Das ist alles

Shallow

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Manchmal trifft man gute Entscheidungen. Und manchmal schlechte. Letztere wiegen deutlich schwerer. So scheint es mir wenigstens. Vor allem, wenn sie unwiderrufliche Konsequenzen nach sich ziehen und die Frage der Schuld im Raum steht. Nicht wie bei einem Streit, bei dem man sich entschuldigt und alles ist gut. Einige Dinge werden nicht wieder gut, ganz im Gegenteil, sie werden im Laufe der Zeit immer schlimmer, knüppeln einen den Rest des Lebens nieder. Bleibt die Frage der Verantwortlichkeit: Lag es an einem selbst, hätte man anders handeln sollen und können, vielleicht müssen? Noch dazu in einer Situation, die so absurd ist, dass sie nicht vorstellbar ist? Dabei bin ich nicht einmal sicher, ob ich überhaupt etwas falsch gemacht habe. Aber vielleicht lüge ich schon wieder. Darin habe ich mittlerweile Übung.

Mit meinem Sohn Julian habe ich kaum noch Kontakt. Zu seiner Ex-Frau Melanie gar keinen, obwohl ich sie sehr mochte. Sie wohnt nicht mehr in der Stadt, ist weggezogen, kurz nachdem sie sich von Julian getrennt hatte. Ich mochte ihre ruhige, sanfte Art, sie tat Julian gut, auch wenn sie deren gemeinsames Kind mit einer solch überbordenden Fürsorge umhegte, dass es mir nicht gesund schien. Sie ließ den Kleinen nicht eine Sekunde aus den Augen, erfüllte ihm alle Wünsche, selbst die, die er noch gar nicht geäußert hatte, aber annahm, dass er es bald tun würde. Kinder brauchen Grenzen, sie zog keine. Dinge ändern sich über die Generationen und meine hat ganz sicher nicht alles richtig gemacht. Ein Übermaß an Zuwendung ist jedenfalls nicht schlechter als gar keine. Ich mochte sie sehr und es schien mir eine gute Kombination der beiden jungen Eltern zu sein, denn mein Sohn trat deutlich robuster auf und ließ sich von dem Kleinen nicht alles bieten. Aber letztendlich haben sie es als Paar nicht geschafft.

Als der kleine Leo starb war er fünf, kurz bevor er eingeschult werden sollte. Melanie zog sich ein halbes Jahr völlig zurück, war nicht ansprechbar, weder für meine Frau Helen und mich, noch für Julian. Mein Sohn war genauso wenig greifbar, er stürzte sich in seine Arbeit als Arzt, übernahm Nachtschichten und Wochenenddienste. Die beiden Partner drifteten auseinander, als wären sie Strömungen ausgesetzt, die in entgegengesetzte Richtungen zogen, bis Melanie ihn zur Rede stellte. Wenigstens reden sie wieder, dachte ich, aber während Julian über seine Arbeit sprach, gab es für Melanie nur ein Thema: Ihren verlorenen Sohn. Auch meine seltenen Gespräche mit ihr drehten sich nur darum; jeder Versuch, über etwas anderes zu reden, wurde abgewürgt. Es war schwierig und abgesehen davon, dass sie sich optisch verändert hatte, keine engen Jeans und Shirts trug, nur noch diese schlabberigen Jogginghosen, die sie kaum zu wechseln schien, hatte sie Marotten entwickelt, die schwer zu ertragen waren. Wenn ich mit ihr am Tisch saß, hielt sie es keine fünf Minuten aus, dann ging sie zum Wasserhahn und wusch ihre Hände. Ich konnte nicht mehr hinsehen, hörte hinter mir die schabenden Geräusche, minutenlang, sie wusch ihre Hände nicht, sie zerkratzte sie, setzte sich wieder, um kurze Zeit später die Prozedur zu wiederholen. Das letzte Mal, als sie mich besuchte, hatte ich Angst vor ihren Angewohnheiten. Ich schlug ein Restaurant vor, da war der Weg zum Wasserhahn weit, und wenn sie ihn ging, würde ich die Einzelheiten nicht mitbekommen; ihre Hände sehen zu müssen, reichte mir.
„Lass uns zu Marcello gehen“, sagte ich.
„Leo hat dort immer die Linguine mit Lachs gegessen“, antwortete sie. „Ich kann da nicht hin!“
Als sie in die Wohnung kam, hatte sie ihre Jacke noch nicht ausgezogen und fragte: „Kannst du dich an den Morgen erinnern, als es passiert ist?“
Natürlich konnte ich das. Und vermutlich erinnere ich mich an mehr als sie.
Ich habe mit Julian nicht über Melanies Veränderungen geredet, Gespräche fanden kaum noch statt. Außerdem war alles offensichtlich, was sollte man reden über Dinge, die alle wussten, sich aber nicht ändern ließen. Wir lebten weiter, so gut es eben ging. Dann trennte sich Melanie von ihm. Und Helen sich von mir.

Es ist jetzt drei Jahre her, seit dem Weltuntergang. Wir hatten die Reise gemeinsam geplant, ein Haus gemietet über zwei Etagen, mit Pool und Außengrill, oben zog ich mit meiner Frau ein, unten hauste die kleine Familie. Der Fünfjährige konnte noch nicht schwimmen und Melanie wachte mit Argusaugen über jede Bewegung ihres Sohnes, der fast die gesamte Zeit mit Schwimmflügeln über das Areal tobte. In der Nähe gab es einen großen Zoo mit Raubtieren, Elefanten, Giraffen, das ganze Programm. Bei schlechtem Wetter ein Kontrastprogramm mit dem Kleinen, der Tiere liebte und fasziniert war von einem Panther, der, wenn er nicht in einer Ecke lag, seine Kreise durch das Freigehege zog. So dunkel, dass man die Flecken im Fell kaum erkennen konnte, mit gelben Augen und schmalen schwarzen Pupillen, starr und regungslos.
Zweimal war ich mit Leo im Zoo, allein mit ihm, damit die anderen ihre Zeit ohne Kinderbetreuung verbringen konnten; der Kleine konnte einen ganz schön auf Trab halten. Meine Frau war dankbar, dass sie ihr Buch lesen konnte, Julian hatte nichts gegen eine Auszeit und Melanie ließ mich mit dem Kleinen ziehen, nicht ohne einen Rucksack von der Größe eines Reisekoffers zu packen. Der schwarze Leopard lag in einer Ecke, Leo hatte ein Eis in der Hand. Die gelben Augen waren auf uns gerichtet. Obwohl das Tier keine Bewegung machte, wirkte es bedrohlich.
„Können Tiere auch mal ausbrechen?“, fragte Leo.
„Nein“, beruhigte ich ihn. Die sechs Meter hohen Eisenstangen hätten selbst einen Elefanten am Ausbruch gehindert, darüber war ein Stahlnetz gespannt, nur durchbrochen von einem riesigen Baum in der Mitte des Geländes, dessen Krone majestätisch in den Himmel ragte.
"Ausgeschlossen!", bekräftigte ich, wir gingen weiter zu den Affen.

Aber ich lag falsch. Abends verschwand der Panther aus dem Zoo, bevor er in den Innenbereich geholt werden sollte. War einfach weg. Spurlos. Alarm wurde ausgelöst, die verbliebenen Besucher evakuiert, die Eingänge geschlossen. Das Sicherheitspersonal versuchte ergebnislos, das Tier zu lokalisieren. Die Polizei wurde hinzugezogen, riegelte das gesamte Viertel ab. Der Leopard war wie vom Erdboden verschluckt. Die Zoodirektion konnte sich den Ausbruch nicht erklären, alle Schutzmaßnahmen waren erfüllt und funktionierten, auch waren keine Pfleger im Gehege, die nachlässig agiert hätten, und selbst wenn, waren die Türen automatisch und doppelt gesichert. Nach einer weiteren Überprüfung wurde gegen 22 Uhr die Presse informiert. All das war mir zu dem Zeitpunkt nicht bekannt. Leo und ich hatten den Zoo längst verlassen.

Abends grillten wir, das Wetter hatte eine erfreuliche Wendung genommen. Leo rannte in seinem blauen Fußballtrikot über das Gelände, natürlich mit Schwimmflügeln an den Armen, Melanie bestand darauf. Ein lauschiger Abend bei Wein und Apfelschorle, ein Barsch lag in Alufolie auf dem Feuer, für Leo gab es Pommes. Wir spielten Karten – der Kleine gewann häufig, sehr wichtig für seine Laune - und gingen gegen zehn ins Bett. Ich weiß noch, dass die Betten sehr hart waren, meine Frau bekam Rückenprobleme und nahm seit Tagen Schmerztabletten. Aber es war sehr ruhig auf dem Anwesen, ein großer Unterschied zu unserer Stadtwohnung im Hochparterre, in der es immer Geräusche gab. Auf dem Tisch lag ein Brotmesser, sicher dreißig Zentimeter lang und eine Tüte Milch stand dort. Ich stellte die Milch in den Kühlschrank. Schloss die Tür ab, eine alte Gewohnheit. Ich weiß, dass Melanie die Tür ebenfalls immer abschloss. Mein Sohn lachte über unsere Vorsichtsmaßnahmen, insbesondere hier auf ländlichem Terrain, wo außer uns niemand war; das Anwesen stand allein, umgeben von Wiesen, Büschen und ein paar Bäumen. In der Nacht kam Julian und klopfte. Die kleine Familie hatte kein Wasser mehr. Ich gab ihm eine Flasche und schloss wieder ab.

Wovon ich wach wurde, kann ich nicht sagen. Ob es ein Geräusch war, oder einfach die Unruhe vor dem Tag der Abreise. Mit zunehmendem Alter stressten mich die An- und Abfahrtstage: Packen, Reisedokumente griffbereit haben, nichts vergessen, auch nicht die Dinge im Bad. Am Pool hing noch mein Handtuch über einer Liege, das hoffentlich getrocknet war. Ich betätigte die Kaffeemaschine und trat hinaus, das erste Tageslicht zeigte einen wolkenlosen Himmel, es würde schön werden heute. Ich ging die helle Steintreppe hinunter, die zur Terrasse führte. Der Sandstein bröckelte an einigen Kanten, ich setzte meine Schritte vorsichtig. Auf halber Treppe sah ich das Tier. Es lag kurz vor dem Pool, unter ihm ein kleines, blaues, blutiges Knäuel. Der Panther hob den Kopf, starrte mich an. Ich starrte zurück. Dann erhob er sich, ohne mich aus den Augen zu lassen. Wartete geduckt. Ich konnte Leo unter ihm deutlich erkennen. Die Ohren des Raubtiers waren angelegt, die Lefzen hochgezogen, die Reißzähne entblößt, ein zischendes Fauchen folgte. Langsam ging ich die Stufen zurück, rückwärts, bis ich die Tür erreichte und hinter mir schloss. Das Messer lag auf dem Tisch. Ich nahm es und legte es in den Schrank. Dann ging ich zu meiner Frau ins Bett, ohne den Kaffee angerührt zu haben.

Die Erinnerung an das Folgende hat Löcher, manches sehe ich in Großaufnahme, Einzelheiten, die überhaupt keine Rolle spielen, laufen wie in Zeitlupe ab. Anderes verschwimmt zu Schemen, die ich nicht scharf stellen kann. Melanies Schreie, der Kleine auf dem Boden liegend, meine Frau, die auf den Kaffee schaut und mich fragend ansieht, die Geräusche der Polizeiwagen, das Blau des Pools, an dessen Seite ein Handtuch auf einem Liegestuhl liegt. Ich habe keine Erinnerung daran, wie wir nach Hause gekommen sind. Was man sagen kann, ist, dass sie das Tier wieder eingefangen und in den Zoo zurückgebracht haben. Es stellte sich heraus, dass der Baum in der Mitte des Geländes den Ring gesprengt hatte, an dem das Stahlnetz um ihn herum befestigt war. Dadurch waren einige Maschen gerissen und es entstand ein kleines Loch, durch das sich ein Leopard offenbar zwängen konnte. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Das Netz wurde erneuert und der Ring um den Baum verstärkt, alle anderen Sicherheitsmaßnahmen funktionierten einwandfrei, es gab keinen weiteren Handlungsbedarf. Ein bedauerlicher Unfall, dieZoodirektion verwies auf den Technischen Dienst, am Ende gab es keinen Schuldigen. Außer mir vielleicht. Oder Julian, der die Tür unten nicht abgeschlossen hatte. Zumindest warf Melanie ihm das vor. Julian konnte sich nicht erinnern. Warum der Kleine in aller Herrgottsfrühe die Wohnung verließ? Wer kann das wissen? Vielleicht wollte er zu uns nach oben kommen, mit mir über Fußball reden, es gab kaum ein Thema, was ihn mehr interessierte. Er war besessen von Mannschaften, Spielern, den Tricks und den Jubelgesten der Akteure.

In der Familie redeten wir über gar nichts mehr, mit Ausnahme von Melanie, die nicht aufhörte. Meine Fau fragte einmal: „Du hast dir Kaffee gemacht an dem Morgen?“
„Hör jetzt auf damit!“, sagte ich. Was hätte ich denn sagen sollen?
„Jetzt scheinst du auf Wein umgeschwenkt zu sein“, entgegnete sie.
„Ich trinke morgens nicht!“, stellte ich klar.
Sie hatte einen Korb mit leeren Weinflaschen neben die Eingangstür gestellt. Es waren ziemlich viele, die konnten nicht nur von mir kommen. Allerdings trank sie keinen Grauburgunder, oder war umgestiegen, ohne dass ich es bemerkt hatte.
Ich konnte nicht mehr arbeiten, verkaufte meinen Anteil an dem Einrichtungsstudio, das ich mit einem Partner betrieb. Die folgende Leere bekämpfte ich mit Sport, wurde Mitglied in einem Fitnessstudio, das ich täglich besuchte, manchmal morgens und abends. Dazu kamen erste Joggingrunden um einen nahegelegenen See. Helen verfolgte meine Entwicklung mehr oder weniger kommentarlos. Wir waren dreißig Jahre verheiratet.
„Ich kann das nicht mehr!“, sagte sie. Das war alles, mehr sagte sie nicht.
Ich überließ ihr die Eigentumswohnung und zog in ein kleines Apartment im Norden der Stadt. Sie hatte keine Schuld an all dem.

Als ich die Steintreppe rückwärts hochging, gab es Alternativen. Ich hätte schreien können, das Tier anbrüllen, mit den Armen fuchteln. Wäre dann Melanie herausgestürzt, auf den Leoparden zu, oder Julian? Hätte es weitere Opfer gegeben? Das Raubtier machte auf mich nicht den Eindruck, als wäre es zur Flucht bereit, es wollte eher seine Beute verteidigen. Die lauernde Stellung, der leicht zuckende Schwanz, der Körper zum Sprung bereit. Aber ich war nicht in Sorge um die Anderen. Zehn Meter war die Katze entfernt. Wäre sie losgesprungen, hätte ich die rettende Tür nicht erreicht. Ich hatte panische Angst um mich. Nur um mich. Das war wohl alles. Auf dem Tisch lag das Messer. Ja, das war da.

Ich hatte den Hinflug schon vor Monaten gebucht. Gestern war ich im Zoo, der Panther starrte mich an. Gelbe Augen mit schmalen schwarzen Pupillen. Ob er mich erkannt hat, kann ich nicht sagen. Die kleine Ferienwohnung habe ich für zwei Tage gemietet, nicht weit entfernt. Ich habe einen Bolzenschneider dabei, eine Taschenlampe und ein Seil, um hochzuklettern. Die Eisenstangen des Gitters sind etwa sechs Meter hoch, darüber fängt das Stahlnetz an. Für einen Bolzenschneider kein Problem. Ich habe das an Zäunen zuhause ausprobiert. Seit Monaten habe ich nichts mehr getrunken, ich bin vorbereitet. Ein dreißig Zentimeter langes Brotmesser ist im Rucksack. Gegen Abend werden sie die Tiere aus dem Freigehege in den Innenbereich holen. Ich werde eine Stunde verstreichen lassen, vielleicht zwei. Es wird ruhig und dunkel sein. Im Gehege gibt es viele Stellen, an denen man nicht gesehen wird. Am Morgen werden sie den Panther wieder herauslassen.
 
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rubber sole

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@Shallow:

Hast du gut hingekriegt, Shallow, diese Geschichte über Schuld, Verantwortung und Ohnmacht; die Figur des Erzählers kommt glaubhaft rüber. Weniger plausibel: die Umstände um den Ausbruch des Panthers, hier schwächelt die Geschichte - wie dieser sein Opfer im Ferienhaus findet und tötet, liest sich für mein Empfinden stark konstruiert. Dass niemand den Vorfall bemerkt und verhindert, klingt wenig glaubhaft. Beim Verhalten des Erzählers am Morgen des Unglücks hätte ich mir eine stärkere Konfrontation mit dem eigenen Versagen gewünscht, so wirkt es wie erzählerisch nicht vollständig abgeliefert. Was mir gefällt: Das Grauen entsteht nicht durch die detaillierte Beschreibung der Gewalt, sondern durch die innere Zerrissenheit der Protagonisten. Insgesamt eine gelungene und emotional präzise, ohne Pathos erzählte Familiengeschichte.

Gruß von rubber sole
 

Shallow

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Hallo @rubber sole,

herzlichen Dank für deine Einschätzung, hat mich sehr gefreut! Bei den Umständen des Ausbruchs gebe ich dir völlig recht. Das hat mit mir natürlich nichts zu tun, wie du weißt, sondern ausschließlich mit dem Ich-Erzähler. Den habe ich zur Rede gestellt und er hat mir zugesichert, dass er seine Erzählung am Wochenende ergänzt. Schauen wir mal, ob er nicht wieder lügt. Vielen Dank nochmal und einen schönen Abend wünscht

Shallow
 



 
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