Das Leben, die Wirtschaft und anderer Schwachsinn

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Thomas Pes

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Tobias lehnte sich auf dem Beifahrersitz zurück. Er genoss es sichtlich, einmal nicht selbst fahren zu müssen. Er schaute zum Fenster hinaus und sah der Landschaft zu, wie sie an ihm vorbeizog. Die tiefgrünen Weiden, unterbrochen von kurzen Waldstücken, zu betrachten, tat ihm gut. Es war ein herrlicher Juni Sonntagnachmittag. Morgen musste er wieder hochkonzentriert sein. Er war auf Arbeit in den letzten Monaten extrem angespannt gewesen. Einige seiner Projekte standen kurz vor dem Abschluss. Gut, dass es immer mal wieder so ein Wochenende gab, an denen er so voll aussteigen konnte, dachte er. Vor allem war Tobias froh solche Freunde wie Daniel zu haben, denen es genauso ging. Er streckte sich und zerrte eine zerknitterte Schachtel Zigaretten aus der Hosentasche. Er fingerte eine Zigarette aus der Packung und steckte sie sich in den Mund. Dann suchte er seine Hosentaschen nach dem Feuerzeug ab.
„Ich will eigentlich nicht, dass in meinem Auto geraucht wird.“, machte sich Daniel auf dem Fahrersitz bemerkbar. Tobias schaute kurz zu ihm hin.
„Ach ja,“ Er steckte die Zigarette zurück in die Schachtel. Die legte er auf das Armaturenbrett. Tobias hatte volles Verständnis für Daniel. Auch er mochte es nicht, wenn sein Auto nach Rauch stank.
„Rauchst du jetzt eigentlich wieder?“ fragte Daniel.
„Nee, bloß zu bestimmten Anlässen. Wie am Wochenende jetzt,“ antwortete Tobias. Dann schwiegen sie wieder. Beide schauten auf das vor ihnen entlangflimmernde Band der Autobahn.
„Wie fandest du eigentlich das Open Air?“, fragte Daniel in das Schweigen hinein. Es war deutlich zu merken, dass ihn Tobias Antwort eigentlich nicht wirklich interessierte und er nur fragte um irgendetwas zu sagen.
„Na ja, war in Ordnung. Die Hälfte der Bands fand ich Scheiße. Aber vor allem die alten Hardcore-Kampfbands waren klasse. Ich meine, wann sieht man die alle zusammen an einem Wochenende?“
„Jaaa, ich habe die alle schon so oft gesehen. Die tauchen jedes Jahr an allen möglichen Orten auf. Man kann denen ja gar nicht aus dem Weg gehen. Die spielen doch mittlerweile auf jeder Baumarkteröffnung.“ Daniel schüttelte den Kopf und grinste. Lässig legte er den Kopf auf die Kopfstütze. Tobias war enttäuscht. Er ärgerte sich über Daniels Arroganz: „Ich geh halt nicht mehr so oft auf Konzerte.“ Dann schwiegen sie wieder einige Minuten.
„Ganz schön viel junges Gemüse, dort“, brach Daniel wieder das Schweigen. Tobias wusste, dass sein Freund Stille nur sehr schwer vertrug. Deshalb beschloss er ihn jetzt zu ärgern. Er nickte nur und sagte nichts. Tobias war gespannt, wie lange es dauern würde, bis Daniel wieder mit irgendwelchen Belanglosigkeiten anfangen würde. Er musste jedoch eine ganze Weile warten. Aber war ihm auch klar, dass um so länger das Schweigen andauerte, um so mehr der Drang in Daniel ansteigen würde, etwas zu sagen. Er behielt recht. Daniel begann erneut: „Naja, wir werden halt nicht jünger.“ Tobias wartete eine Weile mit seiner Antwort. Er kostete die Spannung aus. Dann antwortete er: „Ach was, mir ist das so was von egal, wie alt die Leute dort sind. Ich bin kein anderer Mensch als der, der ich vor zehn Jahren war. Insofern bin ich auch nicht älter. Jedenfalls nicht vom Kopf oder der Haltung oder wie soll man es nennen?“
„Na, na, na, so ist wohl ja nicht“, antwortet Daniel, „du hast einen Job, verdienst ein Heidengeld, wohnst nicht mehr in besetzten Häusern. Ich vermute dein Freundeskreis hat sich bestimmt auch geändert.“
„Na und? Trotzdem bin ich noch immer derselbe,“ wiederholte Tobias. Ihm missfiel der moralisierende Ton, mit dem Daniel sprach. Außerdem hatte er keine Lust auf Themen, die sich um das Älterwerden drehten. Es war ihm immer verhasst, darauf angesprochen zu werden. Es hatte für ihn immer so etwas Resignatives, Endgültiges. Darüber hinaus ärgerte er sich immer über Menschen für die das ein Thema war. Das waren für ihn Leute, die für ihr eigenes Versagen immer einen Grund suchten, für den sie nicht verantwortlich waren. In diesem Falle eben den Grund des unaufhaltbaren Älterwerdens.
„Was soll das eigentlich? Hast du irgendein Problem mit dem Älterwerden?“ spöttelte Tobias und drehte sich theatralisch zu Daniel. Der schwieg eine Weile. Er dachte nach, das konnte Tobias deutlich erkennen, ja fast fühlen. Es sah aus als ob sich Daniel auf die Straße konzentrierte. Sie erreichten gerade ein Autobahnkreuz, der Verkehr wurde etwas dichter, sie mussten die Spur wechseln und abbiegen. Es war aber eigentlich keine schwierige Situation. Es herrschte nur moderates Verkehrsaufkommen und die Strecke war beiden bekannt. Aber erst als es wieder gerade aus ging, antwortete er: „Ich meine doch nur, dass sich soviel geändert hat. Wenn man sich überlegt wie wir früher drauf waren. Heute stehe ich auf, gehe in die Schule, halte meinen Unterricht, während meine Frau die Kinder in den Kindergarten bringt und ihren Halbtagsjob macht. Abends essen wir Abendbrot, spielen bisschen mit den Kindern, eine Stunde vor der Glotze, und das war’s dann. Das ist genau, dass was wir früher gehasst haben, was wir doch alle nicht wollten.“
„Ach da liegt dein Problem!“ Tobias lachte. Die alte Leier, dachte er, der Herr Lehrer steckt in einer Sinnkrise. „Das ist doch so, dass wir früher noch nicht soweit waren, das Leben zu führen, was alle führen. Wir haben studiert, da war es doch leicht sich über die ganzen Spießer lustig zu machen. Jetzt stecken wir selber bis zur Halskrause in dieser Scheiße.“ Er lachte erneut und schüttelte den Kopf über Daniels Probleme. Gedanklich fuhr Tobias fort seinen Freund zu verspotten.
„Und du? Du willst dich überhaupt nicht verändert haben?“ ,fragte Daniel ärgerlich und in einem etwas aggressiven Tonfall.
„Nein, nicht wesentlich. Ich lebe das Leben auf dass ich hingearbeitet, oder besser hingelebt habe.“ ,antwortete Tobias im Grundton tiefster Überzeugung.
„Aber du bist Physiker! Und wo arbeitest du? Im Marketing von einer Waschmaschinenfirma. Warum bist du nicht Wissenschaftler geworden und hast promoviert, wie die meisten deiner Studienkollegen? Du warst doch gut im Studium!“
„Weil es keinen Wert hat!“, Die Antwort kam sofort und entschieden. Tobias leckte sich über die Lippen. Aber eigentlich ärgerte er sich über seine unbeherrschte Ehrlichkeit. Es hätte ihm Spaß gemacht, Daniel eine Weile hinzuhalten und ihn noch etwas zu foppen. Aber da er nun einmal damit angefangen hatte fuhr er fort: „Wir leben in einer Zeit und einer Gesellschaft in der es darauf nicht ankommt. Du kannst doch genau ablesen welchen Wert welche Arbeit hat: nämlich am Geld! Ein Wissenschaftler verdient wesentlich weniger als zum Beispiel...“, Tobias überlegte, kratzte sich am Kopf, „...als zum Beispiel ein Controller. Der hat nichts weiter zu tun, als irgendwelche Zahlen hin und her zu rechnen. Brauchst du nicht mal studiert haben dafür. Verdienst einen Haufen Schotter als Controller, wohnst im besten Stadtviertel. Ein Wissenschaftler verdient eben auch weniger als ein Marketingmensch.“
Daniel drehte den Kopf zu Tobias. Er zog die Stirn in Falten: „Was willst du mir damit sagen? Geht es dir nur um die Kohle?“
„Nein, verdammt“, Tobias wurde jetzt energisch. Es war ihm anzusehen wie ernst ihm diese Unterhaltung jetzt wurde. Alle Fröhlichkeit war von ihm gewichen, als er antwortete: „Ich meine, schau dir doch mal die Gesellschaft an, die Firmen, die Industrie! Wer hat da das sagen? Früher waren das Erfinder, Wissenschaftler, Wernher Siemens, das war ein Erfinder. Er hat ein paar bahnbrechende Erfindungen gemacht, eine Firma gegründet, eine Großfirma aufgebaut, seine Leute gefördert und so weiter und so weiter. Dazu hat er irgendwelche Buchhalter gehabt, die das Finanzielle geregelt haben. Die haben Service gemacht, waren angestellt. Die haben dafür gesorgt, dass die Erfinder erfinden konnten und damit die Firma voranzubringen. Heute, wer leitet heute Firmen? Die Buchhalter! Wissenschaftler sind die Angestellten, die Erfinder. Und deshalb werden die Firmen nach Buchhaltungsprinzipien geleitet. Kreativität und vorrausschauendes Denken ist nicht gefragt.“ Tobias hatte sich Rage geredet. Ihm fiel das jetzt selbst auf. Er lehnte sich wieder in seinem Sitz zurück.
Daniel antwortete: „Ich weiß immer noch nicht genau auf was du hinaus willst. Ich habe dich gefragt warum du kein Wissenschaftler geworden bist?“
„Wart doch mal ab“, sagte Tobias ärgerlich, „ ich bin doch gerade dabei das zu erklären. Ich meine die Buchhalter. Also in der Entwicklungsabteilung bei uns zum Beispiel....da gab es einen, der hatte richtig gute Ideen. Wir haben da ein Patent angemeldet, dass ist bahnbrechend! Basierend auf einer seiner Ideen. Der Wahnsinn, ich meine ich bin Physiker, zwar kein Maschinenbauer oder Elektrotechniker, aber ich kann das immerhin im Gegensatz zu diesen Betriebswirtschaftlern erkennen. Aber der Typ war unbequem, hat immer rumgenörgelt über die mangelhafte und dröge Organisation der Firma und so weiter und so fort. Hat er auch recht gehabt. Wir haben wirklich nicht unbedingt das inspirierendste Arbeitsklima. Von der Umsetzung von wirklichen Innovationen ganz zu schweigen. Da haben sich die Buchhalter dann angegriffen gefühlt. Hat sie ja auch angegriffen. Ist ja ihre Aufgabe, die Organisation, meine ich. Wie gesagt, er hat eigentlich Recht gehabt, mit seiner Kritik und er hat sie noch nicht einmal provozierend vorgetragen. Weißt du was sie gemacht haben? Weißt du was?“ Tobias senkte wieder die Stimme. Als Daniel mit den Kopf schüttelte, fuhr er triumphierend fort: „Rausgeschmissen haben sie ihn, bei der erst besten Gelegenheit. Es gänge nicht mehr mit ihm, er würde nicht ins Team passen! Er sei negativ gegenüber der Firma eingestellt und würde permanent stören. Wie ein Kindergartenkind haben sie ihn behandelt. Den besten Kopf der ganzen Klitsche! Einfach entsorgt!“
„Und,“ fragte Daniel, „ hast du ihn verteidigt?“
„Bin ich bescheuert? Ich mach mich doch nicht unbeliebt. Ich mache Marketing, ich setze das um, was die von mir verlangen,“ Tobias machte eine wegwerfende Handbewegung, „Der Rest ist Arschelecken. Und wenn die Vorgaben noch so bescheuert sind, ich setze sie um. Ich setze sie um! Die Welt ist ein Boxring, und wer sich als erstes aus der Deckung traut, der hat verloren. Alle anderen schlagen gleichzeitig auf ihn ein und wenn er am Boden liegt, wird er ausgezogen bis auf das letzte Hemd. Da kann man immer noch was brauchen, auch wenn der Mensch längst selbst zu Klump geworden ist. Du glaubst mir nicht welche Scheiße ich manchmal machen muss. Dagegen war der Sozialistische Realismus eine Anleitung zum Pragmatismus und Effizienz. Ich sehe mir manche Sachen an, und weiß von vornherein, dass es Schwachsinn ist. Aber das ist nicht meine Schuld. Ich muss nur sicher stellen, dass jeder weiß, die Idee stammt nicht von mir. Fehlerdiskussion gibt es ja so wieso nicht. Selbstkritik lernst du nicht im BWL-Studium. Nur wie man arbeitet ohne Risiken einzugehen, das haben sie aufgesaugt wie die Muttermilch. Soll doch die Welt ändern, wer will, mein Gehalt läuft auch so weiter.“
Daniel machte: „Mmmh“, er schüttelte den Kopf, „und der Laden funktioniert?“
„Klar,“ nickte Tobias, „Waschmaschinen werden immer gebraucht. Und unser Krempel verkauft sich aufgrund unserer Marktmacht so oder so. Es könnte auch besser funktionieren, bessere Produkte, weniger Wasserverbrauch und so. Aber warum sollten wir das umsetzen? Das ist doch Scheißegal!“
„Reißen euch die Chinesen nicht den Arsch auf?“
„Ach die Chinesen“, Tobias winkte ab, „das ist keine Frage der Innovation. Die kupfern doch nur ab. Die bauen denselben Schrott wie wir, nur eben billiger. Aber wir haben einen Namen, eine Marke. Deshalb kaufen die Leute unsere Maschinen. Verstehst du, der Name?! Deshalb bin ich im Marketing. Es geht nur um Blablabla. Die Marke, der Name ist wichtiger als das Produkt selber. Wenn du das Markenschild abmontierst unterscheiden sich die Geräte, die du kaufen kannst nur marginal. Und das Markenmachen und erhalten wird besser bezahlt als was wirklich Innovatives. Mach ich halt Blablabla. Und ich bin gut darin. Zudem bin ich dadurch flexibler. Wenn die mich nicht mehr haben wollen, geh ich zur nächsten Firma und mache Marketing für Zahnbürsten.“
„Versteh ich,“ sagte Daniel, „aber warum hast du dann nicht gleich Wirtschaft studiert?“
„Du verstehst mich nicht,“ Tobias schüttelte den Kopf, „Ich habe nichts gegen Wirtschaftler. Ich habe Respekt vor diesen Leuten. Ich meine ein guter Buchhalter ist schon was wert, das ist ein ehrenwerter Beruf. Aber du kommst auch als einfacher Wirtschaftler nicht in die Positionen, in denen du bestimmen kannst. Es ist auch nicht so, dass dort nur Leute sitzen die Wirtschaftswissenschaft studiert haben. Die Produktionsplanung bei uns wird von einer Germanistin gemacht. Was glaubst du qualifiziert sie für diesen Posten? Na, was denkst du?“
„Keine Ahnung.“
„Sie ist die Nichte von einem Aufsichtsratmitglied! Mein Chef ist Jurist, sein Vater hat eine große Wirtschaftskanzlei. Also hat er auch Jura studiert. Er geht mit einem der Geschäftsführer Golf spielen. Der Typ ist jünger als ich, verdient wesentlich mehr als ich und ist fachlich eine totale Null. Wir nennen ihn Betonscheitel, weil er so eine bekloppte Golfspielerfrisur hat. Du weißt wie die Typen aussehen. Der gehört halt zum Club! Das steckt doch hinter dem Elitegequatsche von diesen ganzen Arschlöchern. Er wird bald den nächsten Schritt machen. Wir wollen ihn loswerden und alle anderen auf seiner Ebene auch. Also wird er nach oben weitergereicht. Damit sind dann alle zufrieden, wir und seine Gönner und Förderer, denen er in den Arsch kriecht und er kann sein Haus abbezahlen.“
Tobias schlug sich mit den flachen Händen auf die Oberschenkel. Dann seufzte er und lehnte sich zurück. Daniel schwieg. Beide starrten jetzt wieder auf die Fahrbahn. Tobias war ernst geworden, er schaute auf die Uhr. Er ärgerte sich darüber, dass es Daniel gelungen ist, ihn soweit aus der Reserve zu locken. Wenn Tobias monologisiert hatte, hasste er sich immer hinterher. Ihm kam es dann vor, als ob man sich nach einer durchzechten Nacht über dass ärgerte, was man im Suff von sich gegeben hat. Es ist komisch, dachte Tobias, Daniel ist es, der schweigt. Sonst war es immer umgekehrt. Dann entspannten sich seine Gesichtszüge und er setzte wieder eine unbekümmerte Mine auf. Er begann wieder die an ihm vorbeiziehende Landschaft zu beobachten.
„Das ist gar nicht was ich meinte,“ lies sich nach einer gewissen Zeit Daniel hören, „ich meine nicht so direkt. Es geht darum wie sich die Leute ändern. Schau dir Markus an. Der hat zum harten Kern gehört. Der war ein richtiger Anti. Konnte sich über die spießige Schrankwand seiner Eltern stundenlang aufregen. Und voriges Jahr hat er geheiratet, katholisch. Er ist sogar konvertiert, um seine Braut mit allem Brimborium zu ehelichen.“
Tobias merkte jetzt, dass er Daniel vorhin etwas dargelegt hatte, was der gar nicht wissen wollte. Er hatte das ausgeführt, was ihn selbst bewegte. Ärgerlich antwortete er: „Das Girlie war ihm halt wichtiger als sein Heidentum.“
„Nein,“ antwortete Daniel mit Bestimmtheit, „der ist glücklich dabei. Der hat sogar irgend so was wie Gemeinschaft gefunden.“ Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: „Weißt du was der zur Hochzeit geschenkt bekommen hat? Ein Vogelbad! Das ist eine Steinmetzarbeit aus Granit. Also wenn der noch mal umzieht, kann er auf meine Hilfe nicht bauen. Das Ding schleppe ich nicht!“ Beide lachten.
„Du hast das alles viel zu ernstgenommen,“ antwortete Tobias und schlug einen versöhnlicheren Ton an, „das mit dem anderen Leben. Das ist halt der Lauf der Dinge. Ich glaube nicht, dass sich die Leute so sehr verändert haben. Die haben ein bisschen was los gemacht, als sie noch keine Zwänge hatten. Da haben sie jetzt alle was, was sie sich im Alter erzählen können. Aber als es dann ernst geworden ist, als es drauf ankam irgendetwas umzusetzen, von dem was man so rumgesponnen hat, war es aus. Husch, husch, alle zurück ins Körbchen.“
Tobias begann leise zu singen: „From the eastcoast to the westcoast, gotta gotta go, true sounds of a revolution gotta gotta go, in our hearts and in our souls, gotta gotta go, united we stand…” er lachte, „alles Scheiße, alles Show.”
„Du hast das also noch nie ernst genommen?“ fragte Daniel mit verwunderter Stimme.
„Jedenfalls nicht so wie anscheinend du.“
Daniel schüttelte den Kopf. Er holte Luft, als ob er anfangen wollte zu reden, öffnete auch den Mund, machte ihn jedoch wieder zu und schüttelte erneut den Kopf. Erst dann fing er an zu sprechen: „Aber du warst doch Hausbesetzer. Du hast doch in so einer Art Kommune gelebt?“
„Na und? Ich hatte keine Kohle. Und was du Kommune nennst, das war auch nichts anderes als eine WG, nur dass wir eben keine Miete bezahlt haben. Und von dem ganzen ideologischen Quatsch habe ich mich ferngehalten. Das fand ich schon immer bescheuert. Aber das weißt du doch.“ Den letzten Satz sagte er in einem vorwurfsvollen Ton. „Da gab es ja auch diese Spinner, die immer Versammlungen abhalten wollten. Das haben die Plenum genannt. Wie bescheuert muss man sein!? Da war ich immer entschuldigt.
Die wollten am liebsten achtundsechzig wiederholen, aber diesmal alles richtig machen. Keine Ahnung was aus denen geworden ist, ob es einer von denen wirklich in die Politik geschafft hat. Ich weiß es wirklich nicht. Ist mir auch egal. Gegen Ende haben wir uns immer nur noch gekracht. Alle, auch die Spinner untereinander.“.
„Ja, ja aber trotzdem...“ Daniel brach mitten im Satz ab.
„Was trotzdem? Es gibt sogar Leute die behaupten Punk sei ein Missverständnis gewesen. Vielleicht wollte ich auch nur im Alter was zu erzählen haben.“ Tobias grinste. Dann fuhr er fort: „Aber dass gerade du dir darüber Gedanken machst, das wundert mich. Du bist doch nie ideologisch gewesen?“
„Trotzdem mache ich mir halt Gedanken.“
„Du bist unzufrieden mit deinem Leben, das ist es doch,“ sagte Tobias.
„Nenn mir einen der zufrieden ist?“
„Markus.“
Beide lachten wieder. Dann schwiegen sie wieder eine Weile. Tobias war froh, dass die Spannung aus ihrem Gespräch heraus war. Auch Daniel entspannte sich jetzt. Er zog die Schultern hoch und lies sie wieder fallen. Sie waren jetzt schon über eine Stunde unterwegs. Zwei weitere folgten noch. Daniel hatte beschlossen, selbst die ganze Zeit hinter dem Steuer zu bleiben. Aber sie mussten noch einmal anhalten um zu tanken. Was für ein herrlicher Tag, dachte Tobias.
Nach einer Weile wurde Daniel wieder ernst: „Aber ich frage mich wohin wir gehen. Ich meine, es geht doch immer weiter bergab. Ich kann nicht sehen, dass sich diese Gesellschaft irgendwie entwickelt. Meine Schüler werden von Generation zu Generation immer blöder. Ich habe das Gefühl, dass wir irgendwie einen Gipfel überschritten haben und es ab jetzt nur noch bergab geht. Die Leute kennen sich nur noch im Fernsehprogramm aus. Die scheinen auch nichts mehr zu erleben.“ Daniel schaute gerade aus: „Es klingt zwar blöd, aber ich mache mir ernstlich Sorgen darüber. Irgendetwas muss doch kommen, irgendein Qualitätssprung nach vorn!“
Tobias grinste wieder. Es amüsierte ihn sichtlich, wie sich sein Freund wandt. Mann, der leidet ja richtig, dachte er, selber daran schuld, wäre er doch kein Lehrer geworden, müsste er sich nicht mit dem gesellschaftlichen Elend auseinandersetzen!
In spöttischem Ton antwortete er: „ Du machst dir Sorgen. Es ist ein Brauch von alters her, wer Sorgen hat, hat auch Likör. Du denkst zuviel, das ist dein Problem. Seit du nicht mehr säufst, denkst du zuviel. Das stört den Verstand und nimmt dir die Intelligenz!“ Dann breitete er, soweit es die enge des Autos zu lies, theatralisch die Arme aus und deklamierte: „Sorge dich nicht, lebe!“
Daniel zog die Stirn in Falten und antwortete ärgerlich: „Sprüche, blöde Sprüche, was anders fällt dir dazu nicht ein.“
Tobias lachte. Dann sagte er: „Lass uns doch einen Think tank gründen. Da können wir dann daherschwafeln und im Internet bloggen und versuchen die Welt zu verändern. Das Problem ist nur, dass da so viele schon schwafeln, dass du gar nicht auffällst unter denen. Und die Masse verlangt nach einfachen Lösungen. Wer hat heute noch die Nerven sich lange Traktate reinzuziehen? Alle sagen, es läge an der Zeit, aber he, es liegt an den Nerven, nur an den Nerven!“ Er lachte wieder und schüttelte den Kopf dabei. Das überraschende dabei für ihn war, dass Daniel jetzt nickte. Er antwortete: „Ja, Scheiße, damit hast du ausnahmsweise recht. Es sind die Nerven. Die Leute leiden an einer Art Nervenkrankheit. Keiner kann sich mehr konzentrieren. Das ist nicht nur bei meinen Schülern so. Alles muss schnell, schnell gehen. Schnell in die Schule gehen, schnell mitschreiben, dann schnell studieren und dann das machen, was alle machen. Alle wählen nur zwischen Pizzabelag und Programme umschalten. Was anders kennen die Leute nicht mehr. Alles andere braucht auch Konzentration. Eine ganze Gesellschaft auf Drogen!“
„Dabei haben die meisten nie den Mut besessen, es wirklich mal mit echten Drogen zu versuchen!“ Tobias Grinsen hatte sich noch verbreitert, als er Daniel zuhörte. Dann nickte er jedoch: „Aber du hast schon recht, es ist irgendwie alles halbfertig, was es gibt. Wie ich gesagt habe, es wird nur noch irgendwelcher Mist hergestellt, produziert. Das meine ich auch auf intellektueller Ebene Auf der anderen Seite, haben sie Leute auch nichts mehr auszuhalten. Keiner hungert oder so. Jedenfalls nicht bei uns. Der Druck ist weg. Und wenn kein Druck mehr da ist, lebst du im luftleeren Raum, quasi im Vakuum.“ Er freute sich über die Metapher die ihm eingefallen war. „Wir leben in einer vakuumierten Blase, auch wenn anderswo auf der Welt Kinder verrecken an Krankheiten, die wir hier nicht mal mehr buchstabieren können. Das einzige was wir tun müssen ist nicht aus der Reihe zufallen oder krank zu werden. Der eine wird zur Maschine, der zweite nervös. Es macht keinen Sinn sich darüber den Kopf zu zerbrechen.“
Daniel wurde diese Diskussion dann doch etwas zuviel. Er spitzte die Lippen. Tobias erkannte daran, dass er jetzt überzogen hatte und das Gespräch in eine Richtung lief, die Daniel nicht passte.
„Und“, fragte er deshalb, „ was ist die Lösung?“ Und als Daniel mit den Schultern zuckte, fuhr er fort, „Wir wissen es nicht, weil wir genauso hilflos sind, wie alle anderen! Es macht gar keinen Zweck sich über den Zustand der Gesellschaft Gedanken zu machen! Die Analyse des Istzustandes ist nämlich die eine Sache, ihn zu verändern die Andere!“
Daniel schnaufte, „ Jetzt kommt er mir noch mit Marx! Das ist nun wirklich Mottenkiste!“
„Wieso“, entrüstete sich Tobias, „wenn es doch stimmt? Marx ist auch nur ein Analytiker. Auf die Frage wie er die Gesellschaft denn ändern wolle, hat er auch nur wolkig geantwortet. Revolution, Revolution kann jeder sagen. Die blutigen Revolution haben andere hineininterpretiert. Das waren Lenin und Konsorten. Er hat sich dazu nicht so direkt geäußert.“
Daniel schüttelte den Kopf. „Du willst doch nicht sagen, dass du Marx gelesen hast?“
„Naja, nicht im Original, aber so in groben Zügen kenne ich mich schon aus“, antwortete Tobias in tiefster Überzeugung.
„Wenn er nur ein Analytiker war, wie du sagst, dann ging es ihm ja auch nicht anders als uns. Aber er hat ja schließlich die Gesellschaft verändert, zumindest für eine Weile. Ob dies zu ihrem Guten war, steht auf einem anderen Blatt.“
Tobias ging die Diskussion in eine Richtung, auf die er definitiv keine Lust hatte. Er schwieg deshalb.
Daniel begann jedoch nach ein paar Minuten von Neuem: „Was ist jetzt? Jetzt fällt dir nichts mehr ein? Hätte dich ja nicht für einen Marxisten gehalten. Was bist du nun? Ein Marketingmarxist?“
Tobias winkte ab: „Marxist bin ich ganz bestimmt nicht. Marxisten sind Dogmatiker. Und wenn ich etwas hasse, dann sind das Dogmatiker. Ich bin gar kein –ist. Ich bin ich selbst.“
Erst nach einer ganzen Weile fing Daniel wieder an zu sprechen. Er schaute Tobias dabei nicht an, sondern hielt seinen Blick gerade aus gerichtet auf die Straße. Er sprach leise, aber man konnte deutlich spüren, wie er jedes Wort bewusst betonte: „Das Problem was ich habe, ist, dass ich mir im Studium Wissen ohne Ende reingezogen habe, weil ich geglaubt habe es zu brauchen. Ich wollte als Lehrer meinen Schülern was beibringen und glaubte, mir eine gewisse Reife anlesen zu müssen, um wirklich gut darin zu sein, was ich tue. Und jetzt stelle ich fest, dass die Schüler schon Probleme mit den Grundrechenaufgaben und der einfachsten Rechtschreibung haben, weil sie von Haus aus so gar nichts mehr mitbringen. Das macht mich echt fertig. Ich schleppe diesen ungeheuren Ballast an Gelehrsamkeit mit mir rum. Der hindert mich daran, die Dinge einfach laufen zu lassen, meine Stunden abzuarbeiten und danach nach Hause zu gehen. Verstehst du das?“
Tobias nickte: „Klar verstehe ich das. Du bringst mit deinem Studium und deinem Wissen…“ er hielt inne und dachte nach, ehe er fortfuhr, „es ist nicht nur das Wissen, es ist auch eine gewisse Art Bewusstsein, ein Anspruch, den du nicht einlösen kannst, weil er nicht abgefragt wird. Weil die Grundlagen dafür komplett fehlen. Irgendwie hast du dir mit deiner Studiererei dein eigenes Gefängnis gebaut. Das hast du nicht gewusst als du damit angefangen hast, weil sonst hättest du dir einen Ausweg gelassen, was anderes zu machen.“
Daniel schniefte und lächelte „Wenn ich gewusst hätte, dass ich mir mit der ganzen Studiererei mein eigenes Gefängnis baue, ich hätte jede Wand mit Dynamit gespickt, wie du es ja anscheinend mit deiner sarkastischen Weltsicht getan hast.“
Tobias zuckte mit den Schultern. Er wusste nicht so recht, was er darauf antworten sollte. Als Sarkast wollte er sich nicht verstanden wissen. Auf der anderen Seite, dachte er, hatte Daniel auch recht. Er war nicht so eingebaut. Er hatte die Gefahr frühzeitig erkannt und sich seine Fluchtwege erhalten. Nicht auszudenken, was geworden wäre, wenn er promoviert hätte!. Er lehnte sich zurück und atmete hörbar aus. Dann antwortete er: „Ich glaube nicht, dass ich sarkastisch bin. Jedenfalls nicht komplett und immer. Ich habe nur immer versucht, mir nichts vormachen zu lassen. Ich pflege immer zu sagen, wenn mir jemand eine negativistische Weltsicht vorwirft, dass ich Realist bin. Ich nehme die Dinge wie sie kommen und versuche geschmeidig zu bleiben. Klar, ganz ohne verbiegen geht es nun mal nicht, aber irgendwo hat das auch seine Grenzen. Ich lasse mich nicht kategorisieren. Davor bewahrt mich meine Skeptizismus. So würde ich es bezeichnen: gesunde Skepsis und nicht Sarkasmus. Wenn ich sarkastisch wäre, wäre das ein Ausdruck von Verzweiflung und verzweifelt bin ich nicht!“
Daniel sagte nichts dazu. Auch Tobias schwieg. Er hatte das Gefühl zu viel erzählt zu haben, zuviel von sich preisgegeben zu haben. Beide waren ernst geworden und schauten gerade aus auf die Fahrbahn. Die Unterhaltung, die so heiter begonnen hatte, schien eine bedrückende und gespannte Atmosphäre hinterlassen zu haben. In Tobias stieg der Zorn auf Daniel an. Er hatte es geschafft, ihn zum Reden zu zwingen und ihn dabei als Nihilisten erscheinen zu lassen. Schubladen, dachte er, nichts als Schubladen. Er wusste, dass sich Daniel für so Psychospielchen interessiert, die seiner Meinung nur dazu führten, Menschen zu kategorisieren. Sie hatten früher schon einmal eine solche Diskussion geführt, in deren Verlauf Tobias Daniels Ansätze und Schlussfolgerungen als ausgemachten Blödsinn bezeichnet hatte. Er war der Meinung, dass sich Menschen nie generell einschätzen lassen. Dass es einfach unmöglich war, die Reaktion von Individien in bestimmten Situationen vorherzusagen. Genau das hatte nämlich Daniel behauptet. Er hatte dazu Bücher angeführt und angebliche wissenschaftliche Untersuchungen. Schließlich hatte Tobias es herausgefunden, alles lief auf den Meyer-Briggs-Typenindikator hinaus. Damit hatte sich Daniel beschäftigt. Tobias lehnte das rundheraus ab. Für ihn war das Firlefanz. Wie sollte man jemand, der größtenteils introvertiert fühlte, anhand eines Fragebogens einordnen können? Seit diesem Gespräch, war er Daniel gegenüber vorsichtig geworden. Er hatte ihn auch jetzt im Verdacht, dass dieser jetzt seine Algorithmen durchging und ihn versuchte einzuordnen. Tobias fühlte sich unwohl. Er überlegte, was er sagen könnte, um seinen Freund in seinen Gedankengängen stören könnte. Ihm fiel nicht sinnvolles ein.
Schließlich war es Daniel, der plötzlich das Schweigen brach, nachdem er energisch den Schalthebel bedient hatte und eine höheren Gang eingelegt hatte, ausgeschert war, um einen LKW zu überholen, hinter dem herzufahren sie seit einigen Minuten gezwungen waren, da der überholende Verkehr auf der linken Spur zu dicht war und Daniel den richtigen Zeitpunkt verpasst hatte, ebenfalls auf die Überholspur zu wechseln. Als sie sich wieder auf der rechten Spur eingeordenet hatte, fragte er plötzlich: „Und du willst dich gar nicht verändert haben? Ich nehme es dir ab, dass du auf die Dinge von früher einen realistischeren Blick gehabt hast als viele andere. Aber ich denke, dass auch an dir die Zeit die inzwischen vergangen ist, nicht spurlos vorbeigegangen ist.“
Tobias schnaufte und überlegte kurz, bevor er antwortete: „Klar habe ich mich weiterentwickelt. Aber ich denke, dass ich die grundlegenden Dinge, oder nenn es das Leben, damals wie heute nicht anders beurteile.“ Er machte eine kurze Pause, dachte kurz darüber nach, wie sinnvoll es war Daniel zu antworten, dann fuhr er aber fort: „Es ist nett Kohle zu haben, aber ich weiß es geht auch ohne. Dass ist das, was ich von früher mitgenommen habe. Ich könnte auch jetzt, wenn sich irgend etwas grundlegend ändern sollte, wieder ohne oder mit sehr viel weniger leben. Klar es würde mir Mühe machen, man gewöhnt sich schließlich an all diese kleinen Bequemlichkeiten, aber es würde gehen. Bei anderen habe ich da so meine Zweifel, dass sie ohne ein hohes Einkommen ein angenehmes Leben zu führen in der Lage wären.“
„Geld, Geld, du sprichst immer nur über Geld,“ Daniel wurde lebhafter, „das ist nicht alles. Du sprichst viel zu sehr über Geld. Ist das dein Leben? In Ordnung, dass ist es an dem du den Wert bemisst, was du machst. Zumindest das, was du beruflich tust. Aber es gibt ja noch etwas jenseits davon. Und das hat meiner Meinung mit Lebenseinstellung zu tun. Ich nehme es dir einfach nicht ab, dass du dich da nicht verändert hast!“
Tobias sagte erst einmal nichts. Er überlegte. Es war ihm nicht so richtig klar, auf was Daniel hinauswollte. Er steuerte einen gewissen Punkt an. Das fühlte er. Daniel diskutierte immer so. Er führte Diskussionen immer so, bis er seinen Gegenüber in der Ecke hatte, aus der ihm gar nichts mehr anders übrig blieb, als zu zustimmen. Tobias hasste das und er wusste auch, dass es Daniel liebte, recht zu haben. Vielleicht war er deshalb Lehrer geworden. Er glaubte sogar, einmal von Daniel genau dafür eine Bestätigung gehört zu haben. Aber diesmal wollte er auf der Hut sein, nahm sich Tobias vor. Dennoch antwortete er: „Ich weiß nicht recht auf was du hinaus willst, aber ich habe dir eigentlich schon vertickt, dass ich nicht glaube meine Lebenseinstellung großartig geändert zu haben. Klar, ich habe dazugelernt, Erfahrungen gemacht, aber im Großen und Ganzen, ich bin immer noch ich. Ich habe mich nicht sehr verbiegen lassen.“
„Das nehme ich dir aber eben nur zur Hälfte ab. Das mit dem verbiegen, da habe ich keine Zweifel bei dir. Dazu bist du viel zu analytisch in deinem Denken. Aber das andere, das glaube ich dir einfach nicht. Wahrscheinlich glaubst du selbst, was du sagst, aber du kannst nicht mehr zurück, dazu bist du schon viel zu weit gegangen. So sieht es doch aus!“ Daniel war immer lauter geworden, als er Tobias wiedersprach. Der winkte jedoch ab:
„Blödsinn, ich könnte immer noch mit weniger Geld auskommen. Ich habe das halt gelernt. Außerdem kann ich den ganzen Scheiß um mich herum einordnen. Jedenfalls besser als die Typen die mit dem goldenen Löffel großgeworden sind. Du sagst es, ich denke analytisch!“
„Genau da liegt der Punkt. Du willst bestimmt nicht mehr in einem besetzten Haus wohnen, oder gar in einen Vorortslum ziehen, wo die meisten deiner Nachbarn Sozialhilfe beziehen. Du hast dich auch dran gewöhnt bei Tante Edeka einzukaufen und nicht bei Penny.“ Daniel trumpfte auf. Er war sich seiner Argumente sicher. „Du hast mir selbst mal erzählt, dass du Fußballgröhlerei nur noch sehr schwer ertragen kannst. Und was haben wir damals selbst gegröhlt, zu allen möglichen Anlässen!“ Daniel lachte. Tobias blieb ernst und schüttelte den Kopf.
„Quatsch,“ antwortete er, „ich geniese es mir Dinge leisten zu können, aber um es geniesen zu können, muss ich wissen, dass ich es im Grunde genommen gar nicht brauche. Dass es auch anders geht und es einem nur das Leben bequem macht. Das ist es, was ich mitgenommen habe. “ Er schüttelte erneut den Kopf. „ Und was das Gegröhle angeht, na ja, das sind vielleicht die Nerven und die Erkenntnis, dass wir damals auch viele Leute gestört haben.“
„Du kannst gar nicht mehr so leben wie damals! Warum hast du dich nicht für deinen Kollegen eingesetzt, als er ungerechterweise rausgeschmissen wurde? Warum arbeitest du noch für solche Arschlöcher?“, Daniel senkte die Stimme: „Weil du Schiss hast! Weil dir die Muffe geht, dass deine Karriere einen Knick kriegen könnte, weil du dich so an den ganzen Luxus gewöhnt hast und du dich eingerichtet hast in deiner kleinen Welt. Genauso wie Markus, nur dass eure Welten nicht mehr die gleichen sind. Du bist nämlich selbst bequem geworden!“ Daniel hielt kurz inne und fuhr dann mit etwas gesenkter und freundschaftlicher Stimme fort: „Ich könnte es übrigens auch nicht mehr, nur dass das klar ist. Ich nehme mich da nicht aus.“
Tobias atmete hörbar aus und lies seine Lippen flattern. „Du kennst meine Auffassung dazu. Ich sage dazu nichts mehr.“ Trotzig lehnte er sich zurück. Ihm ging der Verlauf der Diskussion gehörig gegen den Strich.
Daniel setzte nach: „Kannst du dich erinnern, wie wir im Supermarkt manchmal Bier geklaut haben? Du warst da immer ziemlich gut darin. Ich dagegen habe immer das Nervenflattern bekommen. Du bist nie erwischt worden. Kannst du dich erinnern?“
„Jaa, na klar“ antwortete Tobias gequält.
„Der Punkt ist, ich traue dir das nicht mehr zu.“ Daniel grinste.
Tobias schüttelte unwillig den Kopf. So ein Blödsinn, dachte er. Also sagte er: „Warum soll ich Bier klauen. Ich hab doch Geld. Früher hatten wir halt manchmal nicht genug Kohle, wenn wir uns abends betrinken wollten.“
Daniel lachte höhnisch und schüttelte den Kopf: „Das ist es eben nicht. Du hast es einfach nicht mehr drauf, weil du nicht mehr zurück kannst und du doch ein Anderer geworden bist. Du geht’s arbeiten, um dir Dinge, die du früher geklaut hast, kaufen zu können.“ Daniel lachte und bog den Kopf dabei nach hinten in das Polster der Nackenstütze.
Tobias antwortete nicht, sondern starrte ärgerlich geradeaus. Er zwang sich zu einem Lächeln. Er versuchte gelassen auszusehen und Daniel Worte als Witz aufzufassen. Diesen ganzen Schwachsinn konnte nur Daniel aushecken, dachte er.
Es dauerte nur ein paar Sekunden bis Daniel weitermachte: „Du meinst, wenn du wolltest, könntest du auch jetzt noch in einen Supermarkt reinmarschieren und dir zack zack, die Büchsen in den Rucksack packen und wieder rausmarschieren ohne mit der Wimper zu zucken?“ Als Tobias nicht antwortete insistierte er: „Das könnest du? Immer noch, immer noch so cool wie früher, ja?“
„Klar, doch,“ antwortete Tobias trotzig, „das könnte ich, weil ich immer noch cool bin.“ Er dehnte das Wort cool dabei kabarettistisch.
„Das kannst du ja beweisen. Wir müssen sowieso noch einmal anhalten um zu tanken. Diese großen Raststätten sind ja wie ein Supermarkt. Wie wär’s wenn du dort einfach mal, hm, sagen wir eine Büchse Limonade mitgehen lässt?“
„Was soll den das? Was bringt das? Das ist doch Blödsinn,“ antwortete Tobias ärgerlich und haute sich dabei auf die Knie: „Das ist doch gequirlte Scheiße, die du da erzählst! Limonade klauen! Was bekloppteres fällt dir wohl nicht ein, he?“
Daniel lachte wieder. Dann sagte er einfach: „Naja, wenn du das schaffst, dann könnte ich dir, dass was du mir erzählt hast, glauben. Sonst nehme ich dir das nicht ab.“
Tobias presste die Lippen aufeinander. Jetzt hatte er ihn doch so weit. Es war genau das eingetreten, was er befürchtet hatte. Wenn er jetzt stur blieb und nicht darauf einging, würde Daniel beständig darauf herumreiten und sich lustig über ihn machen. Auf der anderen Seite war es vollkommen lächerlich an der Tankstelle eine Büchse Limonade zu klauen. Es war ausgemachter Schwachsinn, den sich Daniel da in seiner blödsinnigen pädagogischen Art ausgedacht hatte. Tobias erinnerte sich daran, wie sie Daniel während der Studienzeit immer verspottet hatten, weil er der einzige in der Truppe war, der auf Lehramt studierte. Einer ist immer der Lehrer ,hatten sie gesungen, um ihn zu ärgern. Daniel ist der geborene Lehrer, dass war Tobias schon seit einiger Zeit bewusst. Und ein Klugscheißer dazu, aber das betonte Daniel selbst, wenn er gut aufgelegt war und ihn jemand fragte, warum er Lehrer geworden war. Weil er gerne klugscheiße, sagte er dann.
„Na was ist nun?“, lies sich Daniel wieder vernehmen.
Tobias antwortete zögerlich: „Ich halte das für ausgemachten Blödsinn. Und du weißt, dass es das ist.“
„He, na und? Früher hätte es dir nichts ausgemacht und so sollte doch jetzt auch noch sein, wenn es stimmt was du erzählst. Wir haben viel Blödsinn damals gemacht und es hat uns überhaupt nicht gekümmert.“
„Von mir aus, klau ich eben ein Büchse Limonade. Hast du bestimmte Vorlieben, Cola, Fanta, Sprite?“
Daniel lachte.
„Aber es beweißt gar nichts!“ sagte Tobias. „Überhaupt nichts. Als ob ein Klau irgend etwas über meine Lebenseinstellung aussagen würde!“
Daniel grinste weiter. Dann schwiegen sie wieder eine Weile. Es konnte nicht mehr sehr lange dauern. Ein Schild zeigte eine Raststätte in fünf Kilometer Entfernung. Wahrscheinlich hat es schon ein paar Kilometer davor ein Hinweisschild gegeben, welches Daniel wahrscheinlich auf diese Idee gebracht hatte, dachte Tobias. Er wusste, jetzt gab es kein Zurück mehr. Er ärgerte sich immer noch über Daniel, noch mehr über sich selbst, dass er sich auf diesen unlogischen Handel eingelassen hatte. Aber er sagte nichts mehr. Schließlich bogen sie in die Rast- und Tankstellenabfahrt ein. Es war wie Daniel vorrausgesagt hatte. Die Tankstelle war sehr groß, mit einem großen hallenartigen Verkaufsraum.
Als Daniel das Auto betankte, stand Tobias unschlüssig und missmutig daneben, während Daniel vergnügt wirkte. Tobias hatte einen kleinen leeren Rucksack über der Schulter. Sie besprachen kurz, dass während Daniel an der Kasse bezahlte, Tobias sich zwischen den Regalen umsehen und die Büchse einpacken sollte. Schließlich gingen sie in den Verkaufsraum. Daniel stellte sich an der Kasse an, während Tobias durch die Regale schlenderte. Den Rucksack hatte er halb geöffnet über der Schulter. Es waren eine Reihe von Menschen im Laden, Kinder lärmten umher. Der Laden war relativ unübersichtlich. Schnell hatte Tobias das Kühlregal mit Limonaden gefunden. Als er davor stand, trat von hinten ein Mann heran, suchte die Reihen ab, bevor er ein Büchse Red Bull herausnahm und wieder verschwand. Tobias schaute sich um. Von der Kasse war das Regal nur seitlich zu sehen. Er war maximal aus dem Augenwinkel der Kassierer zu sehen. Hinter ihm tobten einige Kinder. Tobias überlegte sich was er nehmen sollte. Er konnte sich nicht entschließen. Unschlüssig lief er hin und her. Was würde passieren, wenn er erwischt würde, schoss es durch seinen Kopf. Er schaute erneut zur Kasse. Daniel war jetzt dran. Also hatte er nicht mehr viel Zeit. Er lief zurück zum Keksregal hinter ihm. Er tat so als suche er dort etwas. Tobias wollte von dort kurz entschlossen zum Kühlregal gehen und entschlossen eine Büchse zu nehmen, um dann hinauszugehen. Den Plan die Büchse im Rucksack verschwinden zu lassen, verwarf er. Ihm schien das zu auffällig. Früher hatten sie beide Taktiken angewendet. Sie waren nie erwischt worden. Tobias hatte bei diesen Raubzügen eine erstaunliche Nervensicherheit entwickelt.
Daniel war jetzt fertig mit dem bezahlen. Er schaute fragend zu Tobias. Dann lief er langsam Richtung Ausgang. Tobias ging jetzt wieder auf das Kühlregal zu. Er blieb wieder davor stehen. Aber er konnte sich nicht entschließen zuzugreifen. Tobias spürte den kalten Schweiß auf seiner Stirn. Er schaffte es einfach nicht die Hand auszustrecken und irgendetwas aus dem Regal zu greifen. Es erschein ihm als ungeheure Kraftanstrengung. Tobias wurde klar, dass es nichts werden würde mit dem Klau. Er drehte sich um und lief Daniel hinterher.
Sie sprachen nicht als sie einstiegen. Später auf der Autobahn grinste Daniel vor sich hin. Tobias schwitzte immer noch. Daniel schaute ihn mit breit gezogenen Lippen an. Endlich sagte doch einer von beiden etwas.
Es war Daniel, der das Schweigen brach: „Ich sag nichts.“
Tobias atmete schwer, als er murmelte: „Arschloch.“
 



 
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