückt.

Ich glaube, es gibt Dich gar nicht.

Ich glaube, es gibt Dich gar nicht.

Es gibt keinen Isaac.

Es gibt keinen Isaac.

Es gibt keine Delilah.

Es gibt keine Delilah.

Das Interview hat niemals stattgefunden.

Dieses Interview hat niemals stattgefunden.

Halt! Das war nicht derselbe Satz.

Halt! Dieser Satz war nicht derselbe.

Meine Einbildung ist es, nicht?

Es ist nicht meine Einbildung.

Ja genau. Die wiederholten Sätze und ihre Wiederholungen gehorchen keiner Reihenfolge. Sie bilden eine Einheit.

Genau. Ja. Die wiederholten Sätze basieren nicht auf Reihenfolgen. Sie bilden keine Einheit.

Wenn ich nichts mehr sage und schweige, wie Delilah, kann sie mir nichts anhaben.

Wenn ich nichts mehr sage und schweige, wie Delilah, kann sie mir nichts anhaben.

Lass mich in Ruhe, Du Schwein!

Lass mich in Ruhe. Schwein.

Du wirst mich nicht besiegen.

Du wirst mich nicht besiegen!

Du kannst mir nichts anhaben.

Du kannst mir nichts anhaben!

Ich zittere am ganzen Körper. Vor Wut, nicht vor Angst.

Vor Angst und nicht vor Wut zittere ich am ganzen Körper. Ich habe Angst vor Dir.

Ich habe keine Angst vor Dir!

Du hast keine Angst vor mir!

Hör auf damit! Ein für allemal. Ich halte das nicht mehr aus. Verschwinde aus meinem Kopf. Raus mit Dir!

Raus mit Dir! Verschwinde aus meinem Kopf. Ein für allemal. Hör auf damit!

Delilah muss mich betäubt haben, nicht? Ich trank vorhin ein bitter schmeckendes Mineralwasser. Mein Kopf dröhnt.

Dein Kopf dröhnt. Du Hundekind.

Ich versuche, aus der Wanne herauszusteigen, doch meine Füße, Beine und Hände sind mit Bambusseilen zusammengebunden.

Du bist gefesselt.

Kälte kriecht auf meine Haut wie Blutegel und saugt sich fest: Auf meinem Glied, der Eichel.

Es ist gut, Goran. Alles ist in Ordnung. Das Gebäude ist perfekt.

Kälte und Eis auf Füßen, Unter- und Oberschenkeln, Anus.

Alles ist in Ordnung: Kälte und Eis auf Füßen und Schenkeln: Kälte im Arschloch.

Achselhöhlen, Schulterblätter, Haare, Ohren, Mund. Das Eis sickert überall rein. Es ist aus gefrorenem Öl, voller Schlieren und verdreckt. Es stinkt bestialisch. Ich atme giftige Dämpfe.

Das Öl wurde mit Wasser gestreckt, das zuvor Eis war. Und vorher Wasser. Und vorher Eis. Und vorher Wasser. Und vorher Wasser. Und vorher Eis. Und vorher Wasser. Und vorher Wasser. Und vorher Eis. Und vorher Wasser.

Hör auf!

Und vorher Wasser. Und vorher Eis. Und vorher Wasser.

Bitte. Ich flehe Dich an. Bitte. Bitte verschone mich. Bitte gib mir Stille. Bitte gib mir Stille. Mir wird so unerträglich heiß.

Ich gebe Dir Stille. Ich gebe Dir Stille.

Ich muss verhindern, zu sterben. Aber hört's nich' auf, werde ich mich umbringen. Ich werde mir das Leben nehmen, Delilah. Willst Du das?

Ich kann nicht mehr, Goran. Ich kann nicht zulassen, dass Du's nicht tust. Ich verlange Deinen Tod.

Ich will leben. Ich will leben. In der Frühe des Tages bin ich nicht zum Sterben aufgestanden. Ich will leben. Ich muss meine Knöchel im Wasser so lange gegen das Seil reiben, bis ich's aufgescheuert hab' und mich befreien kann. Wenn nicht, friert mein Körper ein und wird bald erkaltet sein. Ich kämpfe. Gegen das Seil, gegen das Eis. Wo ist Isaac? Ich kann ihn nicht mehr hören. Habe ich nach Isaac oder nach Delilah gefragt? Wer ist wer? Ich weiß es nicht. Wusste ich es? Als jemand eben meine Sätze wiederholte, wiederholte niemand meine Sätze. Das war ich selbst. Nicht?

Nicht.

Ich scheure meine Knöchel aneinander, suche mit wild gewordenen Pupillen den Raum ab. Ich will Antworten: Wo bin ich und warum?

Äng. Ong.

Die Ruhe bewahren. Sachlich werden, rational vorgehen. Die Umgebung sichten. Pläne machen. Aber: Was tue ich zuerst? Ich. Ich. Ich-ich. Erkennen, wo ich bin. Kacheln und Badewanne, ein Badezimmer. Die Kacheln dunkelbraun, auf dem Boden mintgrüner Teppich, schwarze Haare überall.

Überm Waschbecken ein runder Spiegel, eingerahmt von Zweigen und Ästen. Zweige grün-grau, daran kleben vertrocknende Blätter. Drunter die Schwarzweißaufnahme einer Familie. Das Bild ist vergilbt, muss uralt sein. An der Decke Lampenschirm in purpur, es flackert weißes Glühbirnenlicht. Werd' ich sterben? Ich fühl' meinen Körper gar nicht, Isaac. Fühl' nix mehr von mir – aber sehen kann ich dich doch. Ich kann sehen, meine Augen sind frei: Im Spiegel steht die durchsichtige Spiegelung von Delilah.

Die schweren, krausen, rot-schwarzen Haare. Knochige Hände. Delilah presst Fingerspitzen in meine Schläfen, durchbohrt sie, öffnet die Schädeldecke, füllt Buchstaben ins Gehirn ein. Was ich sagen werde und was nicht, was ich gesagt habe und wer ich zu sein glaubte: Es gerät sämtlich in Vergessenheit und in meine Erinnerung zurück. Als hätte es mich nie und gleichzeitig zu Hunderten gegeben. Beim Einfüllen der Buchstaben summt Delilah Verse. In einer Sprache, die ich nicht kenne. Verstehst Du das, Isaac? Isaac? Delilah?

Wo seid ihr? Wo?

WO, WO, WO?
 



 
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