Kapitel 18
Etwa eine Stunde später taumelte Margrit durch die Trümmer von Kitzingen. Sie war vom vielen Schreien und Rufen nach ihrer Familie heiser geworden, brachte kaum noch einen Ton heraus. Beißender Rauch schlug ihr ins Gesicht. Sie hustete ständig und ihre Augen tränten. Einige Häuser brannten noch immer. Wo war das Ratshaus? Der zähe Feuerbrei hatte sich mit rasender Schnelligkeit durch Straßen und Gässchen gezwängt und fast alles war hier in leuchtende Fackeln aufgegangen, hatte wohl kaum Leben übriggelassen. Wer noch versucht hatte sich zu retten, war dann vom Erdbeben begraben worden. Ach, die Welt, durch welche Margrit nun mit weit aufgerissenen Augen stolperte, war gar nicht mehr einer solchen ähnlich, sondern eher der Hölle, wie man die sich so im allgemeinen vorstellt. Sah es etwa inzwischen in den anderen Städten hier in der Nähe auch so aus?
Ihre Kehle war ausgedörrt und die Haare klebten an ihrem Kopf, das Hemd war ihr zum Teil aus der Hose und von der Schulter gerutscht, doch das bemerkte sie nicht. Sie bewegte sich über die vielen Steine, Balken und Ziegel, welche im Wege lagen, so tollpatschig wie ein verlorenes Kind. Die teilweise holprige und dann wieder sehr glatte, lavaähnliche Masse, über die sie in ihren zerrissenen Turnschuhen schlurfte, konnte man wohl als erkaltet bezeichnen, aber sie war immer noch so warm, dass ihr die Fußsohlen schmerzten. Margrit war schon mehrmals ausgerutscht, nieder gestürzt, hatte sich dabei das Knie, den Ellenbogen und bestimmt noch so einiges mehr wundgeschlagen. Oft musste sie Bretter und Stangen zur Seite räumen, damit sie überhaupt vorwärts kam. Margrit schwitzte, als befände sie sich in den Tropen, doch der Rauch und die heiße Luft trockneten sie sofort wieder ab. Bisweilen hatte Margrit gemeint, menschliche Stimmen in den Straßen gehört zu haben oder halberstickte Schreie, ein jämmerliches Weinen gar, und sie hatte deshalb innegehalten und angespannt gelauscht. Sie hatte sich bemüht, jene gedämpften Stimmen aus den beklemmenden Geräuschen knatternder Flammen und berstender Holzbalken, die manchmal in Margrits Nähe herabdonnerten, hinauszufiltern, zu identifizieren, hatte aber schließlich gemeint, dass sie wohl nur das eigenartige Geprassel hajeptischer und lotekischer Gewehrsalven in der Ferne, das Getöse mächtiger Geschütze und die dazu gehörigen, sonderbaren Stimmen der Feinde mit menschlichen Lauten verwechselte. Schließlich aber sah sie doch einige Schatten, welche genau wie sie durch die Straßen taumelten und dabei in einem fort Namen riefen. Sie versuchte sofort, mit diesen Leuten Kontakt aufzunehmen, konnte ihnen aber nicht nahe genug kommen und schon waren sie wieder weg.
Margrit ahnte, dass inzwischen die halbe Nacht vergangen sein musste, denn sie war erschöpft, beinahe apathisch. Sie fühlte nur noch eines, dass es kaum zu ertragen ist, ohne Menschen zu leben, die man liebt und noch schlimmer, sie in großer Not zu vermuten. Sie hatte keine Tränen mehr und mit einem Male erschien ihr das viele Suchen völlig sinnlos, denn was war, wenn sie Muttsch und die Kinder fand, diese jedoch verschüttet waren? Wie sollte sie die dann ohne Unterstützung und bar jeder Hilfsmittel freibekommen?
Nein, sie durfte nicht an solche Dinge denken! So riss sie sich also wieder zusammen und bald gingen ihre Augen wie immer suchend in den grellen Flammen hin und her, um nach einem vertrauten Schatten, vielleicht nur einer Bewegung Ausschau zu halten.
Plötzlich meinte sie, jemanden ganz in ihrer Nähe um Hilfe schreien zu hören. Es war eine etwas heisere Männerstimme und sie hatte zunächst Angst, dass es der Feind sein könnte, welcher sie womöglich nur anlocken wollte. Doch dann lief sie trotz bebender Knie einfach dort hin und war wenig später erstaunt, dass es gar nicht so schwierig wie gedacht war, zu helfen. Es war in diesem Fall eine Tür gewesen, welche wegen dem herabgestürzten Gestein geklemmt hatte. Der Eingesperrte war bald befreit. Er war zu Margrits Erleichterung kein Hajep und auch kein Loteke, sondern ein kräftiger, dunkelhaariger Mann, der sich, da er seine Frau vermisste, Margrit anschloss.
So streiften sie zu zweit durch die zerstörte Stadt, und dann hatten sich tatsächlich doch noch weitere Leute gefunden, die sich mit den Tapferen zu einem kleinen Suchtrupp zusammentaten. Schließlich bewaffnete man sich mit einigen Schaufeln, Äxten, Hacken und sogar Decken, welche Einige von ihnen aus den Häusern geholt hatten. Man gehorchte Margrit und Sebastian, machte sie auf diese Weise zu Anführern. Man trennte sich nur auf Befehl und traf sich an vereinbarter Stelle pünktlich wieder und nur die Angst vor neuerlichen Angriffen der Hajeps und die Gewissheit alleine kaum einen Verwandten oder Bekannten ausfindig machen zu können und ihn zu befreien, machte diesen sonderbaren Gehorsam möglich.
Je mehr Menschen hinzukamen, umso verbissener hielt man zusammen. Abstimmungen gingen nur kurz und knapp vonstatten. Bald waren es sechsundzwanzig Menschen, die durch die Stadt schlichen. Sogar ein ehemaliger Spinnenguerilla war darunter, der Margrit leider keine genaue Auskunft über den Verbleib ihrer Kinder hatte geben können.
Die wagemutigen Suchaktionen sollten letztendlich mit Erfolg gekrönt sein. Acht von den inzwischen vierunddreißig Leuten fanden ihre Freunde und Verwandten wieder. Manche von denen waren ebenfalls auf der Suche nach ihnen gewesen und hatten sich plötzlich in den Straßen wieder getroffen. Margrit hatte mitgeweint, weil sich diese Menschen schluchzend vor Erleichterung und Freude in die Arme gefallen waren. Bei manchen aller¬dings war es sehr viel schwieriger, denn diese Leute waren in den Häusern eingesperrt und einige von ihnen tatsächlich verschüttet, etliche sogar so fürchterlich eingeklemmt gewesen, dass sie nicht ohne schlimme Verletzungen hatten geborgen werden konnten.
Es gab in dem kleinen Suchtrupp bald Menschen mit erheblichen Verbrennungen, die in notdürftig hergestellten Bahren getragen oder zumindest, wenn das nicht ging, an sicherer Stelle niedergelegt, bewacht und versorgt werden mussten.
Oft waren Menschen unter den Trümmern, mit denen niemand von ihnen bekannt war und einige von ihnen dachten überhaupt nicht daran, bei den verzweifelten Versuchen, diese Personen zu bergen, mitzuhelfen, weil sie meinten, dass man dadurch nur unnötig viel Zeit vertun würde und die eigenen Vermissten wären dann womöglich bereits am Ersticken! Margrit konnte sich dann plötzlich sehr hart zeigen und diese Menschen kurzerhand aus ihrer Gruppe verbannen, was wiederum allgemeine Verwirrung und laute Proteste auslöste. Schließlich ord¬neten sich doch zu Margrits Erstaunen die meisten der Gruppe ihr unter. Nur Einzelne, unter denen sich auch ein Paar befand, das sich bereits gefunden hatte, trennten sich von ihr und gingen ihre eigenen Wege. Der größte Teil derjenigen, die wiedergefunden hatten, was sie liebten, zeichnete sich aber gerade dadurch aus, dass sie am eifrigsten halfen andere zu bergen. Das wiederum steckte die anderen an weiterhin mitzumachen und nicht auf¬zugeben!
Schlimm wurde es allerdings, wenn man den Verschütteten zwar entdeckt, sich sogar mit ihm verständigt und ihn beruhigt hatte, es aber partout nicht gelingen wollte, ihn von all dem oft zentnerschwerem Schutt und Geröll zu befreien. Noch entsetzlicher wurde es, wenn einer aus der Gruppe mit diesem verwandt oder befreundet war und verzweifelt um dessen Befreiung bangte. Doch manchmal war es einfach nicht möglich, den Verschütten zu befreien. Niemand konnte es dann über das Herz bringen und die furchtbare Situation eingestehen, sagen, dass alles vergeblich gewesen war und dass sie jetzt endlich weiter müssten - bis auf Margrit. Mit versteinerter Miene war sie es, die den Befehl zum Weiterziehen gab und dann folgte ihr alles - stumm und widerspruchslos!
Manchmal blieb ein schluchzender Verwandter am Ort zurück und bemühte sich, alleine den Eingeschlossenen zu befreien, doch er musste bald aufgeben und warf nicht selten, hasserfüllt und wilde Flüche von sich gebend, die Schaufel in die Richtung, in die Margrit und die anderen gegangen waren. Er konnte ja nicht wissen, wie bitter es besonders dieser sensiblen Frau aufstieß, einen eingesperrten, halb erstickten, hemmungslos schluchzenden Menschen zu verlassen. Ja, Margrit war in dieser furchtbaren Nacht innerlich gereift, sehr hart geworden, denn noch einmal, das hatte sie sich geschworen, wollte sie nicht wie damals auf der Flucht fast den Verstand verlieren. Aber, auch wenn du nichts mehr spüren willst, dein Herz macht doch klammheimlich mit, besonders wenn es dabei um Kinder geht. In solchen Fällen verlor Margrit doch die Beherrschung. Die Maske fiel herunter und sie begann unter Tränen fürchterlich zu schreien und zu toben oder einfach wirre Dinge vor sich hin zu schimpfen. Sie hob dabei sogar in ohnmächtiger Wut die Faust gen Himmel und tröstete mit ihrem wilden Kampfgebrüll die kleine Schar, die dumpf und mit gesenkten Häuptern einen Kreis um Margrit gebildet hatte. Ja, es war seltsamerweise eine gewaltige Kraft, die von dieser dünnen, verschmutzten Frau ausging und die gab allen den Lebensmut und den Willen, welchen sie unbedingt brauchten, wenn sie weiterwollten.
Immer wenn Margrit geendet hatte, fühlte man sich soweit gestärkt, dass man wortlos nach seiner Hacke oder Spaten greifen, sich alles, was man brauchte, ruhig über die Schulter legen und mit zusammengebissenen Zähnen weitersuchen konnte, immer weiter, auch wenn man vor Müdigkeit kaum zu stehen in der Lage war.
Darum war es eine große Erleichterung, als plötzlich zwei Jambas, uralte Feuerwehren, und drei Jimbas, notdürftig zusammen gebastelte Krankenwagen und noch sechs weitere Jambutos durch die Straßen holperten.
Margrit konnte es kaum fassen, und ihre Überraschung wurde noch größer, als sie unter den furchtlosen Rettern, die nun aus den Wagen sprangen und sie jubelnd begrüßten, Paul, George, Erkan, Martin, San Chao, Karl, Gesine, Rita und sogar Günther Arendt und Mike entdeckte. Besonders beim Anblick von Mike blieb Margrits Herz fast stehen vor lauter Aufregung. Ja, sie hoffte jetzt sogar, dass Mike trotz aller Katastrophen Mutsch und die Kinder noch immer als seine Gefangenen bei sich behalten hatte. Selbst dem verhassten Günther Arendt hätte Margrit in diesem Moment ihre Familie gegönnt, denn die Guerillas kannten gewiss mehr Verstecke, in denen man sich vor dem Feind in Sicherheit bringen konnte als die arme alte Muttsch.
„Mike!“ brüllte Margrit deshalb auch sofort. „Wo ist meine Familie? Wo hast du sie gelassen?“ Doch ihr Rufen ging zwischen all den gellenden Stimmen einfach unter. Margrit vernahm sogar aufgeregtes Hundegebell.
„He, he! Das ist meine Margrit ... ja?“ Paul kam mit einigen Männern herbeigehetzt und stieß dabei George ärgerlich zur Seite, der sich gerade seinerseits mit einem lauten Freudenschrei auf Margrit hatte stürzen und sie an sich drücken hatte wollen.
„Spinnst du? " rief George und bemühte sich bei dem ekstatischem Gedrängel die Balance zu halten.
„Wie hast du dich nur retten können, meine Kleine?“ übertönte Paul den allgemeinen Stimmenwirrwarr und riss Margrit derart heftig an sich, dass sie gleich einen Schuh verlor.
„Und all diese Leute dahinten?“ mischte sich George wieder ein, der sich endlich durch das Menschenknäuel einen Weg zu Margrit hatte bahnen können. „Wie bist du denn auf diese Mannschaft gestoßen?“ Er blickte verwundert auf das erbärmlich anzuschauende Häuflein des Suchtrupps, das sich schüchtern hinter ihr versammelt hatte.
Margrit konnte kaum antworten, denn schon hörte sie eine laute Jungmädchenstimme direkt in ihrer Nähe.
„Mann, Glucki! Ich fasse es nicht. Jetzt sag bloß, du hast die da hinten alle gerettet weil du deine Kinder gesucht hast! Trau ich dir glatt zu!“ vernahm sie Gesine, durch das ungebändigte Getöse. Sie hatte sich Margrits Fingerspitzen ergriffen, die an der Seite hinter Pauls Bauch hervorragten und versuchte ihre Hand zu schütteln. „Schöne Grüße übrigens von Munjafkurin!“ brabbelte sie nervös. „Er fliegt übrigens da oben.“ Sie schaute sehnsuchtsvoll zum nachtschwarzen Himmel, wo sich tatsächlich gerade ein einsamer, hajeptischer Jäger zeigte, der, scheinbar an allem desinteressiert, gemächlich über der Stadt dahin segelte.
Jetzt bahnten sich zwei Männer, von denen der eine Margrit als Spinnenmitglied bekannt vorkam, einen Weg durch die Menge. Aufgeregt richteten sie an Margrit einige Fragen. Besonders interessierten sie die Straßen und Häuser, in denen Margrit bereits mit ihrem Trupp nach Menschen gesucht hatte.
Die anderen Retter stellten den Stadtleuten Fragen. Da nur sehr langsam und halb apathisch geantwortet wurde, hetzte manch einer von denen voller Ungeduld los, denn sie waren gut ausgerüstet mit Bergungsgeräten. Wieder erscholl ekstatisches Gebell aus ein paar rauen Hundekehlen.
„Immer mit der Ruhe! Immer mit der Ruhe!“ hörte Margrit nun Günther Arendt vom Dach des Jambas her nach allen Seiten schreien. „Es hat doch gar keinen Sinn, wenn wir hier alle bunt durcheinander schwirren!“ Und er fuchtelte dabei mit beiden Armen dort oben herum.
„Oh Gott, wenn er nun dabei herunterfällt und ...“ Margrit musste bei dieser Vorstellung lachen, aber Günther Arendt war recht sportlich. So schlank und drahtig wie er war, behielt er geschickt die Balance und hatte außerdem durch sein auffälliges Gehabe das Trupp wieder auf sich aufmerksam gemacht und bald zur Ruhe gebracht.
Nun, nachdem sich alle um seinen Wagen gescharrt hatten, erteilte er ihnen mit fester Stimme Instruktionen. Jeder bekam eine besondere Aufgabe, danach durften kurz und knapp Fragen gestellt werden. Einige meldeten sich auch sofort und trugen ihre Bedenken oder Ideen vor.
Margrit wandte sich währenddessen an George. „Wie geht es inzwischen Renate?“
George machte ein trauriges Gesicht. „Gar nicht gut! Werner konnte sie nur notdürftig zusammen flicken. Sie hat sehr viel Blut verloren.“
„Schrecklich“, keuchte Margrit. „Hoffentlich wird Irmchen nicht Waise! He, dort hinten ist Mike. Wie kann ich nur durch dieses fürchterliche Gewühle zu ihm kommen? Oder weißt du inzwischen schon, wie es um meine Familie steht? “
„Leider auch dort keine gute Nachricht, Margrit, denn ...“
„He, macht mir wirklich nichts“, unterbrach Margrit ihn hastig und hatte dabei Tränen in den Augen, „wenn der Mike Muttsch und die Kinder immer noch gefangen hält, denn das ist besser als wenn ... hm ... na ja ...“ Margrit hielt plötzlich inne und schluckte. „Tot! Oder? Oder sind sie etwa bereits tot George?“ brüllte sie mit einem Male überlaut und am ganzen Körper zitternd.
„Aber Margrit, nein, so schlimm sieht`s auch wieder nicht aus!“ George legte beruhigend seinen Arm um ihre Schulter, den Margrit sofort abschüttelte. „Und warum machst du mir erst solch eine Angst?“ fauchte sie.
„ICH erkläre ihr das!“ Paul stieß George mit dem Ellenbogen in die Rippen, der sich leise brummelnd fügte. „Deine Familie ist nur während all dieser Wirren in einem günstigen Moment geflüchtet. Mike hat weder Muttsch noch die Kinder bisher wiedergefunden.“
„Und das habt ihr ihm geglaubt?“ brüllte Margrit noch immer ziemlich flatterig am ganzen Körper. “Bestimmt hat unser netter Günther Arendt meine Mutter und die kleinen Kinder inzwischen irgendwo bei sich eingesperrt und will`s bloß nicht an euch verraten! He, der ... der lügt doch wie gedruckt! Glaubt dem doch nicht immer! Der schmiert uns alle an, dieser ... dieser Verbrecher!“
„Schscht Margrit, Mensch, so beruhige dich doch!“ versuchte nun auch Paul Margrit zu beruhigen und er schaute sich dabei unsicher allen Seiten um. „Was hast du denn, mit einem Male?“
Die umstehenden Guerillas warfen ihr trotzdem nicht nur erstaunte, sondern auch wütende Blicke zu.
Doch Margrits Leute aus der Stadt hatten ebenfalls mit zugehört und musterten nun Günther Arendt skeptisch und mach einer von ihnen flüsterte dem anderen etwas zu.
George spürte genau wie Paul die angespannte Situation und begann sofort, Margrits absonderliches Verhalten lautstark zu entschuldigen. „Die ist nur völlig fertig, versteht ihr?“ rief er den Guerillas zu. „Die lange Sucherei eben. Und sie kommt halt nicht mit Günthers rauer Art klar! Guckt nicht so ... und ... na ja, mit Mike hat sie schon so einiges erlebt! “
Er schien wohl irgendwie die richtigen Worte gefunden zu haben, denn schon trollten sich einige von ihnen, zumal es ja auch wesentlich Aufregenderes gab, um das sie sich kümmern mussten. Sie kletterten schon mal in die ersten Autos, weil es gleich losgehen sollte.
Einer der Spinnenmitglieder drückte Margrit sogar einen Becher mit Trinkwasser in die Hand und zwinkerte ihr dabei zu. Margrit schaute überrascht auf das kühle Nass und erst jetzt wurde ihr bewusst wie durstig sie im Grunde genommen war. Gierig nahm sie deshalb gleich einen ganz großen Schluck und dankte ihm danach freundlich.
„Weißt du, Margrit“, raunte ihr George zu, nachdem sie den Becher geleert hatte. „Du musst trotzdem etwas vorsichtiger werden, deine Zunge wirklich mehr im Zaum halten, und das selbst, wenn du noch so wütend und verzweifelt bist, denn für die meisten unserer Organisationen sind sowohl der Günther als auch Mike Helden, also richtige Vorbilder.“
„Du, da hat er Recht!“ bemerkte jetzt auch Paul ziemlich leise.
George grinste für diese Bemerkung dankbar, fuhr dann aber ziemlich energisch weiter fort. „Margrit, bedenke mal, was haben wir Menschen schon außer unseren Idealen. Sieh mal, du kannst doch auch noch später beim Günther oder auch beim Mike Erkundigungen über deine Familie einholen. Nimm allen doch nicht den Schwung, wenigstens ein paar Leute aus dieser Stadt noch retten zu können.“
Margrit holte sich mit den Fingern, die letzten Tröpfchen aus dem Napf und träufelte sich die über ihre aufgesprungenen Lippen. „Na gut!“ sagte sie endlich.
„Das ist schön“, bemerkte George ehrlich erleichtert, „dann können Paul und ich endlich an der Rettungsaktion teilnehmen, ohne uns großartig sorgen zu müssen, dass du vielleicht noch Streit anzettelst.“
„Als ob gerade ich so ein Zankenbold wäre!“ murrte sie.
„Na ja!“ erklärten Paul und George fast wie aus einem Munde.
„Außerdem komm` ich mit“, Margrit warf dabei einen traurigen Blick auf die Reste der einstmals so prächtigen, alten Häuser Kitzingens, die immer noch vor sich hin kokelten, „denn falls Mike und Günther ausnahmsweise mal die Wahrheit gesagt haben sollten, könnte meine Familie dort noch irgendwo festsitzen und ...“
„Du schleichst auf keinen Fall wieder tiefer in diese Stadt hinein!“ rief George unmissverständlich beim Weggehen.
„Da hat er aber Recht!“ stimmte ihm Paul abermals, wenn auch recht leise, zu.
„He, wer kann mir das bestimmen!“ schnaufte sie empört. „Wer ...“
„Na, zum Bespiel ich, meine liebe Margrit!“ hörte sie plötzlich hinter sich, und einige der Guerillas, die noch hier herumstanden, machten für ihn Platz. Günther Arendt trug einen großen Wasserkanister auf der Schulter und grinste Margrit ziemlich schief an. Hinter ihm fuhren bereits die ersten Jambos los und auch eine der beiden Jambas. „Ich habe Sie nicht gezwungen, dem Bund der Maden beizutreten und ich sagte Ihnen damals auch, dass es dann kein zurück mehr für Sie gäbe und so haben Sie mir auch heute zu gehorchen. Ja, Margrit, ich befehle ihnen einfach hier zu bleiben“, er machte in Richtung der restlichen Guerillas dabei ein schnelles Handzeichen und die verdünnisierten sich daraufhin ebenfalls, „denn wenn sie mit kämen, würde das gar nichts bringen. Sie sind viel zu müde und erschöpft und ...“ er hob dabei den Kanister von seiner Schulter, „Sie scheinen auch Durst zu haben, richtig?“
Margrit zögerte, sah dabei, dass George, Gesine, Paul und Erkan inzwischen nach hinten in die zweite Feuerwehr geklettert waren und jetzt, da es los ging, ihr noch schnell zuwinkten. Sie winkte nicht zurück, hob auch nicht den leeren Krug, denn sie war sich nicht sicher, ob sie überhaupt ein Getränk von Günther Arendt anneh¬men durfte, denn immer noch hatte sie das grässliche kleine Fläschchen Refenin von damals vor Augen. Konnte man womöglich diese fürchterlichen Viren jetzt auch trinken? Hatte er das etwa herausgefunden und die befan¬den sich nun in diesem Wasser?
„Äh .. woher haben Sie eigentlich diese vielen Wagen bekommen?“ fragte sie daher nur ablenkenderweise.
„Die Maden sind nicht von den Hajeps angegriffen worden, Margrit und auch nicht die Städte, und daher konnten wir all unsere noch funktionstüchtigen Jambutos, die Jambas und Jimbas aus diesen Städten herbeiholen!“
„Aha“, sagte sie und setzte dann etwas hölzern hinzu. „Das ist aber schön ... tja!“ Verdammt, hier wurden das ja immer weniger Guerillas von den Maden und nur noch Mitglieder der Spinnen waren übrig geblieben, die Günther Arendt anscheinend Gesellschaft leisten wollten. Warum ließen denn George und Paul hier Margrit mit denen alleine zurück? Hatten sie denn keine Angst, dass Günther Arendt ihr vielleicht später Gewalt antun konnte? Himmel, warum glaubte ihr denn keiner? „Tja, äh, haben sich die meisten der Spinnen noch aus den Gängen retten können, oder?“ begann sie von neuem mit ziemlich kläglichem Stimmchen. Eigentlich wusste sie es ja, denn anhand der vielen Leichen, die sie bei ihrer Suche bereits hatte entdecken können, müsste mindestens die Hälfte von ihnen getötet worden sein, aber sie schaute den Präsidenten trotzdem mit ihren großen Augen fragend an.
„Margrit, nicht oder ... denn sie wissen es ja bereits!“ erwiderte er zu ihrer Überraschung.
Puh, nun war sie wieder an der Reihe, diesen umständlichen Dialog weiter zuführen. Eines beruhigte sie aber, dass Mike inzwischen mit dem nächsten Jambuto gerade weggefahren war, und dann entdeckte sie, dass noch einige ihres Suchtrupps hier geblieben waren und machte deshalb einen tiefen, erleichterten Atemzug.
Zu diesen schritt komischerweise plötzlich Günther Arendt hinüber - vielleicht hatte er Margrits Blick gesehen? - gab jedem einen Becher und goss ihnen ein. Dann kam er zu Margrit zurück.
„Na, wollen Sie denn gar kein Wasser von mir haben, Margrit?“
Sie zögerte, überlegte und beobachte dabei, wie im roten Feuerschein weitere zwei Jambutos und drei Jimbas davon fuhren.
Konnte sie das wirklich machen? Sie hatte noch immer ziemlichen Durst, und dann fiel ihr ein, dass sie ja schon vorhin getrunken hatte, als ihr eines der Spinnenmitglieder Wasser angeboten hatte. Das hätte ja auch von Günther Arendt angeordnet sein können und dann wären ihre Bedenken ja eh längst zu spät. „Doch ...“, wisperte sie, „... will ich!“ Und sie hob, wenn auch ein wenig zitterig, ihren Krug und er goss ihr, dabei bei übers ganze Gesicht grinsend, ein.
Als ihr Durst gelöscht war, befreite sie sich endlich auch von dem psychischen Druck, der die ganze Zeit auf ihr gelastet hatte, in dem sie ihn ganz spontan fragte: „Wo ist meine Familie! Ich weiß, dass Sie es wissen!“ setzte noch hinzu.
Er erwiderte zunächst nichts und ergriff stattdessen behutsam Margrits Arm und sagte dann sanft. „Sie werden es vielleicht nicht glauben, aber ich weiß es wirklich nicht! Margrit, mir ist Ihr Schimpfen vorhin nicht entgangen, doch wenn ich vielleicht sonst ein Schweinhund sein sollte, in solch einer Situation würde ich Sie nie belügen, glauben Sie mir! Mike war in all dieser Zeit viel zu sehr beschäftigt gewesen, sein eigenes Leben zu retten, dass er darüber seinen Auftrag mir die Kinder zu bringen schlichtweg“, Günther Arendt schaute jetzt sehr verärgert drein, „vergessen hatte!“
Nun mussten beide doch lachen.
„He, nicht mal Bösewichte funktionieren heutzutage richtig! Wie kann Mike nur so unzuverlässig sein!“ krächzte Margrit und wischte sich dabei die Lachtränen von den Wangen.
„Das sagte ich ihm auch!“ krächzte er und musste ebenfalls ein Taschentuch hervor holen.
„Aber nun?“ wisperte Margrit, schon wieder ganz ernst geworden. „Ach, es wäre dann wohl doch besser gewesen, ich wäre wieder in diese Stadt zurückgekehrt um ...“
„Aber Margrit, was wollen Sie denn noch dabei! Sie können meinen Männern ja doch nicht helfen. Sie wissen doch nicht einmal, in welche Richtung ihre Mutter mit den Kindern geflüchtet sein mag. Meine Männer finden sie oder sie finden sie nicht ... auch ohne Sie!"
Das leuchtete Margrit eigentlich ein. „Na guuuuut!“ murmelte sie mit gesenktem Kopf und winkte die restlichen Leute ihres ehemaligen Suchtrupps zu sich, welche die ganze Zeit leise miteinander tuschelnd auf sie gewartet hatten. Man bestieg die letzten zwei Jambutos und dann wurden sie alle zum Ausruhen an den Stadtrand gebracht.
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Es war außerhalb der Stadt erheblich kälter. Margrit empfand den frischen Morgenwind als eisig, denn ihr Körper hatte sich noch nicht umstellen können. Deshalb lehnte sie mit ihrem Rücken an der noch warmen Wand eines halb zerstörten Hauses, saß zwar dabei auf dem Boden, war jedoch in mehrere Decken eingewickelt und starrte, eine Tasse heißen Hagebuttentees in der Hand haltend, in die rote Glut des kleinen Feuers, welches man eigens für sie entfacht hatte.
„Es war schrecklich“, beendete sie ihren Bericht, den sie Günther Arendt stockend mitgeteilt hatte, der neben ihr mit hochgezogenen Knien kauerte und ein wenig schläfrig ebenfalls in die knisternden Flammen blinzelte. „und ich glaube, ich habe noch nie in meinem Leben so viel dazugelernt wie in dieser heutigen Nacht!“ Sie seufzte und bog entspannt den Kopf zurück.
Nach einer Weile blickte Margrit auf seine Uhr und zuckte plötzlich zusammen. Er sah sie deshalb erstaunt an. „He, eine Stunde ist schon wieder vergangen! Ich muss los. Habe mich schließlich lang genug ausgeruht!“
„Wieso müssen Sie los?“ fragte er und zog sich dabei seine Decke mit behaglicher Miene bis zum Hals.
„Na, ich werde jetzt einfach weiter suchen! Nicht in der Stadt. Ich habe mir nämlich gerade vorgestellt, was ich tun würde, wenn ich meine Mutter wäre.“
„Sind Sie aber nicht, Margrit!“ Er brach sich ein Ästchen von dem Busch neben ihm und stocherte damit in der Glut. „Das, was Sie da machen, ist doch alles nur reine Spekulation!“ Er hob den Zweig empor, an welchem inzwischen die Flammen tüchtig fraßen und betrachtete ihn. „Niemand weiß, wohin sich ihre Familie gewendet haben könnte!“ Er blies die Flämmchen ganz langsam aus, musterte anschließend den noch glimmenden Stängel. „Warten Sie doch erst einmal ab, bis die Suchtruppen wieder gekommen sind!“ Er schob den rußigen Zweig erneut in die glühende Asche und merkte an: „Schlafen Sie doch einfach. Sie werden sehen, so vergeht die Wartezeit am besten!“
Eigentlich hatte er Recht. Sie war wirklich todmüde. Aber irgendwie hatte sie noch immer Angst vor Günther Arendt. Sie traute ihm nicht über den Weg. Vier schwer bewaffnete Spinnenguerillas lümmelten nämlich ganz in seiner Nähe, nahe bei den beiden Ruinen herum, Margrit dabei immer wieder musternd. Von Margrits ehemaligem Suchtrupp waren zwar acht Leute geblieben, von denen jedoch vermutlich nur wenige eine Waffe bei sich hatten.
Sie kniff die Lippen fest zusammen. Schlimm, dass sie so etwas durchdenken musste. Es war kein Außerirdischer dabei und dennoch fürchtete sie sich.
„Ich bin nicht müde!“ sagte sie endlich. „Aber Sie haben Recht, ich werde warten!“
„Nun gut, dann können sie mir ja ruhig eine Frage beantworten“, begann er etwas zögerlich.
„Und die wäre?“ fragte sie skeptisch und ihr Herz begann wieder schneller zu klopfen.
„Ich bin nämlich eine sehr neugierige Natur und ...“
„So, so!“
„Gucken Sie nicht so misstrauisch, Margrit, dass macht einen ganz verlegen. Hm, also ... Sie haben vorhin mit Ihrem Bericht geendet indem Sie sagten, Sie hätten etwas aus dieser ganzen Sache gelernt! Was, liebe Margrit, haben Sie eigentlich damit gemeint?“
Kaum hatte er seine Frage gestellt, als auch schon der erste zurück gekommene Jambuto zu ihnen gefahren kam.
„He, das ging ja schneller als der Schall!“ Der Ministerpräsident war überrascht aufgesprungen, hatte wohl seine Frage schon wieder vergessen und kam ihnen entgegen gelaufen.
„Ach, ist alles nicht ganz so toll wie es ausschaut!“ riefen ihm Paul und Chan-Jao bereits vom Jambuto aus zu. „Wir bringen euch nur Gesine, die hat nämlich schlapp gemacht!“
„Pah, ist ja gar nicht wahr!“ brüllte die ebenso laut zu Günther Arendt hinunter. „Ich habe nur gekotzt und dabei ein bisschen rumgeheult, mehr nicht!“
„Sie ist eben viel zu jung für solche Unternehmungen!“ erklärte Paul weiter. Chan-Jao nickte und warf dabei Günther Arendt einen vorwurfsvollen Blick zu, der die am ganzen Körper zitternde und völlig verweinte Gesine derweil aus dem Wagen hob.
„Bin ich nicht!“ fauchte Gesine. „Bin nur etwas nervös geworden, glaubt es mir!“
„Nervös geworden ist gut!“ bemerkte Chan-Jao kopfschüttelnd. “Schreikrämpfe hat sie gekriegt und ist wie hysterisch durch die Straßen gerannt! Wir mussten sie regelrecht einfangen.“
„Ich verstehe wirklich nicht, wie man ein so blutjunges Mädchen wie Gesine für diese Rettungsaktion überhaupt einsetzen konnte!“ empörte sich Paul schon wieder.
„Willst du mir hier Vorwürfe machen, Paul?“ knurrte Günther Arendt und seine flinken, kleinen Augen blitzten böse zu ihm hoch. Selbst Gesine hatte es für einen Moment die Sprache verschlagen.
„Ja, das will ich1“ fauchte Paul ebenso hart zurück, doch Chan-Jao stupste Paul in die Rippen. „Okay, tschuldigung!“ setzte Paul, wenn auch etwas unlustig, hinzu.
„Ihr könnt zurück fahren!“ erinnerte Günther Arendt die beiden, während er Gesine zum Lagerfeuer trug, die inzwischen ziemlich apathisch in seinen Armen hing.
„Gesine, was ist denn passiert?“ erkundigte sich Margrit, kaum dass Günther Arendt das Mädchen nahe bei dem Feuer und der schützenden Hauswand auf eine Decke gelegt hatte.
„Ach, ich glaube, sie hat nur einen Schock erlitten!“ beantwortete Günther Arendt einfach Margrits Frage. “Wir haben Krieg und da muss sie eben durch!“
Margrit warf ihm nun denselben Blick zu wie zuvor Paul und Chan-Jao. „Und wenn sie es nicht kann?“
Er hob hilflos beide Hände. „Tja!“ sagte er nur und seufzte.
„Tja ist wohl ein bisschen wenig für die Überforderung eines halben Kindes!“ knurrte Margrit.
Er rollte mit den Augen. „Margrit, wir sind Guerillas. Was glauben Sie, was ich schon alles habe mit ansehen müssen. Gesine wird abhärten oder zerbrechen. So ist eben das Leben! Immerhin habe ich das Mädchen sogar bis hierher getragen, um bei Ihnen eine guten Eindruck zu hinterlassen. Das ist mir zwar nicht so recht geglückt, aber auch egal ... wollen Sie Tee?“ Er hielt ihr die Kanne entgegen.
Sie schüttelte den Kopf, dann beugte sie sich wieder über Gesine und wisperte ihr ins Ohr. „He, Gesine, kannst du mir vielleicht sagen, wo sich gerade Munjafkurin befindet?“
Gesine krümmte sich zitternd zusammen, rollte sich ein wie ein Embryo. Die Augen im aschfahlen Gesicht blickten starr vor sich hin. „Der ist weg!“ kam es endlich von ihren blauen Lippen. „Ich habe nicht versagt, weißt du?“
„Aber so etwas sagt doch auch keiner über dich...“
„Doch, alle!“ Tränen liefen Gesine plötzlich übers Gesicht, aber sie wischte die zornig fort.
„Erst einmal können es gar nicht alle gewesen sein“, widersprach Margrit hartnäckig, „denn die haben sich ja in dieser Stadt verteilt und dann musst du dir mal überlegen, was die paar Leute nun genau zu dir gesagt haben. Was haben sie denn wortwörtlich gesagt?“
Sie richtete sich ein wenig auf. „Na ... hm ... das ich nichts aushalten kann!“
„Hast du doch. Du zitterst nur ein bisschen!“
Gesine blickte verwundert an sich hinunter. „Du meinst, ich bin nicht völlig hacke?“
„Gott ja, vielleicht warst du das vorhin so ein bisschen. Das passiert aber jedem Mal, wenn man nicht an solche Dinge gewohnt ist, wie du sie eben erlebt hast!“
„He, Glucki, ist dir das denn auch schon mal passiert?“ Ein kleines Lächeln huschte dabei Gesine übers Gesicht. “Ich meine, das mit dem hacke sein?“
„Klar doch! Willst du vielleicht ein Tässchen Tee trinken?“
Gesine nickte. „Weißt du, da war nur jemand, der eingeklemmt war“, begann sie plötzlich, „den haben wir vom Geröll befreit. Ich habe mich so mit ihm darüber gefreut ... ehrlich ... und erst danach haben wir gesehen ...“, sie schluckte und wurde wieder käseweiß im Gesicht, „... dass dessen Unterleib, die Beine ... aaaalles zermatscht war ... und der hat sich dann noch bei mir für meinen großen Einsatz bedankt ... ausgerechnet bei mir ... verstehst du?“
Margrit nahm die schluchzende Gesine in die Arme und es dauerte mehrere Stunden bis das Mädchen endlich alles so einigermaßen verarbeitet hatte. Nach einem ganzen Krug Tee fiel das Mädchen in tiefen Schlaf.
„Margrit“, sagte Günther Arendt, nachdem er die beiden während all dieser Zeit beobachtet hatte. „Sie haben wirklich ein großes Talent, sich in Personen hinein versetzen zu können.“
„Sie irren, wenn Sie denken, dass man dafür Talent haben muss“, fiel sie ihm ins Wort, „alle Menschen könnten es, wenn sie nur wollten!“
Er schüttelte den Kopf. „Nein, das ist Begabung!“ Er beugte sich vor, hob wieder einen der brennenden Zweige aus dem Feuer und warf dabei einen Blick auf die schlummernde Gesine, die noch im Schlaf einen Fuß von Margrit mit beiden Händen umklammert hielt.
Er war so begeistert, dass er erst einmal tief Atem holen musste, ehe er weiter sprechen konnte. “Ich nehme an, dass es genau diese Gabe war, welche Oworlotep so sehr an Ihnen gefallen hat.. Deswegen haben Sie die Begegnung mit einem Hajep überhaupt überlebt.“ Er hielt ihr den Zweig ziemlich nahe vors Gesicht und grinste. „Sagen Sie, wie haben Sie das nur fertig gebracht, in nur einer Nacht dermaßen zu verdrecken?“ entfuhr es ihm und er schob mit der anderen Hand die karierte Decke hinab, die sie sich um den Kopf gelegt hatte. „Ihr Haar ist entsetzlich struppig“, jammerte er. „Wissen Sie eigentlich, dass wir gar kein Haarwaschmittel mehr haben?“
„Haarwaschmittel? Ich habe irgendwie andere Sorgen!“ Sie gab ihm einen Klaps auf die Finger, da er begonnen hatte sie aus der Decke zu wickeln, um ihren Körper zu begutachten.
Er fuhr zurück. „Aua!“ ächzte er. „Sie können ja richtig brutal sein! Hach, Margrit ... warum sind Sie eigentlich überhaupt nicht eitel? Das passt doch nicht zu einer richtigen Frau ... und ... wissen Sie, dass mir gerade das an Ihnen verdammt gut gefällt?“
„Ach, jetzt kommt also die andere Tour, versuchen Sie es bei mir irgendwie mit Schmeichelei, ja?“ Margrit war, nachdem sie vorsichtig ihren Fuß aus Gesines Händen geschoben hatte, schnell und leise aufgestanden und machte Anstalten die Ruhestätte zu verlassen.
Er kam ebenfalls hoch und folgte ihr nun mit großen Schritten. „Ja, zum Donnerwetter!“ schimpfte er. „Denn was bleibt mir sonst übrig. Vielleicht Wut, aber da hinten lümmeln ja gleich acht Kerle aus ihrer Fan-Gemeinde herum, lassen mich und meine Männer nicht aus den Augen. Was haben Sie bloß mit denen gemacht, dass die Ihnen derart ergeben sind, Margrit?“
Sie drehte sich zu ihm um. „Diese Leute haben eben begriffen, dass Menschen zusammen halten müssen!“
Günther Arendts Mund klappte zu und für ein ganzes Weilchen war er nicht fähig, überhaupt noch etwas zu sagen, aber er folgte Margrit beständig, ganz gleich wohin sie sich wendete, und er hielt dabei den Kopf gesenkt, wirkte dabei fast wie ein Wolf, der die Spur eines Rehs aufgenommen hatte und von dieser Beute unter keinen Umständen lassen wollte. Doch dann waren die ersten Suchtrupps zurück gekehrt und der Präsident musste sich auch um diese kümmern.
Als einzigen Vertrauten unter ihnen entdeckte Margrit leider nur Paul. George, Martin, Erkan und Chan-Jao waren noch immer nicht zurückgekehrt und so verständigte sich Günther Arendt, weil ihn dies ebenfalls wun¬derte, mit den letzten seiner Männer schließlich über Funk.
Paul konnte Margrit kaum antworten. Kinder waren zwar gerettet worden, auch zwei alte Leute, aber Margrits Familie war nicht dabei gewesen. Er war todmüde, daher nahm er sich eine Decke, breitete diese hinter einer Reihe Büsche aus und legte sich darauf schlafen.
„Willst du nicht auch hierher kommen?“ ermunterte er Margrit noch schnell und zwinkerte ihr dabei zu. „Hier ist es nämlich sehr gemütlich!“
Das war, wie er da so lag, wirklich sehr verführerisch, außerdem hatte Margrit Angst vor Günther Arendt und dessen Leuten und so nahm sie ihre Decke und kroch zu ihm unter die dichten Zweige eines Holunderbusches.
Bald war Margrit so fest eingeschlafen, dass sie gar nicht bemerkte, dass auch die restlichen Suchtrupps inzwischen heimgekehrt waren. Doch das laute Jubeln machte sie dann doch bald wieder wach. Ganz besonders Georges Suchtrupp hatte großen Erfolg gehabt und etliche Eingeschlossene noch befreien können. Doch als Margrit nach ihrer Familie fragte, konnte ihr keiner helfen.
Zwei kleine Mädchen, die ihre Eltern verloren hatten, klammerten sich ängstlich an Georges Hüften. Sie standen zwar noch immer unter Schock, aber George verstand es, mit ihnen derart herum zu albern, dass sie schließlich sogar lachen und recht viel Tee trinken konnten. Gemeinschaftlich unter einer großen Decke schliefen die drei wenig später ein. Da sämtliche Guerillas sehr erschöpft waren, waren sie, bis auf diejenigen, die Wache zu halten hatten, ebenfalls rasch eingeschlafen.
Lediglich Margrit konnte seltsamerweise kein Auge mehr zu tun. Sie lag neben Paul und starrte schon seit etwa einer Stunde zum schwarzen Himmel, dabei die unzähligen schimmernden Sterne bewundernd.
„Und Sie haben mir immer noch nicht meine Frage beantwortet!“ hörte sie es plötzlich ganz in ihrer Nähe und fuhr deshalb erschrocken hoch. Da erkannte sie in der Schattengestalt, die selbstbewusst und breitbeinig vor ihr stand, Günther Arendt.
„Mein Gott!“ keuchte sie entgeistert. „Sie hier? Warum wecken Sie uns?“ Sie blickte dabei besorgt auf Paul, aber dieser schnarchte friedlich und ließ sich nicht stören.
„Ich habe niemanden geweckt!“ zischelte er ihr zu.
„Doch ... mich!“ fauchte sie.
„Ach, spielen Sie mir kein Theater!"
„Aber es ist mitten in der Nacht!“
„Es ist morgens!“ verbesserte er sie und wies zum Himmel. „Sicher werden Sie schon die ersten rötlichen Verfärbungen dort hinten entdeckt haben, da Sie dauernd zum Himmel gestarrt haben!“
„Bleibt Ihnen denn gar nichts verborgen?“ schnaufte sie empört.
Er lachte leise.
„Was wollen Sie denn überhaupt von mir?“
„Möchten Sie das denn wirklich wissen?“
„Muss ich ja wohl!“
„Na schön, aber vorher möchte ich endlich meine Frage beantwortet haben, mit der ich Sie eben erschreckt habe.“
Sie runzelte die Stirn. „Sie haben mich nicht erschreckt. Bilden Sie sich das nur nicht ein ... außerdem ... welche Frage soll es denn gewesen sein?“" Sie schaute möglichst ruhig zu ihm auf, aber ihr Herz pochte trotzdem schon wieder.
„Nun, Sie erklärten mir vorhin, als wir auf die Suchtrupps gewartet haben, sie hätten irgendetwas dazugelernt!“ Er schwieg für einen Augenblick, ehe er fortfuhr. „Was meinten Sie damit?“
„Dass alle für den selben Gedanken kämpfen könnten, auch wenn sie im Grunde völlig unterschiedlich sind!“
„Kämpfen!“ wiederholte er und seine kleinen, flinken Augen glitzerten dabei wild. „Sie sind sich im Klaren, dass sie soeben dieses füüüürchterliche Wort ausgesprochen haben?“
„Ja, das habe ich! Aber habe ich dabei von Gewehren von Pistolen gesprochen!“
„Ob mit oder ohne Waffe“, krächzte er. „Am Ende sind wir doch alle tot!“ Und wieder lachte er leise in sich hinein.
Ein Schauer huschte ihr den Rücken hinab und sie zog die Decke enger um sich. Sie warf einen haltsuchenden Blick auf Paul, sein friedliches Schnarchen beruhigte sie.
„Margrit!“ Günther Dom beugte sich zu ihr herab und sein heißer Atem streifte ihre Wange. „Es ist Krieg! Hier gibt es nichts Gutes ... nur noch Böses. Jedes Mittel sollte uns recht sein, um uns gegen den übermächtigen Gegner zu behaupten, sonst sind wir verloren!“
„Aber ... es gibt auch Gutes!“ ächzte sie. “Selbst auf der anderen Seite. Sie sehen es nur nicht!“ Sie war vor ihm nach rückwärts fortgerutscht, doch er kam hinterher, stand mit seinen dreckigen Schuhen schließlich auf ihrer Decke. „Wir Menschen sind diesmal nur angegriffen worden, weil sich die Feinde der Hajeps bei uns versteckt haben!“ fuhr sie keuchend fort. “Bis jetzt fiel nur Kitzingen ... oder haben Sie etwa inzwischen über Funk erfahren, dass noch mehr ...?“
Obwohl es dunkel war, bemerkte sie, dass er nickte.
„Ja!“" ächzte er dumpf und sie konnte seine große Verzweiflung heraushören, die er dabei empfand. „Ich muss nun zurückfahren, Margrit, denn dabei sind besonders die Tunneleingänge der Ratten attackiert worden ... obwohl ich nicht glaube, dass ich diesen Menschen noch werde helfen können. Leben sie wohl!“ flüsterte er und strich ihr erstaunlicherweise recht sacht über die Wange. „Gott schütze Sie!“ Er warf einen Blick auf Paul, dann auf die Schnarcher ihres Trupps. „Sie ... und Ihre tapfere kleine Schar!“ Und er wendete ihr den Rücken zu und ging.
„Halt!“ rief sie ihm nach kurzer Überlegung hinterher. Warten Sie einen Augenblick!“ Wie der Blitz war sie aufgesprungen und ihm hinterhergerannt. Schließlich sah sie, dass mit Günther Arendt noch weitere Guerillas auf den Beinen waren. Einige der geparkten Jambutos wurden bereits in Gang gesetzt, um wieder los zu fahren. Die Männer der Jamba waren schon zum Teil aus ihrem Fahrzeug geklettert und warteten auf ihren Chef. Dieser schien in großer Eile zu sein, dennoch bemühte sich Margrit ihn aufzuhalten. Er wendete sich schließlich mit hochgezogenen Brauen überrascht nach ihr um.
„Nanu, Margrit, was haben Sie denn jetzt vor?“ Er lachte traurig. „Ich muss sagen, Sie verwirren mich immer wieder.“
„Was ist mit Zarakuma?“ keuchte sie atemlos. „Diese Sache brodelt doch noch immer in ihrem Kopf herum, richtig?“
„Margrit, jetzt sagen Sie bloß, Sie haben sich`s anders überlegt, machen doch dabei mit, und ich bekomme einen Herzschlag!“
„Da haben Sie mich falsch verstanden, brauchen wirklich keinen zu bekommen! Aber ich bin nun mal auch neugierig und wollte wissen, ob Sie das aufgegeben haben!“
„Ich gebe niemals auf, Margrit. Das merken Sie sich mal!“
„Aber müssen die Hajeps nicht, nachdem sie uns so fertig gemacht haben, damit rechnen, dass wir uns wehren? He, wenn ich Undasubo wäre, würde ich aus diesem Grunde keine Menschen mehr nach Zarakuma kommen lassen!“
„Sind sie aber nicht, Margrit! Japongati besteht sogar darauf, dass noch heute zwanzig junge Menschen vor Zarakuma um Einlass bitten sollen!“
„Verrückt!“ Margrit kratzte sich am Kopf. „Kann ich irgendwie nicht verstehen!“
„Margrit, Sie vergessen immer wieder, dass die Hajeps in ihrer ganzen Überheblichkeit uns für solche Schwächlinge halten, dass sie uns inzwischen gar nicht mehr zutrauen, dass wir uns überhaupt noch wehren könnten. Sie ahnen also nicht im geringsten, was wir mit ihnen vorhaben. Das ist eben der Vorteil“, er kicherte, „vom Nach¬teil, dass uns im Grunde gleich drei Völker erobert haben und wir deren großes Wissen auch für uns nutzen kön¬nen.“
„Und?“
„Was und?“
„Na, haben sie nun die ... tja ... zwanzigste Person endlich gefunden, die ihnen für dieses Unternehmen noch gefehlt hatte?“
Er schien plötzlich nach Worten zu suchen. War er gerade dabei rot geworden oder hatte Margrit sich das nur eingebildet?
„Nun“, sagte er endlich, “auf Gesine wartet schon ein kleiner, schneller Jambo ... sehen Sie ... da hält er gerade!“
„Oh Gott, den fährt ja Mike!“
Mike öffnete die Tür des Jambos und sprang ins Freie. Hinter ihm waberte der Morgennebel.
„Was heißt hier – oh Gott - ich bin froh, dass ich ihn habe!“
Mike winkte Margrit etwas unsicher zu, aber die winkte nicht zurück.
„Und was ist jetzt mit Mike und Gesine?“ keuchte sie, vor Angst ziemlich atemlos geworden.
„Mit Mike eigentlich gar nichts!!“
„Nein, ich meine ja auch eher Gesine!“
„Na ja, ich habe sie wecken müssen, hatte trotz allem, was sie so erlebte, einen recht erstaunlichen Schlaf!“
„Wollen Sie damit sagen, dass ... ich meine ... ich verstehe wohl nicht recht?“
„Doch, doch ... Sie verstehen schon richtig. Ich hatte Japongati leider zwanzig versprochen. Wer sollte, da Sie sich weigerten, nun diesen Platz einnehmen? Da sah ich Gesine. Sie schlief - einsam und allein - die Menschen vom Lager würden also nichts bemerken.“ Er rieb sich das Kinn, schwieg für einen Augenblick und entzog seinen Blick Margrits fragenden, fassungslosen Augen. „Ja, ich habe sie mit Refenin infiziert“, sagte er tonlos.
Margrit starrte ihn immer noch genauso an, doch ihre Lider füllten sich allmählich mit Tränen.
„Mein Gott, Margrit, schauen Sie mich nicht so an ... es ist Krieg und ... haben Sie keine Angst! Sie hat von der Spritze wirklich nichts bemerkt. Ich betäubte sie während des Schlafes mit Chloroform.“
„Das glaube ich Ihnen nicht!“ zischelte sie leise. „Sie wollen mich nur schikanieren, weil ich mich geweigert habe, denn Gesine wurde ja bereits schon einmal nach Zarakuma geschickt. Die Hajeps würden sie wieder erkennen!“
„Wohl eher nicht, denn wir werden Gesine die Haare färben. Sie wird wegen der Augenfarbe Kontaktlinsen tragen und selbst wenn sie erkannt werden sollte - ist sie erst einmal in Zarakuma, wird man das nicht so genau nehmen, denke ich mir.“ Er grinste. „Denn sie ist ein verdammt hübsches Kind!“
Tränen liefen Margrit stumm die Wangen hinab, während sie ihm immer noch ins Gesicht starrte.
„Gesine wird wegen dem Chloroform wohl noch ein wenig müde sein. Sie weiß also nicht, was mit ihr geschehen ist ... alles klar?" Er lächelte Margrit beruhigend an, aber nicht lange. Schon fühlte er Margrits Hand schmerzhaft gegen seine Wange klatschen.
„Verbrecher!“ brüllte sie fassungslos. „Sie wussten, was Sie mir damit antun würden, und darum haben Sie es auch gemacht. Sie wollten sich in Wahrheit an mir rächen!“ heulte sie plötzlich laut los.
Die Guerillas vor den Jambos und den Feuerwehren schauten währenddessen erstaunt zu und konnten sich, da sie ein Stück entfernt waren, aus den Wortfetzen, die zu ihnen drangen, keinen Reim machen.
„Na und?" sagte der Ministerpräsident sehr zufrieden und rieb sich die Wange, die ziemlich heiß brannte und auf der später Margrits Finger zu sehen sein dürften. „Diese Rache ist mir doch ganz ausgezeichnet geglückt, nicht
wahr? Gesine ist recht gescheit, sie wird jetzt Ihren Platz einnehmen. Ich muss nur noch Munjafkurin überzeugen, dabei mitzuspielen, denn retten kann er Gesine eh nicht mehr. Wenn er Gesine durchschleust, wird sie viel¬leicht bis zu Japongati und Oworlotep vordringen können und wenn wir Glück haben, sogar bis zu Quanzhulon, und dann ...“, er lachte, obwohl Margrit fassungslos schluchzte und dabei stammelte:
„Sie sind ja so gemein ... ach, Sie sind ja so gemein! Ich finde Sie so wiiiederlich ... soooo zum kotzen!“
Es war daher eher ein Selbstgespräch, dass er seelenruhig führte. „Meine Leute werden Gesine nach Eibelstadt bringen, wo auch die übrigen Menschen versteckt sind“, murmelte er. „Ich glaube, dass ich Munjafkurin auf meine Seite bekommen werde, denn ihm ist die Befreiung seines Volkes mehr wert als sein eigenes Leben, was ich von gewissen Leuten meiner Spezies nicht sagen kann.“ Nun warf er Margrit doch einen kurzen, strafenden, aber auch enttäuschten Blick zu, wendete sich von ihr ab und bestieg den Wagen.
Gesine kam indes ein wenig taumelnd angelaufen, drückte leise gähnend Margrit zum Abschied die Hand. Jetzt erst gewahrte sie die Tränen.
„Was hast du nur?“ fragte sie mitleidig. Sie hielt den Kopf schief und ihre blonden Zöpfe zauste dabei der Wind. „Weinst du etwa um deine Kinder?“
„Ach, lass nur, werde mich schon beruhigen!“ erklärte Margrit stockend.
Gesine drehte sich nach dem Jambo um, in welchem Mike bereits ungeduldig auf sie wartete, um sie nach Eibelstadt zu bringen. „Weißt du“, wisperte Gesine trotzdem noch schnell, „niemand hier glaubt an dich, aber ich schon. Ich bin mir sicher, dass den sechsten Sinn besitzt und deine Kinder bald gerettet haben wirst!“
„Aber bei einem meiner Kinder werde ich das bestimmt nicht mehr können!“ schluchzte Margrit plötzlich lauthals los und Gesine nahm Margrit in die Arme.
„Nanu?“ Entfuhr es Gesine verwundert. „Du bist doch sonst so tapfer! Wem soll denn etwas passiert sein. Dem Mädchen oder dem Jungen?“
„Dem Mädchen!“ erklärte Margrit und konnte es nicht verhindern einfach weiter zu weinen.
„Aber woher willst du das wissen?“ Gesine streichelte Margrit dabei tröstend über das Haar. „Ich meine, hat dir denn jemand etwas über dieses Kind erzählt?“
„Ja!“ Margrit machte sich von Gesines Armen frei und kramte ein Taschentuch hervor.
„Ach, was die Leute so reden, ich würd` das alles nicht so leicht glauben!“ fauchte Gesine, nun richtig zornig geworden. „Lass den Kopf nicht so hängen. Denk dabei lieber an deinen eigenen Spruch. Was hast du immer gesagt?“
„Nur wer aufhört, an das Gute zu glauben, ist wirklich verloren!“ nuschelte Margrit undeutlich und wischte sich dabei die Tränen aus den Augen.
„Siehst du, ich habe mir diesen Spruch zum Vorbild genommen. Sollte es mir mal wieder so schlecht gehen wie gestern, dann werde ich einfach an all das Gute zurück zudenken, was ich in meinem Leben bereits erfahren habe. Und du selbst machst das plötzlich nicht? Mensch Glucki, was bist du dann für ein Vorbild, hehe?“
„Mensch, mach endlich Gesine!“ fauchte Mike schon wieder.
Darum drückte Gesine Margrit nur noch ein letztes Mal an sich. „Nur nicht durchdrehen Glucki, okay?“
„Okay!“ krächzte Margrit und grinste.
Margrit winkte Gesine noch lange hinterher, bis der kleine Jambo vollends im Dämmerlicht verschwunden war.
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Sie wandte sich schließlich, nachdem sie auch den übrigen Jambutos, den Feuerwehren und Krankenwagen hinterher geschaut hatte, mit blassem Gesicht wieder dem Lager zu. Seltsam, diese Menschen hier mussten so erschöpft sein, dass sie sich noch nicht einmal durch das Getöse der Feuerwehren gestört gefühlt hatten und einfach weiterschliefen.
Sie legte sich wieder neben Paul auf die Decken, aber sie fand immer noch keinen Schlaf. Nach wie vor kreisten ihre Gedanken um ihre Kinder, um ihre Mutter und dann wieder um Gesine, wobei sich ihr das Herz schmerzhaft zusammen krampfte. Schließlich stand sie genervt auf und lief für ein Weilchen hin und her. Zunehmend war es heller geworden, war der Horizont in rötliches Licht getaucht. Sie beugte sich schließlich zu Paul hinab, tippte ihn sacht an die Schulter und flüsterte: „He, he, du Paul!“ Doch er reagierte kaum, drehte sich nur auf die andere Seite und schnarchte etwas lauter weiter. Nun rüttelte sie ihn unsanft. „He Paul, wach auf!“ brüllte sie in sein Ohr. „Mensch, mach doch die Augen auf! Ich habe dir etwas Wichtiges zu sagen.“ Er fuhr schnorchelnd hoch.
„W ... was ist? S ... sind wir umzingelt? Ha ... haben sie uns ... ja?“ Er zog - noch immer im Halbschlaf - die Decke hoch bis zu seinem Hals und zitterte am ganzen Körper. „Die haben Licht angemacht, nicht wahr?“ brabbelte er und blinzelte in die Morgendämmerung.
Jetzt erst sah er, was eigentlich wirklich los war und begann über sich selbst zu lachen, dann aber schaute er verwundert auf Margrit, die fertig angezogen und mit einem Rucksack auf dem Rücken neben ihm stand und sein Blick wurde verdrießlich. „Weshalb weckst du mich?“ knurrte er. „Und warum bist du startbereit? Wir haben erst vier Stunden geschlafen. Günther Arendt hat gesagt, dass wir ausgeruht sein und daher volle fünf Stunden geschlafen haben sollen, ehe wir weitersuchen.“ Er ließ sich wieder zurückfallen, warf sich den Zipfel der Decke über die Augen, damit ihn das heller werdende Licht nicht blendete und zeigte somit deutlich, was er von Margrits Störung hielt.
Dennoch beugte sie sich wieder zu ihm hinab. „Kommst du trotzdem mit mir mit, Paul?“ fragte sie kläglich. „Sieh mal, ich kann ohnehin nicht schlafen. Die Sorgen um Mutsch und die Kinder machen mich fast verrückt. In der Ferne wird noch immer gekämpft. Anscheinend kommen die Bodentruppen der Loteken von hier einfach nicht mehr weg. Ich bin gespannt, wie Günther Arendt mit seinen vielen Wagen durch die Absperrungen gekommen ist. Er ist fort, hörst du? Wir sind völlig auf uns allein gestellt. Wir haben nur noch einen Krankenwagen, die meisten Helfer sind weg, zum Gebiet der Ratten um denen zu helfen, ist angegriffen worden.“ Sie blickte über die Schulter. „Den Menschen tun die Jimaros ja eigentlich nichts, aber trotzdem ... vielleicht ... vielleicht ist Muttchen doch bei den Schießereien verletzt worden oder eines meiner Kinder ...“
„MEIN GOTT!“ Er fuhr wütend hoch und warf die Decke von sich, in welche er sich eingerollt hatte und daher einem riesigen Maulwurf nicht unähnlich gewesen war. „WIRST DU MICH WOHL ENDLICH in RUHE LASSEN! Lass doch Günther Arendt fort sein und seine sämtliche Feuerwehren ... mich interessiert deine Scheißfa¬milie nicht, jedenfalls NICHT EHER, als bis ich nicht meine Fünf Stunden heruntergeschlafen habe, alles klar?“ Und er warf sich schnaufend auf die Seite und rollte sich wieder völlig ein. Da ging sie endlich mit gesenktem Kopf. Er hörte ihre schleppenden Schritten, seufzte und fuhr dann doch wieder hoch.
„Also willst du tatsächlich Selbstmord begehen!“ schnaufte er.
„Wieso?“
„Na, weil du alleine fortläufst oder was soll das?“
„Weil ... na, du kommst ja nicht mit!“
„Komme ich auch nicht!“ erklärte er richtig bockig.
Sie blieb mit gesenktem Kopf stehen. „Paul, so kann ich einfach keine Ruhe finden. Ich muss endlich wissen, was mit ihnen los ist“, erklärte sie matt.
„Du bleibst hier“, befahl er jetzt einfach und wies demonstrativ mit dem Zeigefinger neben sich auf seine Decke. „Hier legst du dich hin und schläfst!“
„Begreifst du denn nicht? Ich kann nicht mehr schlafen, halt`s nicht mehr aus!“ sagte sie unter Tränen.
„He, wie ich dich kenne, wirst du jetzt nicht mehr die Stadt durchkämmen sondern deren Umgebung ... habe ich Recht?“
Sie nickte bestätigend. “Ich will Richtung Reichenberg gehen, so wie Muttsch und ich das einstmals geplant hatten, hätten wir in Würzburg keine Bleibe gefunden! Ich habe noch alle Wege und Straßen im Kopf, die wir dabei nehmen wollten.“
„Was, so weit willst du? Du kannst dabei Rehanan-Loteken in die Hände fallen ... ist dir das klar?“
Sie machte große Augen. „Wieso, ist denn irgendetwas besonders mit denen?“
„Mensch, bist Profiler und weißt das nicht mal! Es wird dir doch wohl nicht entgangen sein, dass es außer den rebellischen Loteken auch linientreue Loteken bei den Hajeps gibt, sogenannte Rehanan! Das sind die komi¬schen mit dem nur zur Hälfte kahlrasiertem Kopf.“ Er seufzte. „He, auf der einen Seite ihres Gesichtes haben die schulterlanges, offenes Haar und auf der andern sind sie eben völlig kahl ... eine Protestfrisur sozusagen ... dämmerts vielleicht jetzt?“
„Ja, ist mir nun eingefallen, Paul. Diese komischen hajeptischen Soldaten meinst du also. Na und? Die tun mir doch nix! Haben es doch nur auf die Aufständischen abgesehen!“
„Sicher haben sie das ... überwiegend, aber trotzdem besteht die seltsame Neigung, Leute, die sie besiegt haben, zu quälen! Da ist es denen ganz wurscht, ob das Mensch oder Rebell ist!“
„Iiih, das ist aber wirklich fatal!“ entfuhr es ihr, erheblich blasser im Gesicht geworden. „Und das sagst du mir jetzt nicht so, nur damit ich nicht gehe?“
„Margrit, nicht mal ich würde gehen, obwohl ich ein Mann bin ... und selbst, wenn wir als ganze Gruppe gingen ...“, Paul machte eine weitschweifende Handbewegung, „... alle die hier liegen ... würde jeder von uns panische Angst haben, von diesen Biestern entdeckt zu werden! Und dann die Rebellen, die sind doch in Panik, suchen Verstecke!“ Er warf die Decke ärgerlich von sich. „Ich werde mich jedenfalls nicht all zu weit von hier fort bewegen. Irgendwann wird ja dieser Kampf beendet sein und dann können wir immer noch nach deiner Familie suchen.“
„Und wann meinst du wohl, werden diese Kämpfe zu Ende sein?“
Er zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung. Jedenfalls habe wir alle noch genügend Proviant, um für ein Weilchen auszuharren!“
„Bis dahin ist es mit meinen Kindern bestimmt längst vorbei!“
„Oder sie haben sich läääängst selber gerettet!“ erklärte er.
Margrit stemmte die Hände in ihre Hüften. „Weißt du, Paul, ich werde nicht alleine gehen ... George wird mich nämlich begleiten.“ Sie beobachtete von der Seite her lauernd sein Mienenspiel. Würde er vielleicht eifersüchtig werden? Doch der Ausdruck seines Gesichtes schien sich zu ihrer Überraschung kaum verändert zu haben.
„Na schön“, sagte er nur, ergriff sich seine Decke und breitete die ziemlich penibel über seine Beine aus, „wenn der so dämlich ist“, und er gähnte herzhaft, „soll er dich ruhig begleiten.“ Und er legte sich, nachdem er sich wieder von Kopf bis Fuß liebevoll in seine Kuscheldecke gewickelt hatte, mit Schwung aufs Ohr.
Margrit tappte indes geschafft von dannen. Sie kam auf ihrem Weg an manch bekanntem und zuverlässigem Gesicht vorbei, brachte es aber letztendlich doch nicht fertig, auch nur eines von ihnen zu wecken. Sie alle hatten furchtbare Stresssituationen durchgemacht und daher dringend Schlaf nötig, und sie war sich bewusst, dass auch sie selbst diese Kraftanstrengungen ohne Ruhepausen nicht mehr lange durchstehen würde. Über kurz oder lang würden sie schließlich die letzten noch verfügbaren Kräfte verlassen, sie würde einfach umfallen, wie sie das schon manchmal bei Flüchtlingen, die sich in ihre Untergrundorganisation geschleppt hatten, erlebt hatte, und auf der Stelle einschlafen. Schon jetzt machten sich immer häufiger Anfälle von Kopfschmerzen bemerkbar, die Hände zitterten leicht und ihre Augen brannten.
Dann kam sie an George vorbei. Die beiden kleinen Mädchen hatten sich im Schlaf fest an ihn geklammert und er hatte die Arme um die Kinder geschlungen und schnarchte aus Leibeskräften, was die Kleinen überhaupt nicht zu stören schien. Margrit beugte sich zu ihm hinab und brachte flüsternd ihre Bitte hervor, aber weder eines der Kinder noch er selbst reagierten darauf. Sie nahm sich fast lautlos einige Patronen aus Georges Gürtel, murmelte dabei leise eine kleine Entschuldigung, betrachtete für ein Weilchen nachdenklich die blassen, erschöpften Gesichter der Drei und legte dann die Decke sorgsam über ihre, weil sie die im Schlaf von sich gestrampelt hatten. Schließlich ging sie stumm, aber entschlossen fort.
Etwa eine Stunde später taumelte Margrit durch die Trümmer von Kitzingen. Sie war vom vielen Schreien und Rufen nach ihrer Familie heiser geworden, brachte kaum noch einen Ton heraus. Beißender Rauch schlug ihr ins Gesicht. Sie hustete ständig und ihre Augen tränten. Einige Häuser brannten noch immer. Wo war das Ratshaus? Der zähe Feuerbrei hatte sich mit rasender Schnelligkeit durch Straßen und Gässchen gezwängt und fast alles war hier in leuchtende Fackeln aufgegangen, hatte wohl kaum Leben übriggelassen. Wer noch versucht hatte sich zu retten, war dann vom Erdbeben begraben worden. Ach, die Welt, durch welche Margrit nun mit weit aufgerissenen Augen stolperte, war gar nicht mehr einer solchen ähnlich, sondern eher der Hölle, wie man die sich so im allgemeinen vorstellt. Sah es etwa inzwischen in den anderen Städten hier in der Nähe auch so aus?
Ihre Kehle war ausgedörrt und die Haare klebten an ihrem Kopf, das Hemd war ihr zum Teil aus der Hose und von der Schulter gerutscht, doch das bemerkte sie nicht. Sie bewegte sich über die vielen Steine, Balken und Ziegel, welche im Wege lagen, so tollpatschig wie ein verlorenes Kind. Die teilweise holprige und dann wieder sehr glatte, lavaähnliche Masse, über die sie in ihren zerrissenen Turnschuhen schlurfte, konnte man wohl als erkaltet bezeichnen, aber sie war immer noch so warm, dass ihr die Fußsohlen schmerzten. Margrit war schon mehrmals ausgerutscht, nieder gestürzt, hatte sich dabei das Knie, den Ellenbogen und bestimmt noch so einiges mehr wundgeschlagen. Oft musste sie Bretter und Stangen zur Seite räumen, damit sie überhaupt vorwärts kam. Margrit schwitzte, als befände sie sich in den Tropen, doch der Rauch und die heiße Luft trockneten sie sofort wieder ab. Bisweilen hatte Margrit gemeint, menschliche Stimmen in den Straßen gehört zu haben oder halberstickte Schreie, ein jämmerliches Weinen gar, und sie hatte deshalb innegehalten und angespannt gelauscht. Sie hatte sich bemüht, jene gedämpften Stimmen aus den beklemmenden Geräuschen knatternder Flammen und berstender Holzbalken, die manchmal in Margrits Nähe herabdonnerten, hinauszufiltern, zu identifizieren, hatte aber schließlich gemeint, dass sie wohl nur das eigenartige Geprassel hajeptischer und lotekischer Gewehrsalven in der Ferne, das Getöse mächtiger Geschütze und die dazu gehörigen, sonderbaren Stimmen der Feinde mit menschlichen Lauten verwechselte. Schließlich aber sah sie doch einige Schatten, welche genau wie sie durch die Straßen taumelten und dabei in einem fort Namen riefen. Sie versuchte sofort, mit diesen Leuten Kontakt aufzunehmen, konnte ihnen aber nicht nahe genug kommen und schon waren sie wieder weg.
Margrit ahnte, dass inzwischen die halbe Nacht vergangen sein musste, denn sie war erschöpft, beinahe apathisch. Sie fühlte nur noch eines, dass es kaum zu ertragen ist, ohne Menschen zu leben, die man liebt und noch schlimmer, sie in großer Not zu vermuten. Sie hatte keine Tränen mehr und mit einem Male erschien ihr das viele Suchen völlig sinnlos, denn was war, wenn sie Muttsch und die Kinder fand, diese jedoch verschüttet waren? Wie sollte sie die dann ohne Unterstützung und bar jeder Hilfsmittel freibekommen?
Nein, sie durfte nicht an solche Dinge denken! So riss sie sich also wieder zusammen und bald gingen ihre Augen wie immer suchend in den grellen Flammen hin und her, um nach einem vertrauten Schatten, vielleicht nur einer Bewegung Ausschau zu halten.
Plötzlich meinte sie, jemanden ganz in ihrer Nähe um Hilfe schreien zu hören. Es war eine etwas heisere Männerstimme und sie hatte zunächst Angst, dass es der Feind sein könnte, welcher sie womöglich nur anlocken wollte. Doch dann lief sie trotz bebender Knie einfach dort hin und war wenig später erstaunt, dass es gar nicht so schwierig wie gedacht war, zu helfen. Es war in diesem Fall eine Tür gewesen, welche wegen dem herabgestürzten Gestein geklemmt hatte. Der Eingesperrte war bald befreit. Er war zu Margrits Erleichterung kein Hajep und auch kein Loteke, sondern ein kräftiger, dunkelhaariger Mann, der sich, da er seine Frau vermisste, Margrit anschloss.
So streiften sie zu zweit durch die zerstörte Stadt, und dann hatten sich tatsächlich doch noch weitere Leute gefunden, die sich mit den Tapferen zu einem kleinen Suchtrupp zusammentaten. Schließlich bewaffnete man sich mit einigen Schaufeln, Äxten, Hacken und sogar Decken, welche Einige von ihnen aus den Häusern geholt hatten. Man gehorchte Margrit und Sebastian, machte sie auf diese Weise zu Anführern. Man trennte sich nur auf Befehl und traf sich an vereinbarter Stelle pünktlich wieder und nur die Angst vor neuerlichen Angriffen der Hajeps und die Gewissheit alleine kaum einen Verwandten oder Bekannten ausfindig machen zu können und ihn zu befreien, machte diesen sonderbaren Gehorsam möglich.
Je mehr Menschen hinzukamen, umso verbissener hielt man zusammen. Abstimmungen gingen nur kurz und knapp vonstatten. Bald waren es sechsundzwanzig Menschen, die durch die Stadt schlichen. Sogar ein ehemaliger Spinnenguerilla war darunter, der Margrit leider keine genaue Auskunft über den Verbleib ihrer Kinder hatte geben können.
Die wagemutigen Suchaktionen sollten letztendlich mit Erfolg gekrönt sein. Acht von den inzwischen vierunddreißig Leuten fanden ihre Freunde und Verwandten wieder. Manche von denen waren ebenfalls auf der Suche nach ihnen gewesen und hatten sich plötzlich in den Straßen wieder getroffen. Margrit hatte mitgeweint, weil sich diese Menschen schluchzend vor Erleichterung und Freude in die Arme gefallen waren. Bei manchen aller¬dings war es sehr viel schwieriger, denn diese Leute waren in den Häusern eingesperrt und einige von ihnen tatsächlich verschüttet, etliche sogar so fürchterlich eingeklemmt gewesen, dass sie nicht ohne schlimme Verletzungen hatten geborgen werden konnten.
Es gab in dem kleinen Suchtrupp bald Menschen mit erheblichen Verbrennungen, die in notdürftig hergestellten Bahren getragen oder zumindest, wenn das nicht ging, an sicherer Stelle niedergelegt, bewacht und versorgt werden mussten.
Oft waren Menschen unter den Trümmern, mit denen niemand von ihnen bekannt war und einige von ihnen dachten überhaupt nicht daran, bei den verzweifelten Versuchen, diese Personen zu bergen, mitzuhelfen, weil sie meinten, dass man dadurch nur unnötig viel Zeit vertun würde und die eigenen Vermissten wären dann womöglich bereits am Ersticken! Margrit konnte sich dann plötzlich sehr hart zeigen und diese Menschen kurzerhand aus ihrer Gruppe verbannen, was wiederum allgemeine Verwirrung und laute Proteste auslöste. Schließlich ord¬neten sich doch zu Margrits Erstaunen die meisten der Gruppe ihr unter. Nur Einzelne, unter denen sich auch ein Paar befand, das sich bereits gefunden hatte, trennten sich von ihr und gingen ihre eigenen Wege. Der größte Teil derjenigen, die wiedergefunden hatten, was sie liebten, zeichnete sich aber gerade dadurch aus, dass sie am eifrigsten halfen andere zu bergen. Das wiederum steckte die anderen an weiterhin mitzumachen und nicht auf¬zugeben!
Schlimm wurde es allerdings, wenn man den Verschütteten zwar entdeckt, sich sogar mit ihm verständigt und ihn beruhigt hatte, es aber partout nicht gelingen wollte, ihn von all dem oft zentnerschwerem Schutt und Geröll zu befreien. Noch entsetzlicher wurde es, wenn einer aus der Gruppe mit diesem verwandt oder befreundet war und verzweifelt um dessen Befreiung bangte. Doch manchmal war es einfach nicht möglich, den Verschütten zu befreien. Niemand konnte es dann über das Herz bringen und die furchtbare Situation eingestehen, sagen, dass alles vergeblich gewesen war und dass sie jetzt endlich weiter müssten - bis auf Margrit. Mit versteinerter Miene war sie es, die den Befehl zum Weiterziehen gab und dann folgte ihr alles - stumm und widerspruchslos!
Manchmal blieb ein schluchzender Verwandter am Ort zurück und bemühte sich, alleine den Eingeschlossenen zu befreien, doch er musste bald aufgeben und warf nicht selten, hasserfüllt und wilde Flüche von sich gebend, die Schaufel in die Richtung, in die Margrit und die anderen gegangen waren. Er konnte ja nicht wissen, wie bitter es besonders dieser sensiblen Frau aufstieß, einen eingesperrten, halb erstickten, hemmungslos schluchzenden Menschen zu verlassen. Ja, Margrit war in dieser furchtbaren Nacht innerlich gereift, sehr hart geworden, denn noch einmal, das hatte sie sich geschworen, wollte sie nicht wie damals auf der Flucht fast den Verstand verlieren. Aber, auch wenn du nichts mehr spüren willst, dein Herz macht doch klammheimlich mit, besonders wenn es dabei um Kinder geht. In solchen Fällen verlor Margrit doch die Beherrschung. Die Maske fiel herunter und sie begann unter Tränen fürchterlich zu schreien und zu toben oder einfach wirre Dinge vor sich hin zu schimpfen. Sie hob dabei sogar in ohnmächtiger Wut die Faust gen Himmel und tröstete mit ihrem wilden Kampfgebrüll die kleine Schar, die dumpf und mit gesenkten Häuptern einen Kreis um Margrit gebildet hatte. Ja, es war seltsamerweise eine gewaltige Kraft, die von dieser dünnen, verschmutzten Frau ausging und die gab allen den Lebensmut und den Willen, welchen sie unbedingt brauchten, wenn sie weiterwollten.
Immer wenn Margrit geendet hatte, fühlte man sich soweit gestärkt, dass man wortlos nach seiner Hacke oder Spaten greifen, sich alles, was man brauchte, ruhig über die Schulter legen und mit zusammengebissenen Zähnen weitersuchen konnte, immer weiter, auch wenn man vor Müdigkeit kaum zu stehen in der Lage war.
Darum war es eine große Erleichterung, als plötzlich zwei Jambas, uralte Feuerwehren, und drei Jimbas, notdürftig zusammen gebastelte Krankenwagen und noch sechs weitere Jambutos durch die Straßen holperten.
Margrit konnte es kaum fassen, und ihre Überraschung wurde noch größer, als sie unter den furchtlosen Rettern, die nun aus den Wagen sprangen und sie jubelnd begrüßten, Paul, George, Erkan, Martin, San Chao, Karl, Gesine, Rita und sogar Günther Arendt und Mike entdeckte. Besonders beim Anblick von Mike blieb Margrits Herz fast stehen vor lauter Aufregung. Ja, sie hoffte jetzt sogar, dass Mike trotz aller Katastrophen Mutsch und die Kinder noch immer als seine Gefangenen bei sich behalten hatte. Selbst dem verhassten Günther Arendt hätte Margrit in diesem Moment ihre Familie gegönnt, denn die Guerillas kannten gewiss mehr Verstecke, in denen man sich vor dem Feind in Sicherheit bringen konnte als die arme alte Muttsch.
„Mike!“ brüllte Margrit deshalb auch sofort. „Wo ist meine Familie? Wo hast du sie gelassen?“ Doch ihr Rufen ging zwischen all den gellenden Stimmen einfach unter. Margrit vernahm sogar aufgeregtes Hundegebell.
„He, he! Das ist meine Margrit ... ja?“ Paul kam mit einigen Männern herbeigehetzt und stieß dabei George ärgerlich zur Seite, der sich gerade seinerseits mit einem lauten Freudenschrei auf Margrit hatte stürzen und sie an sich drücken hatte wollen.
„Spinnst du? " rief George und bemühte sich bei dem ekstatischem Gedrängel die Balance zu halten.
„Wie hast du dich nur retten können, meine Kleine?“ übertönte Paul den allgemeinen Stimmenwirrwarr und riss Margrit derart heftig an sich, dass sie gleich einen Schuh verlor.
„Und all diese Leute dahinten?“ mischte sich George wieder ein, der sich endlich durch das Menschenknäuel einen Weg zu Margrit hatte bahnen können. „Wie bist du denn auf diese Mannschaft gestoßen?“ Er blickte verwundert auf das erbärmlich anzuschauende Häuflein des Suchtrupps, das sich schüchtern hinter ihr versammelt hatte.
Margrit konnte kaum antworten, denn schon hörte sie eine laute Jungmädchenstimme direkt in ihrer Nähe.
„Mann, Glucki! Ich fasse es nicht. Jetzt sag bloß, du hast die da hinten alle gerettet weil du deine Kinder gesucht hast! Trau ich dir glatt zu!“ vernahm sie Gesine, durch das ungebändigte Getöse. Sie hatte sich Margrits Fingerspitzen ergriffen, die an der Seite hinter Pauls Bauch hervorragten und versuchte ihre Hand zu schütteln. „Schöne Grüße übrigens von Munjafkurin!“ brabbelte sie nervös. „Er fliegt übrigens da oben.“ Sie schaute sehnsuchtsvoll zum nachtschwarzen Himmel, wo sich tatsächlich gerade ein einsamer, hajeptischer Jäger zeigte, der, scheinbar an allem desinteressiert, gemächlich über der Stadt dahin segelte.
Jetzt bahnten sich zwei Männer, von denen der eine Margrit als Spinnenmitglied bekannt vorkam, einen Weg durch die Menge. Aufgeregt richteten sie an Margrit einige Fragen. Besonders interessierten sie die Straßen und Häuser, in denen Margrit bereits mit ihrem Trupp nach Menschen gesucht hatte.
Die anderen Retter stellten den Stadtleuten Fragen. Da nur sehr langsam und halb apathisch geantwortet wurde, hetzte manch einer von denen voller Ungeduld los, denn sie waren gut ausgerüstet mit Bergungsgeräten. Wieder erscholl ekstatisches Gebell aus ein paar rauen Hundekehlen.
„Immer mit der Ruhe! Immer mit der Ruhe!“ hörte Margrit nun Günther Arendt vom Dach des Jambas her nach allen Seiten schreien. „Es hat doch gar keinen Sinn, wenn wir hier alle bunt durcheinander schwirren!“ Und er fuchtelte dabei mit beiden Armen dort oben herum.
„Oh Gott, wenn er nun dabei herunterfällt und ...“ Margrit musste bei dieser Vorstellung lachen, aber Günther Arendt war recht sportlich. So schlank und drahtig wie er war, behielt er geschickt die Balance und hatte außerdem durch sein auffälliges Gehabe das Trupp wieder auf sich aufmerksam gemacht und bald zur Ruhe gebracht.
Nun, nachdem sich alle um seinen Wagen gescharrt hatten, erteilte er ihnen mit fester Stimme Instruktionen. Jeder bekam eine besondere Aufgabe, danach durften kurz und knapp Fragen gestellt werden. Einige meldeten sich auch sofort und trugen ihre Bedenken oder Ideen vor.
Margrit wandte sich währenddessen an George. „Wie geht es inzwischen Renate?“
George machte ein trauriges Gesicht. „Gar nicht gut! Werner konnte sie nur notdürftig zusammen flicken. Sie hat sehr viel Blut verloren.“
„Schrecklich“, keuchte Margrit. „Hoffentlich wird Irmchen nicht Waise! He, dort hinten ist Mike. Wie kann ich nur durch dieses fürchterliche Gewühle zu ihm kommen? Oder weißt du inzwischen schon, wie es um meine Familie steht? “
„Leider auch dort keine gute Nachricht, Margrit, denn ...“
„He, macht mir wirklich nichts“, unterbrach Margrit ihn hastig und hatte dabei Tränen in den Augen, „wenn der Mike Muttsch und die Kinder immer noch gefangen hält, denn das ist besser als wenn ... hm ... na ja ...“ Margrit hielt plötzlich inne und schluckte. „Tot! Oder? Oder sind sie etwa bereits tot George?“ brüllte sie mit einem Male überlaut und am ganzen Körper zitternd.
„Aber Margrit, nein, so schlimm sieht`s auch wieder nicht aus!“ George legte beruhigend seinen Arm um ihre Schulter, den Margrit sofort abschüttelte. „Und warum machst du mir erst solch eine Angst?“ fauchte sie.
„ICH erkläre ihr das!“ Paul stieß George mit dem Ellenbogen in die Rippen, der sich leise brummelnd fügte. „Deine Familie ist nur während all dieser Wirren in einem günstigen Moment geflüchtet. Mike hat weder Muttsch noch die Kinder bisher wiedergefunden.“
„Und das habt ihr ihm geglaubt?“ brüllte Margrit noch immer ziemlich flatterig am ganzen Körper. “Bestimmt hat unser netter Günther Arendt meine Mutter und die kleinen Kinder inzwischen irgendwo bei sich eingesperrt und will`s bloß nicht an euch verraten! He, der ... der lügt doch wie gedruckt! Glaubt dem doch nicht immer! Der schmiert uns alle an, dieser ... dieser Verbrecher!“
„Schscht Margrit, Mensch, so beruhige dich doch!“ versuchte nun auch Paul Margrit zu beruhigen und er schaute sich dabei unsicher allen Seiten um. „Was hast du denn, mit einem Male?“
Die umstehenden Guerillas warfen ihr trotzdem nicht nur erstaunte, sondern auch wütende Blicke zu.
Doch Margrits Leute aus der Stadt hatten ebenfalls mit zugehört und musterten nun Günther Arendt skeptisch und mach einer von ihnen flüsterte dem anderen etwas zu.
George spürte genau wie Paul die angespannte Situation und begann sofort, Margrits absonderliches Verhalten lautstark zu entschuldigen. „Die ist nur völlig fertig, versteht ihr?“ rief er den Guerillas zu. „Die lange Sucherei eben. Und sie kommt halt nicht mit Günthers rauer Art klar! Guckt nicht so ... und ... na ja, mit Mike hat sie schon so einiges erlebt! “
Er schien wohl irgendwie die richtigen Worte gefunden zu haben, denn schon trollten sich einige von ihnen, zumal es ja auch wesentlich Aufregenderes gab, um das sie sich kümmern mussten. Sie kletterten schon mal in die ersten Autos, weil es gleich losgehen sollte.
Einer der Spinnenmitglieder drückte Margrit sogar einen Becher mit Trinkwasser in die Hand und zwinkerte ihr dabei zu. Margrit schaute überrascht auf das kühle Nass und erst jetzt wurde ihr bewusst wie durstig sie im Grunde genommen war. Gierig nahm sie deshalb gleich einen ganz großen Schluck und dankte ihm danach freundlich.
„Weißt du, Margrit“, raunte ihr George zu, nachdem sie den Becher geleert hatte. „Du musst trotzdem etwas vorsichtiger werden, deine Zunge wirklich mehr im Zaum halten, und das selbst, wenn du noch so wütend und verzweifelt bist, denn für die meisten unserer Organisationen sind sowohl der Günther als auch Mike Helden, also richtige Vorbilder.“
„Du, da hat er Recht!“ bemerkte jetzt auch Paul ziemlich leise.
George grinste für diese Bemerkung dankbar, fuhr dann aber ziemlich energisch weiter fort. „Margrit, bedenke mal, was haben wir Menschen schon außer unseren Idealen. Sieh mal, du kannst doch auch noch später beim Günther oder auch beim Mike Erkundigungen über deine Familie einholen. Nimm allen doch nicht den Schwung, wenigstens ein paar Leute aus dieser Stadt noch retten zu können.“
Margrit holte sich mit den Fingern, die letzten Tröpfchen aus dem Napf und träufelte sich die über ihre aufgesprungenen Lippen. „Na gut!“ sagte sie endlich.
„Das ist schön“, bemerkte George ehrlich erleichtert, „dann können Paul und ich endlich an der Rettungsaktion teilnehmen, ohne uns großartig sorgen zu müssen, dass du vielleicht noch Streit anzettelst.“
„Als ob gerade ich so ein Zankenbold wäre!“ murrte sie.
„Na ja!“ erklärten Paul und George fast wie aus einem Munde.
„Außerdem komm` ich mit“, Margrit warf dabei einen traurigen Blick auf die Reste der einstmals so prächtigen, alten Häuser Kitzingens, die immer noch vor sich hin kokelten, „denn falls Mike und Günther ausnahmsweise mal die Wahrheit gesagt haben sollten, könnte meine Familie dort noch irgendwo festsitzen und ...“
„Du schleichst auf keinen Fall wieder tiefer in diese Stadt hinein!“ rief George unmissverständlich beim Weggehen.
„Da hat er aber Recht!“ stimmte ihm Paul abermals, wenn auch recht leise, zu.
„He, wer kann mir das bestimmen!“ schnaufte sie empört. „Wer ...“
„Na, zum Bespiel ich, meine liebe Margrit!“ hörte sie plötzlich hinter sich, und einige der Guerillas, die noch hier herumstanden, machten für ihn Platz. Günther Arendt trug einen großen Wasserkanister auf der Schulter und grinste Margrit ziemlich schief an. Hinter ihm fuhren bereits die ersten Jambos los und auch eine der beiden Jambas. „Ich habe Sie nicht gezwungen, dem Bund der Maden beizutreten und ich sagte Ihnen damals auch, dass es dann kein zurück mehr für Sie gäbe und so haben Sie mir auch heute zu gehorchen. Ja, Margrit, ich befehle ihnen einfach hier zu bleiben“, er machte in Richtung der restlichen Guerillas dabei ein schnelles Handzeichen und die verdünnisierten sich daraufhin ebenfalls, „denn wenn sie mit kämen, würde das gar nichts bringen. Sie sind viel zu müde und erschöpft und ...“ er hob dabei den Kanister von seiner Schulter, „Sie scheinen auch Durst zu haben, richtig?“
Margrit zögerte, sah dabei, dass George, Gesine, Paul und Erkan inzwischen nach hinten in die zweite Feuerwehr geklettert waren und jetzt, da es los ging, ihr noch schnell zuwinkten. Sie winkte nicht zurück, hob auch nicht den leeren Krug, denn sie war sich nicht sicher, ob sie überhaupt ein Getränk von Günther Arendt anneh¬men durfte, denn immer noch hatte sie das grässliche kleine Fläschchen Refenin von damals vor Augen. Konnte man womöglich diese fürchterlichen Viren jetzt auch trinken? Hatte er das etwa herausgefunden und die befan¬den sich nun in diesem Wasser?
„Äh .. woher haben Sie eigentlich diese vielen Wagen bekommen?“ fragte sie daher nur ablenkenderweise.
„Die Maden sind nicht von den Hajeps angegriffen worden, Margrit und auch nicht die Städte, und daher konnten wir all unsere noch funktionstüchtigen Jambutos, die Jambas und Jimbas aus diesen Städten herbeiholen!“
„Aha“, sagte sie und setzte dann etwas hölzern hinzu. „Das ist aber schön ... tja!“ Verdammt, hier wurden das ja immer weniger Guerillas von den Maden und nur noch Mitglieder der Spinnen waren übrig geblieben, die Günther Arendt anscheinend Gesellschaft leisten wollten. Warum ließen denn George und Paul hier Margrit mit denen alleine zurück? Hatten sie denn keine Angst, dass Günther Arendt ihr vielleicht später Gewalt antun konnte? Himmel, warum glaubte ihr denn keiner? „Tja, äh, haben sich die meisten der Spinnen noch aus den Gängen retten können, oder?“ begann sie von neuem mit ziemlich kläglichem Stimmchen. Eigentlich wusste sie es ja, denn anhand der vielen Leichen, die sie bei ihrer Suche bereits hatte entdecken können, müsste mindestens die Hälfte von ihnen getötet worden sein, aber sie schaute den Präsidenten trotzdem mit ihren großen Augen fragend an.
„Margrit, nicht oder ... denn sie wissen es ja bereits!“ erwiderte er zu ihrer Überraschung.
Puh, nun war sie wieder an der Reihe, diesen umständlichen Dialog weiter zuführen. Eines beruhigte sie aber, dass Mike inzwischen mit dem nächsten Jambuto gerade weggefahren war, und dann entdeckte sie, dass noch einige ihres Suchtrupps hier geblieben waren und machte deshalb einen tiefen, erleichterten Atemzug.
Zu diesen schritt komischerweise plötzlich Günther Arendt hinüber - vielleicht hatte er Margrits Blick gesehen? - gab jedem einen Becher und goss ihnen ein. Dann kam er zu Margrit zurück.
„Na, wollen Sie denn gar kein Wasser von mir haben, Margrit?“
Sie zögerte, überlegte und beobachte dabei, wie im roten Feuerschein weitere zwei Jambutos und drei Jimbas davon fuhren.
Konnte sie das wirklich machen? Sie hatte noch immer ziemlichen Durst, und dann fiel ihr ein, dass sie ja schon vorhin getrunken hatte, als ihr eines der Spinnenmitglieder Wasser angeboten hatte. Das hätte ja auch von Günther Arendt angeordnet sein können und dann wären ihre Bedenken ja eh längst zu spät. „Doch ...“, wisperte sie, „... will ich!“ Und sie hob, wenn auch ein wenig zitterig, ihren Krug und er goss ihr, dabei bei übers ganze Gesicht grinsend, ein.
Als ihr Durst gelöscht war, befreite sie sich endlich auch von dem psychischen Druck, der die ganze Zeit auf ihr gelastet hatte, in dem sie ihn ganz spontan fragte: „Wo ist meine Familie! Ich weiß, dass Sie es wissen!“ setzte noch hinzu.
Er erwiderte zunächst nichts und ergriff stattdessen behutsam Margrits Arm und sagte dann sanft. „Sie werden es vielleicht nicht glauben, aber ich weiß es wirklich nicht! Margrit, mir ist Ihr Schimpfen vorhin nicht entgangen, doch wenn ich vielleicht sonst ein Schweinhund sein sollte, in solch einer Situation würde ich Sie nie belügen, glauben Sie mir! Mike war in all dieser Zeit viel zu sehr beschäftigt gewesen, sein eigenes Leben zu retten, dass er darüber seinen Auftrag mir die Kinder zu bringen schlichtweg“, Günther Arendt schaute jetzt sehr verärgert drein, „vergessen hatte!“
Nun mussten beide doch lachen.
„He, nicht mal Bösewichte funktionieren heutzutage richtig! Wie kann Mike nur so unzuverlässig sein!“ krächzte Margrit und wischte sich dabei die Lachtränen von den Wangen.
„Das sagte ich ihm auch!“ krächzte er und musste ebenfalls ein Taschentuch hervor holen.
„Aber nun?“ wisperte Margrit, schon wieder ganz ernst geworden. „Ach, es wäre dann wohl doch besser gewesen, ich wäre wieder in diese Stadt zurückgekehrt um ...“
„Aber Margrit, was wollen Sie denn noch dabei! Sie können meinen Männern ja doch nicht helfen. Sie wissen doch nicht einmal, in welche Richtung ihre Mutter mit den Kindern geflüchtet sein mag. Meine Männer finden sie oder sie finden sie nicht ... auch ohne Sie!"
Das leuchtete Margrit eigentlich ein. „Na guuuuut!“ murmelte sie mit gesenktem Kopf und winkte die restlichen Leute ihres ehemaligen Suchtrupps zu sich, welche die ganze Zeit leise miteinander tuschelnd auf sie gewartet hatten. Man bestieg die letzten zwei Jambutos und dann wurden sie alle zum Ausruhen an den Stadtrand gebracht.
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Es war außerhalb der Stadt erheblich kälter. Margrit empfand den frischen Morgenwind als eisig, denn ihr Körper hatte sich noch nicht umstellen können. Deshalb lehnte sie mit ihrem Rücken an der noch warmen Wand eines halb zerstörten Hauses, saß zwar dabei auf dem Boden, war jedoch in mehrere Decken eingewickelt und starrte, eine Tasse heißen Hagebuttentees in der Hand haltend, in die rote Glut des kleinen Feuers, welches man eigens für sie entfacht hatte.
„Es war schrecklich“, beendete sie ihren Bericht, den sie Günther Arendt stockend mitgeteilt hatte, der neben ihr mit hochgezogenen Knien kauerte und ein wenig schläfrig ebenfalls in die knisternden Flammen blinzelte. „und ich glaube, ich habe noch nie in meinem Leben so viel dazugelernt wie in dieser heutigen Nacht!“ Sie seufzte und bog entspannt den Kopf zurück.
Nach einer Weile blickte Margrit auf seine Uhr und zuckte plötzlich zusammen. Er sah sie deshalb erstaunt an. „He, eine Stunde ist schon wieder vergangen! Ich muss los. Habe mich schließlich lang genug ausgeruht!“
„Wieso müssen Sie los?“ fragte er und zog sich dabei seine Decke mit behaglicher Miene bis zum Hals.
„Na, ich werde jetzt einfach weiter suchen! Nicht in der Stadt. Ich habe mir nämlich gerade vorgestellt, was ich tun würde, wenn ich meine Mutter wäre.“
„Sind Sie aber nicht, Margrit!“ Er brach sich ein Ästchen von dem Busch neben ihm und stocherte damit in der Glut. „Das, was Sie da machen, ist doch alles nur reine Spekulation!“ Er hob den Zweig empor, an welchem inzwischen die Flammen tüchtig fraßen und betrachtete ihn. „Niemand weiß, wohin sich ihre Familie gewendet haben könnte!“ Er blies die Flämmchen ganz langsam aus, musterte anschließend den noch glimmenden Stängel. „Warten Sie doch erst einmal ab, bis die Suchtruppen wieder gekommen sind!“ Er schob den rußigen Zweig erneut in die glühende Asche und merkte an: „Schlafen Sie doch einfach. Sie werden sehen, so vergeht die Wartezeit am besten!“
Eigentlich hatte er Recht. Sie war wirklich todmüde. Aber irgendwie hatte sie noch immer Angst vor Günther Arendt. Sie traute ihm nicht über den Weg. Vier schwer bewaffnete Spinnenguerillas lümmelten nämlich ganz in seiner Nähe, nahe bei den beiden Ruinen herum, Margrit dabei immer wieder musternd. Von Margrits ehemaligem Suchtrupp waren zwar acht Leute geblieben, von denen jedoch vermutlich nur wenige eine Waffe bei sich hatten.
Sie kniff die Lippen fest zusammen. Schlimm, dass sie so etwas durchdenken musste. Es war kein Außerirdischer dabei und dennoch fürchtete sie sich.
„Ich bin nicht müde!“ sagte sie endlich. „Aber Sie haben Recht, ich werde warten!“
„Nun gut, dann können sie mir ja ruhig eine Frage beantworten“, begann er etwas zögerlich.
„Und die wäre?“ fragte sie skeptisch und ihr Herz begann wieder schneller zu klopfen.
„Ich bin nämlich eine sehr neugierige Natur und ...“
„So, so!“
„Gucken Sie nicht so misstrauisch, Margrit, dass macht einen ganz verlegen. Hm, also ... Sie haben vorhin mit Ihrem Bericht geendet indem Sie sagten, Sie hätten etwas aus dieser ganzen Sache gelernt! Was, liebe Margrit, haben Sie eigentlich damit gemeint?“
Kaum hatte er seine Frage gestellt, als auch schon der erste zurück gekommene Jambuto zu ihnen gefahren kam.
„He, das ging ja schneller als der Schall!“ Der Ministerpräsident war überrascht aufgesprungen, hatte wohl seine Frage schon wieder vergessen und kam ihnen entgegen gelaufen.
„Ach, ist alles nicht ganz so toll wie es ausschaut!“ riefen ihm Paul und Chan-Jao bereits vom Jambuto aus zu. „Wir bringen euch nur Gesine, die hat nämlich schlapp gemacht!“
„Pah, ist ja gar nicht wahr!“ brüllte die ebenso laut zu Günther Arendt hinunter. „Ich habe nur gekotzt und dabei ein bisschen rumgeheult, mehr nicht!“
„Sie ist eben viel zu jung für solche Unternehmungen!“ erklärte Paul weiter. Chan-Jao nickte und warf dabei Günther Arendt einen vorwurfsvollen Blick zu, der die am ganzen Körper zitternde und völlig verweinte Gesine derweil aus dem Wagen hob.
„Bin ich nicht!“ fauchte Gesine. „Bin nur etwas nervös geworden, glaubt es mir!“
„Nervös geworden ist gut!“ bemerkte Chan-Jao kopfschüttelnd. “Schreikrämpfe hat sie gekriegt und ist wie hysterisch durch die Straßen gerannt! Wir mussten sie regelrecht einfangen.“
„Ich verstehe wirklich nicht, wie man ein so blutjunges Mädchen wie Gesine für diese Rettungsaktion überhaupt einsetzen konnte!“ empörte sich Paul schon wieder.
„Willst du mir hier Vorwürfe machen, Paul?“ knurrte Günther Arendt und seine flinken, kleinen Augen blitzten böse zu ihm hoch. Selbst Gesine hatte es für einen Moment die Sprache verschlagen.
„Ja, das will ich1“ fauchte Paul ebenso hart zurück, doch Chan-Jao stupste Paul in die Rippen. „Okay, tschuldigung!“ setzte Paul, wenn auch etwas unlustig, hinzu.
„Ihr könnt zurück fahren!“ erinnerte Günther Arendt die beiden, während er Gesine zum Lagerfeuer trug, die inzwischen ziemlich apathisch in seinen Armen hing.
„Gesine, was ist denn passiert?“ erkundigte sich Margrit, kaum dass Günther Arendt das Mädchen nahe bei dem Feuer und der schützenden Hauswand auf eine Decke gelegt hatte.
„Ach, ich glaube, sie hat nur einen Schock erlitten!“ beantwortete Günther Arendt einfach Margrits Frage. “Wir haben Krieg und da muss sie eben durch!“
Margrit warf ihm nun denselben Blick zu wie zuvor Paul und Chan-Jao. „Und wenn sie es nicht kann?“
Er hob hilflos beide Hände. „Tja!“ sagte er nur und seufzte.
„Tja ist wohl ein bisschen wenig für die Überforderung eines halben Kindes!“ knurrte Margrit.
Er rollte mit den Augen. „Margrit, wir sind Guerillas. Was glauben Sie, was ich schon alles habe mit ansehen müssen. Gesine wird abhärten oder zerbrechen. So ist eben das Leben! Immerhin habe ich das Mädchen sogar bis hierher getragen, um bei Ihnen eine guten Eindruck zu hinterlassen. Das ist mir zwar nicht so recht geglückt, aber auch egal ... wollen Sie Tee?“ Er hielt ihr die Kanne entgegen.
Sie schüttelte den Kopf, dann beugte sie sich wieder über Gesine und wisperte ihr ins Ohr. „He, Gesine, kannst du mir vielleicht sagen, wo sich gerade Munjafkurin befindet?“
Gesine krümmte sich zitternd zusammen, rollte sich ein wie ein Embryo. Die Augen im aschfahlen Gesicht blickten starr vor sich hin. „Der ist weg!“ kam es endlich von ihren blauen Lippen. „Ich habe nicht versagt, weißt du?“
„Aber so etwas sagt doch auch keiner über dich...“
„Doch, alle!“ Tränen liefen Gesine plötzlich übers Gesicht, aber sie wischte die zornig fort.
„Erst einmal können es gar nicht alle gewesen sein“, widersprach Margrit hartnäckig, „denn die haben sich ja in dieser Stadt verteilt und dann musst du dir mal überlegen, was die paar Leute nun genau zu dir gesagt haben. Was haben sie denn wortwörtlich gesagt?“
Sie richtete sich ein wenig auf. „Na ... hm ... das ich nichts aushalten kann!“
„Hast du doch. Du zitterst nur ein bisschen!“
Gesine blickte verwundert an sich hinunter. „Du meinst, ich bin nicht völlig hacke?“
„Gott ja, vielleicht warst du das vorhin so ein bisschen. Das passiert aber jedem Mal, wenn man nicht an solche Dinge gewohnt ist, wie du sie eben erlebt hast!“
„He, Glucki, ist dir das denn auch schon mal passiert?“ Ein kleines Lächeln huschte dabei Gesine übers Gesicht. “Ich meine, das mit dem hacke sein?“
„Klar doch! Willst du vielleicht ein Tässchen Tee trinken?“
Gesine nickte. „Weißt du, da war nur jemand, der eingeklemmt war“, begann sie plötzlich, „den haben wir vom Geröll befreit. Ich habe mich so mit ihm darüber gefreut ... ehrlich ... und erst danach haben wir gesehen ...“, sie schluckte und wurde wieder käseweiß im Gesicht, „... dass dessen Unterleib, die Beine ... aaaalles zermatscht war ... und der hat sich dann noch bei mir für meinen großen Einsatz bedankt ... ausgerechnet bei mir ... verstehst du?“
Margrit nahm die schluchzende Gesine in die Arme und es dauerte mehrere Stunden bis das Mädchen endlich alles so einigermaßen verarbeitet hatte. Nach einem ganzen Krug Tee fiel das Mädchen in tiefen Schlaf.
„Margrit“, sagte Günther Arendt, nachdem er die beiden während all dieser Zeit beobachtet hatte. „Sie haben wirklich ein großes Talent, sich in Personen hinein versetzen zu können.“
„Sie irren, wenn Sie denken, dass man dafür Talent haben muss“, fiel sie ihm ins Wort, „alle Menschen könnten es, wenn sie nur wollten!“
Er schüttelte den Kopf. „Nein, das ist Begabung!“ Er beugte sich vor, hob wieder einen der brennenden Zweige aus dem Feuer und warf dabei einen Blick auf die schlummernde Gesine, die noch im Schlaf einen Fuß von Margrit mit beiden Händen umklammert hielt.
Er war so begeistert, dass er erst einmal tief Atem holen musste, ehe er weiter sprechen konnte. “Ich nehme an, dass es genau diese Gabe war, welche Oworlotep so sehr an Ihnen gefallen hat.. Deswegen haben Sie die Begegnung mit einem Hajep überhaupt überlebt.“ Er hielt ihr den Zweig ziemlich nahe vors Gesicht und grinste. „Sagen Sie, wie haben Sie das nur fertig gebracht, in nur einer Nacht dermaßen zu verdrecken?“ entfuhr es ihm und er schob mit der anderen Hand die karierte Decke hinab, die sie sich um den Kopf gelegt hatte. „Ihr Haar ist entsetzlich struppig“, jammerte er. „Wissen Sie eigentlich, dass wir gar kein Haarwaschmittel mehr haben?“
„Haarwaschmittel? Ich habe irgendwie andere Sorgen!“ Sie gab ihm einen Klaps auf die Finger, da er begonnen hatte sie aus der Decke zu wickeln, um ihren Körper zu begutachten.
Er fuhr zurück. „Aua!“ ächzte er. „Sie können ja richtig brutal sein! Hach, Margrit ... warum sind Sie eigentlich überhaupt nicht eitel? Das passt doch nicht zu einer richtigen Frau ... und ... wissen Sie, dass mir gerade das an Ihnen verdammt gut gefällt?“
„Ach, jetzt kommt also die andere Tour, versuchen Sie es bei mir irgendwie mit Schmeichelei, ja?“ Margrit war, nachdem sie vorsichtig ihren Fuß aus Gesines Händen geschoben hatte, schnell und leise aufgestanden und machte Anstalten die Ruhestätte zu verlassen.
Er kam ebenfalls hoch und folgte ihr nun mit großen Schritten. „Ja, zum Donnerwetter!“ schimpfte er. „Denn was bleibt mir sonst übrig. Vielleicht Wut, aber da hinten lümmeln ja gleich acht Kerle aus ihrer Fan-Gemeinde herum, lassen mich und meine Männer nicht aus den Augen. Was haben Sie bloß mit denen gemacht, dass die Ihnen derart ergeben sind, Margrit?“
Sie drehte sich zu ihm um. „Diese Leute haben eben begriffen, dass Menschen zusammen halten müssen!“
Günther Arendts Mund klappte zu und für ein ganzes Weilchen war er nicht fähig, überhaupt noch etwas zu sagen, aber er folgte Margrit beständig, ganz gleich wohin sie sich wendete, und er hielt dabei den Kopf gesenkt, wirkte dabei fast wie ein Wolf, der die Spur eines Rehs aufgenommen hatte und von dieser Beute unter keinen Umständen lassen wollte. Doch dann waren die ersten Suchtrupps zurück gekehrt und der Präsident musste sich auch um diese kümmern.
Als einzigen Vertrauten unter ihnen entdeckte Margrit leider nur Paul. George, Martin, Erkan und Chan-Jao waren noch immer nicht zurückgekehrt und so verständigte sich Günther Arendt, weil ihn dies ebenfalls wun¬derte, mit den letzten seiner Männer schließlich über Funk.
Paul konnte Margrit kaum antworten. Kinder waren zwar gerettet worden, auch zwei alte Leute, aber Margrits Familie war nicht dabei gewesen. Er war todmüde, daher nahm er sich eine Decke, breitete diese hinter einer Reihe Büsche aus und legte sich darauf schlafen.
„Willst du nicht auch hierher kommen?“ ermunterte er Margrit noch schnell und zwinkerte ihr dabei zu. „Hier ist es nämlich sehr gemütlich!“
Das war, wie er da so lag, wirklich sehr verführerisch, außerdem hatte Margrit Angst vor Günther Arendt und dessen Leuten und so nahm sie ihre Decke und kroch zu ihm unter die dichten Zweige eines Holunderbusches.
Bald war Margrit so fest eingeschlafen, dass sie gar nicht bemerkte, dass auch die restlichen Suchtrupps inzwischen heimgekehrt waren. Doch das laute Jubeln machte sie dann doch bald wieder wach. Ganz besonders Georges Suchtrupp hatte großen Erfolg gehabt und etliche Eingeschlossene noch befreien können. Doch als Margrit nach ihrer Familie fragte, konnte ihr keiner helfen.
Zwei kleine Mädchen, die ihre Eltern verloren hatten, klammerten sich ängstlich an Georges Hüften. Sie standen zwar noch immer unter Schock, aber George verstand es, mit ihnen derart herum zu albern, dass sie schließlich sogar lachen und recht viel Tee trinken konnten. Gemeinschaftlich unter einer großen Decke schliefen die drei wenig später ein. Da sämtliche Guerillas sehr erschöpft waren, waren sie, bis auf diejenigen, die Wache zu halten hatten, ebenfalls rasch eingeschlafen.
Lediglich Margrit konnte seltsamerweise kein Auge mehr zu tun. Sie lag neben Paul und starrte schon seit etwa einer Stunde zum schwarzen Himmel, dabei die unzähligen schimmernden Sterne bewundernd.
„Und Sie haben mir immer noch nicht meine Frage beantwortet!“ hörte sie es plötzlich ganz in ihrer Nähe und fuhr deshalb erschrocken hoch. Da erkannte sie in der Schattengestalt, die selbstbewusst und breitbeinig vor ihr stand, Günther Arendt.
„Mein Gott!“ keuchte sie entgeistert. „Sie hier? Warum wecken Sie uns?“ Sie blickte dabei besorgt auf Paul, aber dieser schnarchte friedlich und ließ sich nicht stören.
„Ich habe niemanden geweckt!“ zischelte er ihr zu.
„Doch ... mich!“ fauchte sie.
„Ach, spielen Sie mir kein Theater!"
„Aber es ist mitten in der Nacht!“
„Es ist morgens!“ verbesserte er sie und wies zum Himmel. „Sicher werden Sie schon die ersten rötlichen Verfärbungen dort hinten entdeckt haben, da Sie dauernd zum Himmel gestarrt haben!“
„Bleibt Ihnen denn gar nichts verborgen?“ schnaufte sie empört.
Er lachte leise.
„Was wollen Sie denn überhaupt von mir?“
„Möchten Sie das denn wirklich wissen?“
„Muss ich ja wohl!“
„Na schön, aber vorher möchte ich endlich meine Frage beantwortet haben, mit der ich Sie eben erschreckt habe.“
Sie runzelte die Stirn. „Sie haben mich nicht erschreckt. Bilden Sie sich das nur nicht ein ... außerdem ... welche Frage soll es denn gewesen sein?“" Sie schaute möglichst ruhig zu ihm auf, aber ihr Herz pochte trotzdem schon wieder.
„Nun, Sie erklärten mir vorhin, als wir auf die Suchtrupps gewartet haben, sie hätten irgendetwas dazugelernt!“ Er schwieg für einen Augenblick, ehe er fortfuhr. „Was meinten Sie damit?“
„Dass alle für den selben Gedanken kämpfen könnten, auch wenn sie im Grunde völlig unterschiedlich sind!“
„Kämpfen!“ wiederholte er und seine kleinen, flinken Augen glitzerten dabei wild. „Sie sind sich im Klaren, dass sie soeben dieses füüüürchterliche Wort ausgesprochen haben?“
„Ja, das habe ich! Aber habe ich dabei von Gewehren von Pistolen gesprochen!“
„Ob mit oder ohne Waffe“, krächzte er. „Am Ende sind wir doch alle tot!“ Und wieder lachte er leise in sich hinein.
Ein Schauer huschte ihr den Rücken hinab und sie zog die Decke enger um sich. Sie warf einen haltsuchenden Blick auf Paul, sein friedliches Schnarchen beruhigte sie.
„Margrit!“ Günther Dom beugte sich zu ihr herab und sein heißer Atem streifte ihre Wange. „Es ist Krieg! Hier gibt es nichts Gutes ... nur noch Böses. Jedes Mittel sollte uns recht sein, um uns gegen den übermächtigen Gegner zu behaupten, sonst sind wir verloren!“
„Aber ... es gibt auch Gutes!“ ächzte sie. “Selbst auf der anderen Seite. Sie sehen es nur nicht!“ Sie war vor ihm nach rückwärts fortgerutscht, doch er kam hinterher, stand mit seinen dreckigen Schuhen schließlich auf ihrer Decke. „Wir Menschen sind diesmal nur angegriffen worden, weil sich die Feinde der Hajeps bei uns versteckt haben!“ fuhr sie keuchend fort. “Bis jetzt fiel nur Kitzingen ... oder haben Sie etwa inzwischen über Funk erfahren, dass noch mehr ...?“
Obwohl es dunkel war, bemerkte sie, dass er nickte.
„Ja!“" ächzte er dumpf und sie konnte seine große Verzweiflung heraushören, die er dabei empfand. „Ich muss nun zurückfahren, Margrit, denn dabei sind besonders die Tunneleingänge der Ratten attackiert worden ... obwohl ich nicht glaube, dass ich diesen Menschen noch werde helfen können. Leben sie wohl!“ flüsterte er und strich ihr erstaunlicherweise recht sacht über die Wange. „Gott schütze Sie!“ Er warf einen Blick auf Paul, dann auf die Schnarcher ihres Trupps. „Sie ... und Ihre tapfere kleine Schar!“ Und er wendete ihr den Rücken zu und ging.
„Halt!“ rief sie ihm nach kurzer Überlegung hinterher. Warten Sie einen Augenblick!“ Wie der Blitz war sie aufgesprungen und ihm hinterhergerannt. Schließlich sah sie, dass mit Günther Arendt noch weitere Guerillas auf den Beinen waren. Einige der geparkten Jambutos wurden bereits in Gang gesetzt, um wieder los zu fahren. Die Männer der Jamba waren schon zum Teil aus ihrem Fahrzeug geklettert und warteten auf ihren Chef. Dieser schien in großer Eile zu sein, dennoch bemühte sich Margrit ihn aufzuhalten. Er wendete sich schließlich mit hochgezogenen Brauen überrascht nach ihr um.
„Nanu, Margrit, was haben Sie denn jetzt vor?“ Er lachte traurig. „Ich muss sagen, Sie verwirren mich immer wieder.“
„Was ist mit Zarakuma?“ keuchte sie atemlos. „Diese Sache brodelt doch noch immer in ihrem Kopf herum, richtig?“
„Margrit, jetzt sagen Sie bloß, Sie haben sich`s anders überlegt, machen doch dabei mit, und ich bekomme einen Herzschlag!“
„Da haben Sie mich falsch verstanden, brauchen wirklich keinen zu bekommen! Aber ich bin nun mal auch neugierig und wollte wissen, ob Sie das aufgegeben haben!“
„Ich gebe niemals auf, Margrit. Das merken Sie sich mal!“
„Aber müssen die Hajeps nicht, nachdem sie uns so fertig gemacht haben, damit rechnen, dass wir uns wehren? He, wenn ich Undasubo wäre, würde ich aus diesem Grunde keine Menschen mehr nach Zarakuma kommen lassen!“
„Sind sie aber nicht, Margrit! Japongati besteht sogar darauf, dass noch heute zwanzig junge Menschen vor Zarakuma um Einlass bitten sollen!“
„Verrückt!“ Margrit kratzte sich am Kopf. „Kann ich irgendwie nicht verstehen!“
„Margrit, Sie vergessen immer wieder, dass die Hajeps in ihrer ganzen Überheblichkeit uns für solche Schwächlinge halten, dass sie uns inzwischen gar nicht mehr zutrauen, dass wir uns überhaupt noch wehren könnten. Sie ahnen also nicht im geringsten, was wir mit ihnen vorhaben. Das ist eben der Vorteil“, er kicherte, „vom Nach¬teil, dass uns im Grunde gleich drei Völker erobert haben und wir deren großes Wissen auch für uns nutzen kön¬nen.“
„Und?“
„Was und?“
„Na, haben sie nun die ... tja ... zwanzigste Person endlich gefunden, die ihnen für dieses Unternehmen noch gefehlt hatte?“
Er schien plötzlich nach Worten zu suchen. War er gerade dabei rot geworden oder hatte Margrit sich das nur eingebildet?
„Nun“, sagte er endlich, “auf Gesine wartet schon ein kleiner, schneller Jambo ... sehen Sie ... da hält er gerade!“
„Oh Gott, den fährt ja Mike!“
Mike öffnete die Tür des Jambos und sprang ins Freie. Hinter ihm waberte der Morgennebel.
„Was heißt hier – oh Gott - ich bin froh, dass ich ihn habe!“
Mike winkte Margrit etwas unsicher zu, aber die winkte nicht zurück.
„Und was ist jetzt mit Mike und Gesine?“ keuchte sie, vor Angst ziemlich atemlos geworden.
„Mit Mike eigentlich gar nichts!!“
„Nein, ich meine ja auch eher Gesine!“
„Na ja, ich habe sie wecken müssen, hatte trotz allem, was sie so erlebte, einen recht erstaunlichen Schlaf!“
„Wollen Sie damit sagen, dass ... ich meine ... ich verstehe wohl nicht recht?“
„Doch, doch ... Sie verstehen schon richtig. Ich hatte Japongati leider zwanzig versprochen. Wer sollte, da Sie sich weigerten, nun diesen Platz einnehmen? Da sah ich Gesine. Sie schlief - einsam und allein - die Menschen vom Lager würden also nichts bemerken.“ Er rieb sich das Kinn, schwieg für einen Augenblick und entzog seinen Blick Margrits fragenden, fassungslosen Augen. „Ja, ich habe sie mit Refenin infiziert“, sagte er tonlos.
Margrit starrte ihn immer noch genauso an, doch ihre Lider füllten sich allmählich mit Tränen.
„Mein Gott, Margrit, schauen Sie mich nicht so an ... es ist Krieg und ... haben Sie keine Angst! Sie hat von der Spritze wirklich nichts bemerkt. Ich betäubte sie während des Schlafes mit Chloroform.“
„Das glaube ich Ihnen nicht!“ zischelte sie leise. „Sie wollen mich nur schikanieren, weil ich mich geweigert habe, denn Gesine wurde ja bereits schon einmal nach Zarakuma geschickt. Die Hajeps würden sie wieder erkennen!“
„Wohl eher nicht, denn wir werden Gesine die Haare färben. Sie wird wegen der Augenfarbe Kontaktlinsen tragen und selbst wenn sie erkannt werden sollte - ist sie erst einmal in Zarakuma, wird man das nicht so genau nehmen, denke ich mir.“ Er grinste. „Denn sie ist ein verdammt hübsches Kind!“
Tränen liefen Margrit stumm die Wangen hinab, während sie ihm immer noch ins Gesicht starrte.
„Gesine wird wegen dem Chloroform wohl noch ein wenig müde sein. Sie weiß also nicht, was mit ihr geschehen ist ... alles klar?" Er lächelte Margrit beruhigend an, aber nicht lange. Schon fühlte er Margrits Hand schmerzhaft gegen seine Wange klatschen.
„Verbrecher!“ brüllte sie fassungslos. „Sie wussten, was Sie mir damit antun würden, und darum haben Sie es auch gemacht. Sie wollten sich in Wahrheit an mir rächen!“ heulte sie plötzlich laut los.
Die Guerillas vor den Jambos und den Feuerwehren schauten währenddessen erstaunt zu und konnten sich, da sie ein Stück entfernt waren, aus den Wortfetzen, die zu ihnen drangen, keinen Reim machen.
„Na und?" sagte der Ministerpräsident sehr zufrieden und rieb sich die Wange, die ziemlich heiß brannte und auf der später Margrits Finger zu sehen sein dürften. „Diese Rache ist mir doch ganz ausgezeichnet geglückt, nicht
wahr? Gesine ist recht gescheit, sie wird jetzt Ihren Platz einnehmen. Ich muss nur noch Munjafkurin überzeugen, dabei mitzuspielen, denn retten kann er Gesine eh nicht mehr. Wenn er Gesine durchschleust, wird sie viel¬leicht bis zu Japongati und Oworlotep vordringen können und wenn wir Glück haben, sogar bis zu Quanzhulon, und dann ...“, er lachte, obwohl Margrit fassungslos schluchzte und dabei stammelte:
„Sie sind ja so gemein ... ach, Sie sind ja so gemein! Ich finde Sie so wiiiederlich ... soooo zum kotzen!“
Es war daher eher ein Selbstgespräch, dass er seelenruhig führte. „Meine Leute werden Gesine nach Eibelstadt bringen, wo auch die übrigen Menschen versteckt sind“, murmelte er. „Ich glaube, dass ich Munjafkurin auf meine Seite bekommen werde, denn ihm ist die Befreiung seines Volkes mehr wert als sein eigenes Leben, was ich von gewissen Leuten meiner Spezies nicht sagen kann.“ Nun warf er Margrit doch einen kurzen, strafenden, aber auch enttäuschten Blick zu, wendete sich von ihr ab und bestieg den Wagen.
Gesine kam indes ein wenig taumelnd angelaufen, drückte leise gähnend Margrit zum Abschied die Hand. Jetzt erst gewahrte sie die Tränen.
„Was hast du nur?“ fragte sie mitleidig. Sie hielt den Kopf schief und ihre blonden Zöpfe zauste dabei der Wind. „Weinst du etwa um deine Kinder?“
„Ach, lass nur, werde mich schon beruhigen!“ erklärte Margrit stockend.
Gesine drehte sich nach dem Jambo um, in welchem Mike bereits ungeduldig auf sie wartete, um sie nach Eibelstadt zu bringen. „Weißt du“, wisperte Gesine trotzdem noch schnell, „niemand hier glaubt an dich, aber ich schon. Ich bin mir sicher, dass den sechsten Sinn besitzt und deine Kinder bald gerettet haben wirst!“
„Aber bei einem meiner Kinder werde ich das bestimmt nicht mehr können!“ schluchzte Margrit plötzlich lauthals los und Gesine nahm Margrit in die Arme.
„Nanu?“ Entfuhr es Gesine verwundert. „Du bist doch sonst so tapfer! Wem soll denn etwas passiert sein. Dem Mädchen oder dem Jungen?“
„Dem Mädchen!“ erklärte Margrit und konnte es nicht verhindern einfach weiter zu weinen.
„Aber woher willst du das wissen?“ Gesine streichelte Margrit dabei tröstend über das Haar. „Ich meine, hat dir denn jemand etwas über dieses Kind erzählt?“
„Ja!“ Margrit machte sich von Gesines Armen frei und kramte ein Taschentuch hervor.
„Ach, was die Leute so reden, ich würd` das alles nicht so leicht glauben!“ fauchte Gesine, nun richtig zornig geworden. „Lass den Kopf nicht so hängen. Denk dabei lieber an deinen eigenen Spruch. Was hast du immer gesagt?“
„Nur wer aufhört, an das Gute zu glauben, ist wirklich verloren!“ nuschelte Margrit undeutlich und wischte sich dabei die Tränen aus den Augen.
„Siehst du, ich habe mir diesen Spruch zum Vorbild genommen. Sollte es mir mal wieder so schlecht gehen wie gestern, dann werde ich einfach an all das Gute zurück zudenken, was ich in meinem Leben bereits erfahren habe. Und du selbst machst das plötzlich nicht? Mensch Glucki, was bist du dann für ein Vorbild, hehe?“
„Mensch, mach endlich Gesine!“ fauchte Mike schon wieder.
Darum drückte Gesine Margrit nur noch ein letztes Mal an sich. „Nur nicht durchdrehen Glucki, okay?“
„Okay!“ krächzte Margrit und grinste.
Margrit winkte Gesine noch lange hinterher, bis der kleine Jambo vollends im Dämmerlicht verschwunden war.
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Sie wandte sich schließlich, nachdem sie auch den übrigen Jambutos, den Feuerwehren und Krankenwagen hinterher geschaut hatte, mit blassem Gesicht wieder dem Lager zu. Seltsam, diese Menschen hier mussten so erschöpft sein, dass sie sich noch nicht einmal durch das Getöse der Feuerwehren gestört gefühlt hatten und einfach weiterschliefen.
Sie legte sich wieder neben Paul auf die Decken, aber sie fand immer noch keinen Schlaf. Nach wie vor kreisten ihre Gedanken um ihre Kinder, um ihre Mutter und dann wieder um Gesine, wobei sich ihr das Herz schmerzhaft zusammen krampfte. Schließlich stand sie genervt auf und lief für ein Weilchen hin und her. Zunehmend war es heller geworden, war der Horizont in rötliches Licht getaucht. Sie beugte sich schließlich zu Paul hinab, tippte ihn sacht an die Schulter und flüsterte: „He, he, du Paul!“ Doch er reagierte kaum, drehte sich nur auf die andere Seite und schnarchte etwas lauter weiter. Nun rüttelte sie ihn unsanft. „He Paul, wach auf!“ brüllte sie in sein Ohr. „Mensch, mach doch die Augen auf! Ich habe dir etwas Wichtiges zu sagen.“ Er fuhr schnorchelnd hoch.
„W ... was ist? S ... sind wir umzingelt? Ha ... haben sie uns ... ja?“ Er zog - noch immer im Halbschlaf - die Decke hoch bis zu seinem Hals und zitterte am ganzen Körper. „Die haben Licht angemacht, nicht wahr?“ brabbelte er und blinzelte in die Morgendämmerung.
Jetzt erst sah er, was eigentlich wirklich los war und begann über sich selbst zu lachen, dann aber schaute er verwundert auf Margrit, die fertig angezogen und mit einem Rucksack auf dem Rücken neben ihm stand und sein Blick wurde verdrießlich. „Weshalb weckst du mich?“ knurrte er. „Und warum bist du startbereit? Wir haben erst vier Stunden geschlafen. Günther Arendt hat gesagt, dass wir ausgeruht sein und daher volle fünf Stunden geschlafen haben sollen, ehe wir weitersuchen.“ Er ließ sich wieder zurückfallen, warf sich den Zipfel der Decke über die Augen, damit ihn das heller werdende Licht nicht blendete und zeigte somit deutlich, was er von Margrits Störung hielt.
Dennoch beugte sie sich wieder zu ihm hinab. „Kommst du trotzdem mit mir mit, Paul?“ fragte sie kläglich. „Sieh mal, ich kann ohnehin nicht schlafen. Die Sorgen um Mutsch und die Kinder machen mich fast verrückt. In der Ferne wird noch immer gekämpft. Anscheinend kommen die Bodentruppen der Loteken von hier einfach nicht mehr weg. Ich bin gespannt, wie Günther Arendt mit seinen vielen Wagen durch die Absperrungen gekommen ist. Er ist fort, hörst du? Wir sind völlig auf uns allein gestellt. Wir haben nur noch einen Krankenwagen, die meisten Helfer sind weg, zum Gebiet der Ratten um denen zu helfen, ist angegriffen worden.“ Sie blickte über die Schulter. „Den Menschen tun die Jimaros ja eigentlich nichts, aber trotzdem ... vielleicht ... vielleicht ist Muttchen doch bei den Schießereien verletzt worden oder eines meiner Kinder ...“
„MEIN GOTT!“ Er fuhr wütend hoch und warf die Decke von sich, in welche er sich eingerollt hatte und daher einem riesigen Maulwurf nicht unähnlich gewesen war. „WIRST DU MICH WOHL ENDLICH in RUHE LASSEN! Lass doch Günther Arendt fort sein und seine sämtliche Feuerwehren ... mich interessiert deine Scheißfa¬milie nicht, jedenfalls NICHT EHER, als bis ich nicht meine Fünf Stunden heruntergeschlafen habe, alles klar?“ Und er warf sich schnaufend auf die Seite und rollte sich wieder völlig ein. Da ging sie endlich mit gesenktem Kopf. Er hörte ihre schleppenden Schritten, seufzte und fuhr dann doch wieder hoch.
„Also willst du tatsächlich Selbstmord begehen!“ schnaufte er.
„Wieso?“
„Na, weil du alleine fortläufst oder was soll das?“
„Weil ... na, du kommst ja nicht mit!“
„Komme ich auch nicht!“ erklärte er richtig bockig.
Sie blieb mit gesenktem Kopf stehen. „Paul, so kann ich einfach keine Ruhe finden. Ich muss endlich wissen, was mit ihnen los ist“, erklärte sie matt.
„Du bleibst hier“, befahl er jetzt einfach und wies demonstrativ mit dem Zeigefinger neben sich auf seine Decke. „Hier legst du dich hin und schläfst!“
„Begreifst du denn nicht? Ich kann nicht mehr schlafen, halt`s nicht mehr aus!“ sagte sie unter Tränen.
„He, wie ich dich kenne, wirst du jetzt nicht mehr die Stadt durchkämmen sondern deren Umgebung ... habe ich Recht?“
Sie nickte bestätigend. “Ich will Richtung Reichenberg gehen, so wie Muttsch und ich das einstmals geplant hatten, hätten wir in Würzburg keine Bleibe gefunden! Ich habe noch alle Wege und Straßen im Kopf, die wir dabei nehmen wollten.“
„Was, so weit willst du? Du kannst dabei Rehanan-Loteken in die Hände fallen ... ist dir das klar?“
Sie machte große Augen. „Wieso, ist denn irgendetwas besonders mit denen?“
„Mensch, bist Profiler und weißt das nicht mal! Es wird dir doch wohl nicht entgangen sein, dass es außer den rebellischen Loteken auch linientreue Loteken bei den Hajeps gibt, sogenannte Rehanan! Das sind die komi¬schen mit dem nur zur Hälfte kahlrasiertem Kopf.“ Er seufzte. „He, auf der einen Seite ihres Gesichtes haben die schulterlanges, offenes Haar und auf der andern sind sie eben völlig kahl ... eine Protestfrisur sozusagen ... dämmerts vielleicht jetzt?“
„Ja, ist mir nun eingefallen, Paul. Diese komischen hajeptischen Soldaten meinst du also. Na und? Die tun mir doch nix! Haben es doch nur auf die Aufständischen abgesehen!“
„Sicher haben sie das ... überwiegend, aber trotzdem besteht die seltsame Neigung, Leute, die sie besiegt haben, zu quälen! Da ist es denen ganz wurscht, ob das Mensch oder Rebell ist!“
„Iiih, das ist aber wirklich fatal!“ entfuhr es ihr, erheblich blasser im Gesicht geworden. „Und das sagst du mir jetzt nicht so, nur damit ich nicht gehe?“
„Margrit, nicht mal ich würde gehen, obwohl ich ein Mann bin ... und selbst, wenn wir als ganze Gruppe gingen ...“, Paul machte eine weitschweifende Handbewegung, „... alle die hier liegen ... würde jeder von uns panische Angst haben, von diesen Biestern entdeckt zu werden! Und dann die Rebellen, die sind doch in Panik, suchen Verstecke!“ Er warf die Decke ärgerlich von sich. „Ich werde mich jedenfalls nicht all zu weit von hier fort bewegen. Irgendwann wird ja dieser Kampf beendet sein und dann können wir immer noch nach deiner Familie suchen.“
„Und wann meinst du wohl, werden diese Kämpfe zu Ende sein?“
Er zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung. Jedenfalls habe wir alle noch genügend Proviant, um für ein Weilchen auszuharren!“
„Bis dahin ist es mit meinen Kindern bestimmt längst vorbei!“
„Oder sie haben sich läääängst selber gerettet!“ erklärte er.
Margrit stemmte die Hände in ihre Hüften. „Weißt du, Paul, ich werde nicht alleine gehen ... George wird mich nämlich begleiten.“ Sie beobachtete von der Seite her lauernd sein Mienenspiel. Würde er vielleicht eifersüchtig werden? Doch der Ausdruck seines Gesichtes schien sich zu ihrer Überraschung kaum verändert zu haben.
„Na schön“, sagte er nur, ergriff sich seine Decke und breitete die ziemlich penibel über seine Beine aus, „wenn der so dämlich ist“, und er gähnte herzhaft, „soll er dich ruhig begleiten.“ Und er legte sich, nachdem er sich wieder von Kopf bis Fuß liebevoll in seine Kuscheldecke gewickelt hatte, mit Schwung aufs Ohr.
Margrit tappte indes geschafft von dannen. Sie kam auf ihrem Weg an manch bekanntem und zuverlässigem Gesicht vorbei, brachte es aber letztendlich doch nicht fertig, auch nur eines von ihnen zu wecken. Sie alle hatten furchtbare Stresssituationen durchgemacht und daher dringend Schlaf nötig, und sie war sich bewusst, dass auch sie selbst diese Kraftanstrengungen ohne Ruhepausen nicht mehr lange durchstehen würde. Über kurz oder lang würden sie schließlich die letzten noch verfügbaren Kräfte verlassen, sie würde einfach umfallen, wie sie das schon manchmal bei Flüchtlingen, die sich in ihre Untergrundorganisation geschleppt hatten, erlebt hatte, und auf der Stelle einschlafen. Schon jetzt machten sich immer häufiger Anfälle von Kopfschmerzen bemerkbar, die Hände zitterten leicht und ihre Augen brannten.
Dann kam sie an George vorbei. Die beiden kleinen Mädchen hatten sich im Schlaf fest an ihn geklammert und er hatte die Arme um die Kinder geschlungen und schnarchte aus Leibeskräften, was die Kleinen überhaupt nicht zu stören schien. Margrit beugte sich zu ihm hinab und brachte flüsternd ihre Bitte hervor, aber weder eines der Kinder noch er selbst reagierten darauf. Sie nahm sich fast lautlos einige Patronen aus Georges Gürtel, murmelte dabei leise eine kleine Entschuldigung, betrachtete für ein Weilchen nachdenklich die blassen, erschöpften Gesichter der Drei und legte dann die Decke sorgsam über ihre, weil sie die im Schlaf von sich gestrampelt hatten. Schließlich ging sie stumm, aber entschlossen fort.