Kapitel 19
Einige Zeit danach schlich Margrit durch ein kleines Dorf, welches sie mit ihrer Mutter früher einmal hatte aufsuchen wollen, um dort Kräfte zu tanken. Jedoch erschien ihr heute die Stille alles andere als anheimelnd, eher gespenstisch, denn die Häuser wirkten so, als wären die Bewohner Hals über Kopf weggelaufen. Bald erkannte sie, dass furchtbare Kämpfe um dieses Dorf getobt haben mussten, denn überall waren größere oder kleinere Einschussstellen zu sehen. Die Erde war an einigen Stellen metertief aufgerissen und die restlichen Staubnebel, welche noch immer zu Boden sanken, verrieten Margrit, dass der Kampf eben erst beendet sein musste.
Etliche Gebäude waren zum Teil zerstört oder sogar dem Erdboden gleich gemacht worden. Hier und da lagen zwischen den Ruinen sogar verendete Tiere, die wohl in die Schusslinie der Loteken oder Hajeps geraten waren. Margrit konnte sich denken, wie es erst im Inneren dieser Häuser und Ställe aussehen mochte. Es roch nach Blut und das war ein Fest für Fliegen und Brummer, die überall herum summten.
Margrit war erschöpft und traurig. Zwar besaß sie keine Uhr, aber sie konnte sich denken, dass es schon sehr lange her war, seit sie Paul verlassen hatte, denn die Sonne stand hoch am Himmel und noch immer hatte sie kein Lebenszeichen ihrer Lieben entdecken können. Sie kam sich mit ihren bleischweren Beinen vor, als käme sie ähnlich langsam voran wie eine Schnecke. Gerade als sie überlegte, ob sie sich noch in diesen Kirchhof hinein schleppen sollte, auf welchen sie zusteuerte, weil Muttchen früher immer gesagt hatte, Kirchen wären am robustesten gebaut und daher der beste Schutz, meinte sie, das mehrmalige Zischeln einer außerirdischen Waffe hinter jener Mauereinfassung zu hören, welche die Kirche umgab. Derjenige welcher gleich zweimal geschossen hatte, schien jemanden getroffen zu haben, denn Margrit hatte einen fürchterlichen Schrei vernommen und nur einen Sekundenbruchteil später das schreckliche Stöhnen einer weiteren Person.
Margrit hatte sich dicht an die Mauereinfassung aus Feldsteinen gepresst, sich dann aber doch nach kurzem Zögern weiter seitwärts bis zum Tor geschoben und dabei zwei Hajeps im Kirchhof erspäht, die auf der einen Seite ihres Schädels ihr dichtes, blaues, schulterlanges Haar offen trugen und auf der anderen Seite völlig kahl rasiert waren ´Rehanan!´ dachte sie sofort und hielt vor Schreck erst einmal den Atem an.
Der Größere von den Beiden hatte gerade seinem Kameraden ein Zeichen gegeben, und dieser machte daraufhin einen großen Schritt über den Leichnam, der ebenfalls eine außerirdische Uniform trug und wohl ein Loteke war, den man vermutlich gerade getötet hatte. Der zweite Hajep folgte seinem Kampfgenossen bis zum Portal der Dorfkirche, aus dem das ängstliche Wimmern eines Kindes ertönte.
´Tobias!´ fuhr es Margrit durch den Kopf, während sie hinter dem Pfeiler des Tores hervorkam, um besser in den Hof zu schauen. Aber womöglich hatte sie sich ja auch verhört, weil ja eigentlich alles viel zu verrückt war. Sie atmete vorsichtig aus und lauschte abermals.
Da! Schon wieder das leise Wimmern und sogar noch ein weiteres Kinderstimmchen! Julchen! Margrit war sich jetzt ganz sicher! Aber diese Erkenntnis gab ihr keinerlei Grund zur Freude, denn zu den beiden Rehanan kamen nun noch fünf weitere seitwärts über den Hof gelaufen, die ebenfalls schwer bewaffnet waren und auf welche die anderen wohl gewartete hatten.
Dummerweise begann Margrit zu zittern. Ach, war das schrecklich, sollte sie ihre Kinder nur deshalb wiedergefunden haben, um Augenzeuge von deren Ermordung sein?
Nun schilderte der Anführer wohl den Hinzugekommenen in kurzen Worten, was sich gerade ereignet hatte und er wies dabei auf den eben von ihm erschossenen Loteken. Die anderen nickten anerkennend und dann wies er mit seiner Waffe nach oben zu einem offenen Fenster der Kirche, aus dem zu Margrits Entsetzen der leblose Körper eines weiteren Loteken zur Hälfte heraus baumelte. Wieder nickte alles ehrfürchtig.
Dann hob er den ausgestrecktem Arm zum Himmel, nach Osten, und seine Hand machte einen großen Bogen, während er weitersprach. Alle schienen ihn begriffen zu haben. Erst jetzt versuchte er, die große Eichentür der Kirche zu öffnen, drückte die verschnörkelte Klinke ziemlich heftig herunter, schüttelte genervt den Kopf, versuchte es noch einmal, indem er sich mit seinem schweren, muskelbepackten Körper einfach gegen die Tür warf und sofort tönten abermals kleine, weinerliche Stimmen aus dem Inneren der Kapelle. Margrit hörte nun auch eine alte, etwas heisere Frauenstimme, welche die Kleinen zu beruhigen suchte.
´Muttsch!´ dachte sie mit wild klopfendem Herzen.
Einer der Rehanan, welcher etwas kleiner gebaut war als der Anführer, schraubte nun ein seltsam gebogenes Gerät einfach von seinem Stiefel ab und setzte es irgendwie in Gang, denn es summte leise. Sein etwas dicklicher Kamerad tat kurz darauf das Gleiche. Funken sprühten und dann schob der kleinere Rehanan die spitze, sehr feine Säge - so nannte Margrit jedenfalls still bei sich das Gerät - die sich plötzlich verlängert hatte, durch den schmalen Spalt zwischen der mächtigen Eichentür und deren Rahmen, dort wo das Schloss saß. Der Kleinere zwängte währenddessen sein haarfeines Gerät auf der andere Seite zwischen die Angeln der Tür. In der Mitte stand der Anführer, welcher inzwischen ein eiförmiges Gerät mit langen Antennen an seine Ohrkappen befestigt hatte und sein Gewehr im Anschlag hielt.
Leises Brummen erfolgte und in ein paar Sekunden hatten seine Gefährten zunächst eine Angel und dann fast gleichzeitig die untere Angel und den Zapfen im Schloss durchgefräst. Die Tür polterte haltlos ins Innere der Kirche und der Anführer mit dem Gewehr schlitterte über sie, als wäre das nur ein glitschiges Surfbrett.
Seine Kameraden stürmten hinter ihm drein, sprangen von der Tür, jagten panthergleich durch den Gebetssaal, dabei wachsam nach jedem verborgenen Winkel Ausschau haltend und die kleine Schar, welche sich hinter der ersten Bankreihe vor dem Altar zusammengekauert hatte, fuhr – kaum, dass sie entdeckt worden war - kreischend vor Entsetzen hoch.
„Bitte lassen Sie uns in Ruhe!“ hörte Margrit Muttchens bebende Stimme, die verzweifelt das hemmungslose Schluchzen und Schreien von Julchen und Tobias zu übertönen suchte.
Überraschenderweise peitschten plötzlich den eindringenden Rehanan Schüsse entgegen. Margrit hörte eine außerirdische Männerstimme die einen entsetzlichen gellenden Schrei ausstieß.
„Urastaniz!“ rief Mutsch verzweifelt. „NEIIIIN!“ Also hatte sich Muttchen in ihrer Gutmütigkeit einfach gemeinschaftlich mit Loteken in dieser Kirche versteckt. Margrit schüttelte fassungslos den Kopf. Manchmal war Muttsch wirklich ein übertrieben guter Mensch. Oder hatte sie sich etwa Schutz von diesen wesentlich besser als sie bewaffneten Loteken erhofft? Wie viele Loteken waren es eigentlich? Margrit konnte von hier aus kaum etwas erkennen.
Abermals wurde gefeuert, wieder aus mehreren Gewehren ... und erneut fiel jemand dumpf zu Boden, stöhnte. Ein weiterer Schuss, dann schepperte es ... der Altar schien wohl soeben mit umgerissen worden zu sein, als der nächste Loteke nach vorne stürzte.
„Mörder!“ brüllte Muttsch fassungslos. „Das sind doch auch alles nur Außerirdische wie ihr. He ... habt ihr denn kein Herz?“
Doch trotzdem knatterten und zischelten Gewehrsalven einfach weiter und dabei glaubte Margrit plötzlich, die Kinder und Mutsch durch die Nebenräume der kleinen Kapelle rennen zu hören.
„Halt!“ tönte es nun von oben aus dem Fenster. „Nicht schießen ... doch nicht auf Kinder!“ wimmerte Mutsch. „Aaah, ... sofort loslassen ... he ... was soll denn das?“ Ihre Stimme wurde energischer. „Wir haben Ihnen doch gar nichts ge ...!“ Muttchen verstummte, stöhnte plötzlich schmerzerfüllt. Währenddessen beschimpften die Männer sie in ihrer seltsam singenden Sprache und die Kinder schrieen und kreischten dafür umso mehr.
Margrit hetzte in heller Panik über den Kirchhof. Die Hand am Revolver, der in ihrem Hosenbund steckte, jagte sie vorbei an den Gräbern, auf welchen noch hier und da einst liebevoll gepflanzte Lupinen oder Rittersporne in aller Farbenpracht erblüht waren. Was sollte sie nur machen? Wie konnte sie ihre Familie und die armen restlichen Loteken mit dem einen Revolver von diesen schwer bewaffneten Rehanan befreien?
Verdammt, da kam auch schon einer der Rehanan zum Portal hinaus, hinter sich her, an den Haaren, zerrte er Julchen. Die Kleine stolperte fast die steinernen Stufen hinunter und das Gesicht des Hajeps zuckte seltsam erregt, während er das Kind dabei beobachtete. Ihm folgte mit großen, zügigen Schritten sein etwas dickerer Kamerad, der sich Tobias einfach über die Schulter geworfen hatte. Dort hing der Kleine halb ohnmächtig wie ein Sack. Nur ab und an zuckte es durch den dürren Körper, wurde Tobias von heftigen Weinkrämpfen geschüttelt.
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Elfriede Schramm befühlte sorgenvoll ihre Platzwunde, nachdem sie wieder zu sich gekommen war. Am Hinterkopf war alles nass und klebrig. Sie blickte verstört auf die Finger, mit denen sie die Wunde berührt hatte, denn an denen glänzte es jetzt tiefrot. Also blutete sie – und wie!
Der komische Hajep hatte sie vorhin so derb gestoßen, als sie den Kindern zur Hilfe hatte eilen wollen, dass sie nicht nur über eine Kiste gestolpert, sondern auch noch nach hinten gegen diese Kommode gestürzt war und sich den Schädel dabei aufgeschlagen hatte.
Na, war ja noch mal gut gegangen, immerhin lebte sie noch. Sie lauschte - wo waren jetzt diese verrückten Hajeps? Sie hörte die sonderbaren Stimmen nur noch unten in der Kapelle. Dort war es recht laut, aber geschossen wurde nicht mehr.
Sie stöhnte leise und versuchte sich trotz der schmerzenden Wunde aufzurichten. Anscheinend hatten die Hajeps gedacht, weil sie vorhin ohnmächtig liegen geblieben und so viel Blut verloren hatte, die Alte wäre tot und hatten es deshalb nicht für nötig empfunden, auf sie zu schießen, so wie zuvor auf alle anderen.
Ihr wurde schwindelig, während sie sich auf die Kiste stützte und dann an der Kommode hoch zog, aber sie wollte endlich wieder stehen. Jetzt hörte sie die Stimmen der Hajeps von draußen, gemischt mit dem Weinen von Julchen und Tobias. Also lebten die Kinder immerhin. Doch was hatten die Hajeps mit ihnen vor?
Als sie die ersten Schritte wagte, meinte sie plötzlich, ein Kratzen und Schaben an jener Wand des Kirchengebäudes zu vernehmen, die sich im rückwärtigen Teil des Hofes befand. Da das Fenster auf dieser Seite offen war, konnte sie die Geräusche von dort sehr gut vernehmen. Verrückterweise hörten sie sich so an, als würde jemand die Wand zu ihr empor klettern. Aber das konnte doch gar nicht sein, oder?
Elfriede bekam es mit der Angst zu tun. Warum wählte jemand diesen komischen Weg, wo er doch genauso gut die Treppe zu ihr hinauf laufen konnte? Sie musste sich verstecken, schnell wegrennen, obwohl sie sich noch immer schrecklich schwach fühlte.
Zu spät! Da zeigte sich auch schon eine Art Pferdeschwanz am unteren Teil des Fensters. Sie wollte schon zum Fenster schwanken und versuchen denjenigen irgendwie zurück zu stoßen, da stutzte sie. Denn diese Haare waren komischerweise rosafarben und dann erschien auch schon das ganze Gesicht im Fenster.
„Sunga?“ krächzte sie überrascht und voller Freude.
Seine gelben Augen funkelten sie erleichtert an und dann sprang er, erstaunlich geschmeidig für sein Alter, zu ihr ins Zimmer
„He, wie hast du das geschafft?“ keuchte sie verwirrt und Tränen der Erleichterung traten ihr dabei in die Augen. “So schnell hier her zu kommen und mich auch noch zu finden?“ Sie betrachtete ihn mit großer Anerkennung und er schaute deshalb nun doch so ein bisschen stolz drein.
Sie wollte zu ihm hinüber taumeln, stolperte jedoch abermals über die Kiste, doch er hatte sie schon aufgefangen. Er hielt einen Finger über ihren Mund und wisperte: „Schscht!“
Denn überraschenderweise zischelten plötzlich wieder Schüsse unten in die Kapelle hinein. Aber dann waren die Stimmen der Feinde nur noch draußen zu hören.
„Isch eurerer Spur gefolgert ganser Zeit, bis eusch verlorinn aus Augen. Schießlich mir eingefaltet, du mir immer geschwärmt vor von dieser schonne Dorf, wo du wolltest malchen hinne“, beantwortete er endlich ihre Frage. Dann entdeckte er auch schon die Wunde an ihrem Hinterkopf und sein Blick wurde besorgt. „Wunde von Elfi müss werdinn gesünd weder!“ erklärte er aufgeregt. “Du jitz schwäch!“
Das stimmte tatsächlich, sie fühlte sich wirklich irgendwie schwach auf den Beinen. Zu ihrer Überraschung wendete er ihr plötzlich den Rücken zu und ging dabei sogar in die Knie.
„Werderere disch deshalbig nehminn Packhucke met mirr!“
„Das heißt Huckepack!“ verbesserte sie ihn, während sie ein wenig zögerte, sich an seinen muskelbepackten Rücken zu klammern.
„Nein, Packhucke!“ erklärte er hartnäckig.
Sie seufzte, doch dann klammerte sie sich mit ihren Armen und Beinen fest an ihn. Er drückte schließlich die Knie durch und lief erst mal einige Schritte mit der zarten Person an seinem Rücken probeweise hin und her. „Was willst du tun?“ fragte sie ängstlich und immer noch reichlich verwirrt.
„Vertrauer mirr!“ murrte er.
„Gut, werde ich machen!“ krächzte sie, trotzdem kein bisschen ruhiger geworden.
Er schaltete den Blunaska ein, den er gestern Abend noch schnell zusammen mit vielen anderen wichtigen Dingen den Trowes geklaut hatte, als die gerade dabei gewesen waren den Lumanti zu verspeisen, welcher auch den komischen Wagen gefahren hatte und dann hangelte er sich mit Elfriede auf seinem Rücken die Wand, in welche sich zuvor Haken aus einem besonderen Biomaterial selbsttätig festgesaugt hatten, wieder hinunter. Unten angekommen, schnippte er mit dem Finger und die Haken vielen alle gleichzeitig hinunter.
“Wo hast du denn die her?“ fragte sie, als sie wieder neben ihm stand und er die Haken in einen kleinen Beutel kriechen ließ.
„Zai, nüür alttis jiskisches Kriegsmathelinial!“ erklärte er ein wenig stolz.
„Kriegsmaterial!“ verbesserte sie ihn und beobachtete dabei etwas angeekelt die krabbeligen Dinger.
„Schlafinn bald!“ erklärte er begütigend.
„Schscht!“ wisperte sie. „Hörst du das? Es schleichen hier immer noch Hajeps herum! Ist das nicht schrecklich?“
Er nickte.
Sie schaute sich bibbernd und sehr sorgenvoll nach allen Seiten um. Überall konnte sie nur die Mauer des Kirchhofes sehen. Doch halt! Dort hinten gab es noch eine Einfahrt! Aber die war viel zu weit weg. Wie kamen sie nur so schnell dorthin?
Gerade wollte sie ihn fragen, als er sagte: „Friedschinn, wir fahrinn!“
„Fahren?“ wiederholte Elfriede verdutzt. Sunga nahm sie jetzt einfach beim Arm und führte sie immer weiter. “Womit fahren, Sunga?“ Elfriede sah hier nämlich nichts außer struppigem Gras und einigen Büschen, doch dann stieß sie sich plötzlich ziemlich schmerzhaft das Knie.
„Schuldigung!“ krächzte er betreten. „Bin Trödel!“
„Wenn dann Trottel“, wisperte sie, „aber nein, Sunga, das bist du nicht und das war auch nicht so schlimm!“ Verrückt, anscheinend hatte sie sich das Knie an einer offenen Autotür gestoßen, die sie aber nicht sah. Sie beugte sich vor und noch mehr nebelige Feuchtigkeit umfing sie und dann hatte Elfriede den Mercedes in seiner ganzen Breite plötzlich vor sich. Wo hast du denn plötzlich den h ...?“
„Schscht!“ sagte er jetzt richtig stolz und dann wedelte er ungeduldig mit der Hand, dass sie schleunigst Platz nehmen sollte. Schnell saß er hinter dem Steuer und nachdem er abermals kurz gelauscht hatte, fuhr er durch den rückwärtigen Teil des Hofes zur Einfahrt hinaus.
Muttsch schaute sich dennoch angstvoll um, während sie den Kirchhof hinter sich ließen. Hoffentlich wurden die Hajeps nicht durch die Motorgeräusche auf sie aufmerksam. Dabei sah sie Sungapelkes alten Rucksack auf dem Hintersitz liegen. Ein kleines schwarzes Ohr lugte aus diesem hervor.
„Munk?“ entfuhr es Muttsch hoffnungsfroh.
„Maaauuuu?“ tönte es zur Erwiderung und schon kam ein verpennter Katzenkopf aus dem Rucksack zum Vorschein.
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Margrit hielt den Atem an und machte sich so flach wie nur irgend möglich. Gott sei Dank blickten die Soldaten nicht nach oben, sonst hätten die Rehanan sie durch die transparente Überdachung aus Hartplastik, welche der letzte Pfarrer wohl rein provisorisch über dem Portal hatte anbringen lassen, hindurch schimmern sehen.
Nun kamen noch zwei Soldaten mit einer Bahre, auf welcher ein Verletzter gebettet worden war, der fürchterlich stöhnte. Der kleine Trupp schaute sich sorgsam um, inspizierte mit raschen Blicken die Umgebung.
Margrit hatte die Waffe gezogen, ihre Hand zitterte, während die Mündung ihres Revolvers mal auf die eine und mal auf die andere blaue Halbglatze unter ihr wies.
Zuletzt kam der Anführer, der sich allerdings plötzlich umwendete und mit seinem seltsamen Gewehr zähnfletschend einfach in die Kirche hinein feuerte. Der siebente Rehanan erschien nicht mehr – vermutlich war er tot und man hatte wohl keine Zeit gehabt, seinen Leichnam mitzunehmen, vielleicht diesen bereits zu Humus verarbeitet.
Margrit überlegte fieberhaft, konnte sie ihre Kinder retten, wenn sie nun von oben einfach losfeuerte? Aber was nutzte es, wenn sie vielleicht den einen oder gar zwei von ihnen tötete, die übrigen sie dafür mit ihrer perfekten Waffentechnik von diesem Dach herunterholen konnten wie eine plumpe Taube? Je gründlicher sie darüber nachdachte um so klarer wurde ihr, dass sie nie schnell genug sein würde, um alle zu erledigen.
Auf diese Weise waren kostbare Minuten vergangen und die Rehanan hatten sich inzwischen von Margrit weit entfernt. Als sie an den Gräbern vorbeikamen, bremste der Dickere aus diesem Trupp plötzlich, bückte sich, riss eine Lupine ab und reichte die Tobias, aber der Kleine schob dessen Hand samt Lupine wütend von sich, was den Rehanan irgendwie zu amüsieren schien. Der Anführer des Trupps äugte zwar noch immer aufmerksam nach allen Seiten, stellte aber dabei ein winziges Gerät an, dass er an einem Reifen am Oberarm trug, aus dem wohl die Nachrichten ertönten.
Endlich waren sämtliche Rehanan zum Tor hinaus. Also konnte Margrit wieder hinab. Sie stellte dabei ihren Fuß auf den Kopf des Heiligen, der ihr schon einmal behilflich gewesen war, kletterte an ihm hinunter und rannte möglichst lautlos über den Kirchhof, ebenfalls bis zum kleinen Tor.
Dort sah sie die Gruppe gerade um eine Straßenecke verschwinden und das schreckliche Weinen Julchens drang dabei bis zu Margrits Ohren. Verdammt, was wollten die Soldaten eigentlich mit ihren Kindern? Warum schleppten sie die Kleinen weg? Schlimmste Vorstellungen quälten Margrit plötzlich. Sollte sie diesen Rehanan nun immer weiter hinterher oder erst einmal sehen, was mit ihrer Mutter geschehen war, die sie vorhin so schmerzerfüllt stöhnen gehört hatte? Gewiss war Muttsch verletzt und Margrit konnte sie womöglich retten, wenn sie noch rechtzeitig kam!
Also drehte sich Margrit um. Immer noch hatte sie die Waffe schussbereit, denn es konnte ja sein, dass der zurückgelassene Rehanan wieder zu sich gekommen war und noch auf sie feuern konnte He, sie musste schnell machen, wenn sie die Hajeps später noch einholen oder zumindest irgendwo bald wieder finden wollte.
Wenig später befand sie sich im Inneren der Kapelle. Ehe sie sich des schrecklichen Anblicks voll bewusst wurde, der sich ihren Augen bot, musste sie sich, da sie gerade aus der Sonne gekommen war, an die Dunkelheit gewöhnen, welche hier herrschte. Doch dann konnte sie nur mit Mühe einen kleinen Schrei unterdrücken. Der Altar war niedergerissen und wohl zum Teil zertrümmert worden, nur knapp einen Meter von ihr entfernt lag zusammengekrümmt ein Loteke in seinem blauen, fast schwarzen Blut. Hier und da waren die Aufständischen bereits zu Humus verarbeitet worden, doch jener Rehanan, den Margrit zuletzt auf der Bare liegen gesehen hatte, mochte wohl das kleine Trupp zur Eile gezwungen haben.
Schaudernd schob sie sich auch noch an den restlichen Toten oder schwarzen Häuflein vorbei, hetzte schließlich die schmale, knarrende Stiege empor. Sämtliche Türen der kleinen Kammern waren dort oben aufgerissen worden und es
zog beträchtlich durch die offenen Kirchenfenster. Aber von Muttsch war weit und breit nichts zu sehen. Jedoch hinten in der Ecke, wo die Kommode stand, entdeckte sie eine rote Blutlache! Demnach war hier kein Außerirdischer verletzt worden sondern ein Mensch. Margrit konnte sich schon denken, welche Person hier in ihrem Blut gelegen hatte, aber wo war Muttsch jetzt hin? Auch hier war das Fenster geöffnet.
Margrit vermochte sich daraus keinen Reim zu machen und so jagte sie wieder hinab, an den Leichen vorbei, doch dann stutzte sie. Diese zusammen gekrümmte, relativ zierliche Gestalt dort hinten in einer Ecke der Kirche, welche nur zur Hälfte zu Humus verarbeitet worden war, konnte doch vorher auch ein Mensch gewesen sein, oder? Aber womöglich verschrumpelte jede Person erst einmal auf so eine kleine Größe, wenn der erst einmal das Wasser entzogen wurde! Aber Margrits Angst und Sorge um Muttsch nahm trotzdem zu. Das Herz wollte ihr schließlich wegen dieser Erkenntnis schier zerspringen.
„Muttsch?“ wisperte sie völlig verzweifelt und kämpfte mit den Tränen. Hatte das arme Frauchen sich etwa so schwer verletzt die vielen Stufen hinunter geschleppt, und als der Anführer des kleinen Trupps sie entdeckte hatte, deswegen noch zuletzt wie verrückt in die Kirche hinein gefeuert? Sie dachte an Gesines letzte Worte: „Nur nicht durchdrehen, Glucki!“ wisperte sie jetzt und schon war sie wieder im Freien.
Bald hatte sie den Kirchhof hinter sich gelassen. Waren die Hajeps noch einzuholen? Wohin konnten sie sich gewendet haben?
Da hörte sie die typischen Fluggeräusche eines Trestines am Himmel. Sie schaute empor und erkannte das Zeichen der Hajeps am gold und orange schimmernden Rumpf. Elegant segelte es mit seinen gewaltigen Schwingen über ihr dahin und war wohl auf der Suche nach seinen überall verstreuten Truppen. Hinten sah sie weitere Tristine, sie waren noch winzig klein, und ein Contrestine heran nahen und Margrit ahnte, was das bedeutete. Die Hajeps hatten endlich ihre Gebiete zurück erobert und die Loteken vollends vertrieben oder getötet. Margrit vermutete, dass der kleine Trupp vorhin wohl schon über Nachrichten erfahren hatte, dass nun alles zum Besten für die Hajeps stand und daher bereits Sig¬nale gesandt haben konnte.
Einen Vorteil hatte die ganze Sache auch für Margrit. Sie konnte nun endlich heraus bekommen, wohin der Trupp mit ihren Kindern geflüchtet war. Es lag sehr nahe, dass das Flugzeug hier bald landen oder ein paar Gleiter aussenden würde, um die kleine Gruppe aufzunehmen. Margrit hoffte inständig, dass die Soldaten nicht zu weit von ihr entfernt waren und sie noch rechtzeitig bei ihren Kindern sein konnte, weil das Flugzeug ja erst einmal nach einer Landemöglichkeit suchen musste.
Mit bangem Herzen verfolgte sie daher die Bahnen des eleganten Schiffes, die es hoch oben am Himmel zog und versuchte herauszufinden, wo es zu landen gedachte. Sie hatte Glück, denn es peilte eine der Wiesen in der Nähe eines Buchenwäldchens an, landete sogar dort einmal fast, erhob sich aber schließlich doch wieder und flog erstaunlicherweise fort.
Das romantische Wäldchen befand sich direkt neben einer breiten Landstraße, welche allerdings schon stark zerklüftet und von dichtem wuchernden Unkraut umgeben war. Der Boden des Bürgersteiges war wohl früher einmal aufgerissen worden, um ein großes Abflussrohr zu reparieren und nie wieder zugemacht worden. In der Nähe dieses stinkigen Abflussrohres, wo es nur so von Mücken wimmelte, kauerte sich Margrit hin, denn sie hatte den Trupp, noch ehe das Flugschiff wiederkommen konnte, verborgen hinter fünf mächtigen Rotbuchen und einem Vogelbeerbusch, endlich entdeckt.
Glücklicherweise hatte man die Kinder nicht gefesselt. Das wäre auch nicht nötig gewesen, denn die waren derart verängstigt, dass sie es wohl kaum gewagt hätten fortzulaufen. Wieder einmal zeigte sich die charakterliche Unterschied¬lichkeit dieser Rehanan, denn während zwei von ihnen den Schwerverletzten, welcher noch immer stöhnte und inzwi¬schen schweißgebadet war und wohl auch sehr viel Blut verloren hatte, nicht aus den Augen ließen, hatte sich der Anführer breitbeinig auf die Wiese gestellt und unablässig zum Himmel gewinkt.
Den beiden anderen, welche die Kinder zu bewachen hatten, war es indes langweilig geworden! Jener, welcher vorhin Julchen so brutal an den Haaren gezerrt hatte, spielte nun mit dem Kind ein bisschen. Er kniff Julchen dabei in den Arm oder in die Backe und staunte dabei immer wieder, dass dadurch komische Flüssigkeit aus den Augen des Kindes tropfen konnte. Er streckte die Finger nach den winzigen Wasserdingern aus und versuchte die zu erhaschen. Schließlich, als sie zu seiner Enttäuschung nicht mehr weinte, begann er ihr in gebrochenem Deutsch schauerliche Dinge ins Ohr zu flüstern, woraufhin die Kleine natürlich wieder losschluchzte und sein Gesicht deshalb begeistert zu zucken begann.
Der kräftige Hajep hingegen bemühte sich, sein Brot mit Tobias zu teilen. Das sah so aus: Tobias lehnte brüsk ab, er packte ebenso brüsk den Jungen, öffnete gewaltsam dessen Lippen, stopfte den Teil Brot, den er ihm zugedacht hatte, einfach in dessen Mund und hielt ihm den Kiefer zu.
„SCHLICK!“ kommandierte er.
Tobias verstand ihn auch, erbrach aber alles vor lauer Angst und Abneigung gleich wieder in dem Moment, in dem der Hajep ihn losließ! Das registrierte dieser nun mit Erstaunen, betrachtete seinen Teil Brot, den er zu essen vorgehabt hatte, ausgesprochen kritisch und warf ihn dann kurzerhand fort.
Da der Verletzte mit einem Male laut zu jammern und sich dabei vor Schmerzen zu krümmen begann – er schien sich zudem in einer Art Trance zu befinden - wollte derjenige, welcher sich eigentlich sonst immer nur mit Julchen beschäftigt hatte, plötzlich diesen Verletzten einfach erschießen, wohl weil er der Annahme war, diesem damit sein qualvolles Ende zu verkürzen, da der ja ohnehin sterben würde. Doch die Beiden, welche den Verletzten bewachten, hatten anscheinend etwas dagegen. Nach einem heftigen Wortwechsel stellte sich einer von ihnen sogar Julchens Aufpasser nicht nur in den Weg, er wollte ihm auch das Gewehr entreißen. Doch Julchens Bewacher setzte sich zur Wehr. Es kam zu einem wildem Handgemenge.
Das nutzte Julchen sofort für sich aus. Wenn auch am ganzen Körper bebend, schlich die Kleine schnellstens los, während Tobias nur mit offenem Munde den Kampf der Titanen beobachtete. Da hörte Margrit auch schon wütendes, über¬raschtes Gebrüll.
Julchen war wohl gestolpert und durch diese abrupte Bewegung von ihrem Aufpasser aus dem Augenwinkel bemerkt worden, der ohnehin den Kampf ganz gern unterbrechen wollte, da er zu unterliegen drohte. Just in diesem Augenblick kam auch der Anführer zurück. Ihm folgten fünf Männer der Crew aus dem Trestin, welches endlich hinten auf der Wiese gelandet war. Alle wirkten etwas nervös. Sofort kümmerten sie sich um den Verletzten. Tobias Bewacher packte indes den Jungen beim Arm, wohl weil er verhindern wollte, dass der Kleine diese Unruhe ebenfalls für sich ausnutzen könnte.
Julchens Aufpasser hatte inzwischen sein Gewehr dem Kameraden, mit dem er gerade gekämpft hatte, wieder entrissen und war losgerannt, dem vor Angst schreienden Kind hinterher und sein Gesicht zuckte hämisch. Auf diese Weise konnte er seinen Frust über die vielen Hiebe, die er in diesem dummen Zweikampf hatte einstecken müssen, abreagieren!
Der Anführer kümmerte sich indes immer noch nicht um ihn, weil der wie alle übrigen nur noch mit dem Verletzten beschäftigt war. Man beriet sich, denn dieses Flugzeug war leider kein fliegendes Lazarett, was wohl für diesen angebrachter gewesen wäre.
Während dessen bangte Margrit voller Verzweiflung um Julchen. Ihr Herz schlug wie rasend. Sie ballte die Hände hilflos zu Fäusten, während sie von Weitem den ungleichen Wettlauf beobachten musste. Schon glaubte der Rehanan Julchen zu haben, sein Gesicht wurde zu einer Fratze, als er den Arm nach ihr ausstreckte, um sie zu packen, doch sie entging ihm um Haaresbreite. Das schlaue, kleine Ding lief nämlich immer so, dass der Hajep, da er so riesig war, nicht unter den Zweigen hindurch kommen oder sich zumindest bücken musste.
Weiter und immer weiter sausten die kleinen Beinchen jetzt die Schnellstraße entlang – warum hatte das Kind diesen unseligen Weg nur gewählt? - donnerten die langen, sehnigen Beine federnd und gleichmäßig hinterher. Julchen war wahnsinnig schnell und sie mochte wohl Margrit in ihrem Versteck gesehen und daher auch diesen gefährlichen Weg gewählt haben. Julchens Augen wirkten viel zu groß in dem schmalen, kleinen Gesicht, sie rannte um ihr Leben!
Ein Teil der Rehanan lief nun in einigem Abstand gemächlich dem Kameraden hinterher, denn sie warteten auf das fliegende Lazarett. Einige von ihnen johlten und schrieen jetzt sogar, feuerten ihren Kameraden schalkhaft an.
Tobias schrie seinerseits, freilich aus einem ganz anderen Grunde, denn er hatte ja solche Angst um seine kleine Schwester! Warum machte sie das alles nur?
Plötzlich war Julchen wie vom Erdboden verschluckt. Ihr brutaler Verfolger blieb überrascht stehen, verblüffte Laute entfuhren auch den hajeptischen Zuschauern ringsum, und Tobias hatte sich deswegen an der eigenen Spucke verschluckt, er hustete entsetzlich und sein Aufpasser klopfte ihm deshalb auf den Rücken.
Julchens Bewacher hingegen fletschte jetzt wütend die Zähne, ähnlich wie ein Raubtier, und stakste unschlüssig mit seinen langen Beinen in der Nähe des Abflussrohres herum, in welches sich das Mädchen verkrochen hatte.
Dem Hajep war klar, dass er bei seiner Größe und dem beträchtlichem Leibesumfang niemals durchs Rohr dem Kind hinterher kriechen konnte. Also hatte die Jagd nun ein Ende, der Spaß war mit einem Male vorbei.
Es mussten besondere Maschinen oder Roboter gezielt eingesetzt werden, wollte man das Kind heute noch hervorholen, Doch, wie Margrit jetzt sehen konnte, zeigte sich der Kommandant der Crew überhaupt nicht einverstanden, seine Leute zum Jäger zurückzuschicken, die entsprechenden Geräte heraussuchen zu lassen, die sie dann herbringen und in Gang setzen mussten, denn der Verletzte musste dringend nach Zarakuma gebracht werden. Da konnte man sich nicht noch lange mit dieser unwichtigen Göre abgeben.
Wütend darüber, dass ihm die Rache an dem kleinen Kind verdorben war, feuerte der Hajep nun wie verrückt mit seinem seltsamen Strahlengewehr ins Rohr. Julchen stieß schließlich einen schmerzhaften Schrei aus und dann folgte ein entsetzliches Stöhnen. Grüne Flammen sausten trotzdem noch weiter aus der schmalen Mündung des außerirdischen Gewehrs in die Rohröffnung. Das faulige Wasser stank entsetzlich und der Dampf, der dem Rohr entstieg, war von gleicher Farbe wie das Feuer. Der Hajep hätte das Wasser bestimmt zum Kochen gebracht, wenn ihn nicht einer der Soldaten ziemlich derb bei der Schulter gepackt und mit sich gerissen hätte, denn sie waren bereits gemahnt worden endlich zu kommen, da das Rettungsflugzeug inzwischen erschienen war.
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Margrit hatte mit zusammen gepressten Lippen von ihrem Versteck aus regungslos den schrecklichen Ausgang des Kampfes zwischen Kind und Erwachsenem beobachten müssen, doch dann war der Lärm, den die Hajeps gemacht hatten, sehr schnell leiser geworden.
Kaum dass die Motorgeräusche der beiden Flugschiffe verhallt waren, verließ Margrit voller Sorge ihr Versteck. Wo war Tobias? Sie reckte sich in die Höhe und schaute in jene Richtung, wo vorhin die Trestine gelandet waren, gab sich dabei für einen Moment der unsinnigen Hoffnung hin, sie hätten den Kleinen dort einfach zurück gelassen, weil sie eigentlich doch gar nichts mit ihm anfangen konnten. Aber die schreckliche Gewissheit, dass die Soldaten den Jungen einfach mitgenommen hatten, offenbarte sich ihr dadurch nur um so deutlicher.
„Tobias!“ schluchzte sie schließlich. „Oh Gott, was haben die Rehanan mit dir vor - blöde Spielchen etwa?“ setzte sie tonlos hinzu und eine eiserne Hand schien sich dabei um ihr Herz zu legen.
Aber sie hatte keine Zeit, länger darüber nachzugrübeln. Jetzt zählte nur noch Julchen, das einzige Mitglied ihrer Familie, das sie vielleicht noch retten konnte. Margrit eilte zum Abflussrohr.
„Nur nicht durchdrehen, Julchen!“ flüsterte sie dort hinein, denn kein Laut war zu hören. „He ... bist du noch Leben?“
Wieder erklang aus dem Rohr nicht der kleinste Anflug eines Geräusches. Mücken schwebten stattdessen Margrit entgegen und sie hatte den Eindruck, dass das alte Wasser noch schlimmer stank als zuvor. Und wieder krampfte sich Margrits Herz zusammen. Sollte Julchen schwer verletzt bereits in dieser Brühe ertrunken sein?
„Julchen!“ keuchte sie mit käsewei0em Gesicht. „Die Hajeps sind fort! He, ich bin hier ... ich, die Margrit! Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Komm doch heraus, ja? Von nun an werde ich dich beschützen ... hörst du? Ich gebe dir mein Wort darauf! Du warst sehr tapfer, weißt du ... und die olle, doofe Margrit war feige, hat den bösen Rehanan nicht ...“ sie versuchte dabei, die Tränen hinunter zu schlucken, “... erschossen, aber sie ist stolz ... wahnsinnig stolz auf dich!“ Da hörte sie plötzlich ein Rascheln im Rohr und dann folgte ein herzzerreißendes, kindliches Schluchzen. Margrit musste sich sehr zusammennehmen, um nicht mit Julchen laut mitzuweinen.
„JULCHEN!“ Sie beugte sich hinab, blickte wieder in die lähmende Schwärze des Rohres. „Los! Gib mir deine Hand!“ sagte sie mit ruhiger, fester Stimme und steckte ihren Arm ins Rohr. Wieder raschelte und plätscherte es dort und plötzlich fühlte Margrit ein paar kleine, zittrige Fingerspitzen.
„Mama!“ hörte sie Julchen wispern. „Ich kann aber nich ... nich mehr hier raus!“
„Warum nicht, Julchen?“ erkundigte sich Margrit mit angehaltenem Atem.
„Weil ... es ... es geht nich ... ich kann nich ... mein Bein ...“, Julchen stöhnte schmerzverzerrt, „... mein Bein bewegen.“
„Hat dich dort der Rehanan mit diesem komischen Feuerstrahl getroffen?“
Julchen nickte, ohne daran zu denken, dass Margrit das gar nicht sehen konnte.
„Warte!“" murmelte Margrit. „Ich werde dir helfen, dann wirst du bald zum Rohr hinaus sein. Rück noch etwas
näher!“ Margrit zwängte sich ein wenig durch die Öffnung, was erstaunlicherweise recht gut ging, da sie so unterernährt war, und tappte durch die ekelerregende Brühe. Bald fühlte sie den kleinen, warmen Kinderkörper und legte vorsichtig den Arm um ihn. Dann kroch sie, gestützt auf den Knien und einer Hand, rückwärts wieder zur Rohröffnung zurück, rutschte dabei zwar fast in der glitschigen Schlamm und Wasserschicht aus, zog aber Julchen schließlich doch mit sich. Diese versuchte tapfer, ihr Stöhnen zu unterdrücken, doch zuletzt, als Margrit Julchen vollends aus dem Rohr wuchten wollte, schrie die Kleine gellend auf.
Margrit hielt zu Tode erschrocken inne. Was war passiert? Sie starrte auf den dunklen, schlammverschmierten Körper Julchens, welcher zur Hälfte noch im Dämmerlicht des Rohres lag, konnte aber nichts besonderes erkennen.
Die Augen in Julchens schmutzigem Gesicht waren plötzlich nach oben gedreht, es schien nicht mehr zu atmen.
„Julchen, Julchen, Julchen!“ rief Margrit wie von Sinnen. „Nicht sterben, bitte nicht!“
Da zuckten plötzlich die Lider des Kindes und es begann zu atmen, wenn auch sehr unregelmäßig. Julchens Blick ruhte dabei auf Margrit. Sie krauste die kleine schmutzige Stirn. „Warum ... warum hast du das getan?“ keuchte das Kind. „Oh, es tut ja so weh Mams ... so schrecklich, schrecklich weh!“
Margrit kauerte sich zitternd hin, lehnte sich gegen den Rand der Rohröffnung und strich der stöhnenden Kleinen das verkrustete Haar aus dem Gesicht. „Ich ... ich wollte dir nicht weh tun ... dir nur helfen, Julchen!“ wisperte sie. „Sage mir nur genau, wo genau es dir weh tut, ja? Und ich werde aufpassen.“
Julchen konnte das leider nicht klar sagen und so machte Margrit einfach ganz langsam und sehr vorsichtig weiter.
Als Margrit das Kinde entgültig aus dem Rohr hinaus hatte, legte sie es behutsam vor sich auf den Asphalt der Straße und sah erst jetzt das ganze Ausmaß der furchtbaren Verletzung. Der Feuerstrahl des Rehanan hatte Julchens Bein von der Hüfte abwärts fast völlig verkohlt. Margrit hatte, als sie Julchen durch die Rohröffnung zerren wollte, ihr dabei die gesamte obere Hautschicht vom Bein gerissen und es war erstaunlich, dass die Kleine doch wieder aufgewacht war.
Margrit machte sich entsetzliche Vorwürfe, ihre Lippen zuckten und sie kämpfte mit Übelkeit, Angst und Tränen, doch sie kauerte sich nieder und bettete behutsam Julchens Kopf erst einmal in ihrem Schoß.
Julchens Brustkorb hob und senkte sich qualvoll, sie rang nach Atem vor Schmerz und Überanstrengung, oder hatte sie inzwischen sogar Fieber? Ihre riesengroßen Augen suchten immer wieder das Gesicht Margrits auf und jetzt huschte sogar ein zartes Lächeln über die kleinen Lippen. „Ich bin bei meiner Mama!“ keuchte Julchen. „Habe es geschafft!“
Wenige Minuten später war das Kind in eine Art Dämmerzustand verfallen, aus dem es nicht mehr erwachte. Margrit behielt Julchens Kopf trotzdem noch für ein Weilchen auf ihren Knien, schluchzte aber nun hemmungslos, weil sie wusste, dass Brandwunden ein wahres Tummelfeld für Bakterien sind, denn die Haut, die den Körper vor Infektionen schützt, fehlte ja ganz. Sicher war Julchens unvorstellbar große Wunde bereits durch das brackige Wasser mit unzähligen Bakterien infiziert und die Kleine schwebte in Lebensgefahr. Julchen war verloren, wenn man nicht sofort half.
Margrit musste in dieser Einöde schnellstens nach einem Arzt suchen und das Kind hier einfach liegen lassen. Sie tat es nur ungern, hob es sehr vorsichtig hoch, legte das Kind in der Nähe der Straße ab, gut versteckt hinter hohem Gras und einem Busch, zog ihre Jacke aus, legte die über den kleinen Körper und rannte nach einigem Zaudern schließlich los! Doch je länger sie lief, desto klarer wurde ihr, dass sie vielleicht auf Menschen oder Hajeps stoßen würde, aber nicht gerade auf einen Arzt!
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Schließlich sah Margrit, als es schon dämmerte, dass wieder einmal ein hajeptischer Jäger ganz in ihrer Nähe landen wollte, wohl um noch die restlichen verstreuten Soldaten einzusammeln und eine ungeheure Wut auf sämtliche Hajeps bemächtigte sich plötzlich ihrer.
Sie stapfte mit zügigen Schritten direkt auf das im Wald verborgenen hajeptische Lager zu, denn sie glaubte, dass man ihre Muttsch getötet hatte und dass sie Julchen nicht mehr helfen konnte, weil viel zu viel Zeit vergangen war. Sie wusste, dass das Kind, wenn es nicht bereits seinen grässlichen Wunden erlegen war, noch heute Nacht sterben würde und sie ahnte, welch ein schreckliches Schicksal Tobias durch die grausamen Rehanan zu erwarten hatte. Alles, was sie geliebt, woran sie geglaubt hatte, war also für immer verloren! Margrit fand plötzlich, dass es sich für sie nicht mehr zu leben lohnte und daher war es ihr auch gleichgültig, ob die Hajeps dieses Lagers nun auf sie schossen, wenn sie Margrit sahen oder nicht!
Ohne sich zu verstecken, bewegte sie sich daher auf die hinter den Bäumen verborgenen Lichter zu, warf dabei einen kurzen Blick auf das schön geschnittene Flugschiff, welches über dem Wald immer engere Kreise zog, und murmelte leise wüste Beschimpfungen vor sich hin, während sie mit beiden Händen den Kolben ihrer Handfeuerwaffe umklammerte. Vergessen war der Glaube an die guten Dinge des Lebens, denn so etwas gab es nicht im Krieg. Günther Arendt hatte ja so Recht, man musste es den schrecklichen Feinden heimzahlen, so viele von ihnen töten wie nur irgend mög¬lich, bevor man selbst blutüberströmt zu Boden ging.
Jetzt war Margrit nahe genug. Sie duckte sich kaum hinter dem Busch, vor welchem sie halt gemacht hatte, holte tief Atem und zählte vierunddreißig Soldaten und sechs Offiziere, die sich hier alle versammelt hatten. Vier Rehanan rauften gerade miteinander und die anderen schlossen wohl noch schnell Wetten darüber ab.
Margrit schob den Lauf ihrer Waffe zwischen Blattwerk und Gezweig, spannte den Hahn. Die dünne, schrundige Haut über den Fingerknöcheln dehnte sich mühsam, als sie einen der drei Männer anvisierte, welcher direkt in ihrer Nähe sehr angeregt mit den anderen plauderten.
Ja, sie, Margrit, wollte überraschen ... das ganze Lager und dabei all ihren Zorn über diese verwöhnten, dekadenten Hajeps hinausschreien und ... nanu? Plötzlich raschelte es hinter ihr, fühlte sie Finger auf ihrem Mund, spürte sie, dass jemand mit stählernem Griff ihre Hände mitsamt Waffe hinunter drückte. Sie blickte erschrocken nach hinten, starrte auf den Mann, der ihr immer noch den Mund zuhielt.
„George!“ nuschelte sie hinter dessen Fingern.
„Aber, was machen wir hier denn für einen Unsinn ... hm?“ wisperte er ihr ins Ohr und nahm langsam die Hand von ihrem Mund. „Bitte, Margrit, ganz ruhig bleiben und mir die Waffe geben, ja?“ Aber sie ließ nicht los, brachte das einfach nicht mehr fertig, hatte wohl einen Krampf. Er strich ihr behutsam über das Haar. „Ruhig ... nur gaaanz ruhig!“ murmelte er wie bei einem in Panik geratenem Tier und streichelte sie in einem fort. Margrit wurde dadurch tatsächlich entspannter, allmählich verlangsamte sich ihr wilder Herzschlag, der seltsam schale Geschmack verschwand von ihrer Zunge, es rauschte und toste nicht mehr in ihren Ohren und ihr Atem wurde gleichmäßiger, schließlich erschlafften auch die Muskeln.
„Ist schon gut“, stammelte sie schließlich und lehnte sich erschöpft an seine Schulter, „hier hast du sie ... bin wieder ganz, okay!“ Ihre Hand wurde schlaff und er nahm ihr die Waffe ab, ergriff sie beim Ellenbogen, schlich mit Margrit ein Stück zurück und schob sie dann vorsichtig hinter einen mächtigen Baumstamm. Immer noch schaute sie ihn fassungslos und dankbar an. „Du musst den ganzen Tag nach mir gesucht haben“, stellte sie fest und rieb sich mit ihren schmutzigen Fingern derb die aufgesprungen Lippen um zu fühlen, dass sie noch lebte.
„Tja, Zähigkeit führt zum Ziel, hat mir mal jemand gesagt“, erklärte er augenzwinkernd. „Nein, nein, das war es nicht allein. Wenn Paul mir nicht verraten hätte, welche Wege und Orte du früher mal mit deiner Mutter hattest aufsuchen wollen, hätte ich dich wohl nicht so schnell aufgabeln können!“ George zerrte dabei ein wenig genervt Margrits Finger von deren Lippen.
„Mach ich dich damit verrückt? Tschuldige! Hm, also hat mir Paul doch ein bisschen geholfen!“
„Dieses bisschen war sogar sehr entscheidend!“ George grinste, aber dann spähte stirnrunzelnd durch die herabhängenden Zweige zum Lager der Hajeps „Gott sei Dank haben sie uns nicht bemerkt, weil sie wohl gerade selbst aufbrechen müssen. Sieh nur, sie packen die Sachen zusammen und machen das Feuer aus!“ brummte er. „Und ... he, hörst du die Motorgeräusche plötzlich mitten im Wald?“
Margrit nickte, während sie weiter schlichen. „Bist du mit dem Jambo da?“ fragte sie übergangslos und ihr Herz begann wieder sehr schnell zu klopfen.
„Ja! bestätigte er beiläufig. „He, das Trestin muss jetzt eine passende Lichtung gefunden haben und deswegen ...“ Er fuhr zusammen, denn Margrit hatte plötzlich die Arme von hinten um ihn geschlungen und küsste ihn auf die Wange.
Er schaute sich verdattert nach ihr um, denn er konnte ja nicht wissen, dass dieses ´ja´ das schönste war, das Margrit je vernommen hatte.
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„Hajeps!“ stammelte Julchen im Dämmerzustand. Glücklicherweise lebte das Kind – noch! Man hatte die Kleine nach Eibelstadt gebracht.
Nun kauerte Margrit neben der Matratze, auf welcher Julchen in dicke Decken gehüllt lag, und sie kühlte in gewissen Abständen dem Kind die heiße Stirn. Nichts hatte sich gebessert, seit man Julchen hierher geschleppt hatte. Das einzige Krankenhaus, welches noch funktionierte, lag in Kitzingen, also weit entfernt von hier und war außerdem völlig überfüllt mit den Opfern der zerstörten Städte. Werner, den sie glücklicherweise noch gefunden hatten, hatte eine sehr düs¬tere Prognose über Julchens Zustand gestellt. Schwere Verbrennungen waren in diesen Zeiten tödlich und die Hajeps schossen mit fremden, unbekannten Gasen, die Verletzungen hinterließen, welche mit menschlichen Mitteln einfach nicht zu heilen waren. Außerdem würde Julchen im Laufe des nächsten Tages ohnehin an ihrer schweren Infektion das Zeitliche segnen. Margrit solle sich nur ja keiner falschen Hoffnung hingeben, hatte er ihr zum Schluss noch geraten und war dann einfach gegangen.
Wieder betupfte Margrit Julchens heiße Stirn mit dem Wasser, sah wie die einzelnen Tropfen ihre Schläfe hinabliefen und bemerkte dabei, dass dort die Adern, die wegen des Fiebers stark hervorgetreten waren und beständig geklopft hatten, jetzt kaum noch zu sehen waren. Erschrocken legte Margrit ihr Ohr auf Julchens magere Brust. Das Herz schlug ganz schwach, das Kind atmete kaum.
„NEIN!“ schrie Margrit verzweifelt.
„Julchen wach auf! Bleib bei mir ... bitte, bitte, geh nicht fort!“ Schließlich barg sie laut schluchzend ihr verweintes Gesicht in der kleinen, leblosen Hand. Plötzlich kam Margrit ein rettender Gedanke, der ihr aber reichlich verrückt erschien. Egal, sie musste es einfach wagen! Julchens Puls ging noch und solange dieses kleine Herz schlug, musste sie selbst das idiotischste einfach versuchen!
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„Hast du dir das auch gut durchdacht, Margrit?“ George parkte den Jambo direkt hinter einem Zebrabaum, wie er diesen still bei sich nannte, da dessen samtene Rinde ein ähnlich schwarz-weißes Muster aufwies wie das Fell jener Tiere.
„Selbst wenn ich mir das nicht gut durchdacht hätte, George!“ Margrit riss die Wagentür auf und sprang aus dem Jambuto. „Das ist doch jetzt völlig wurscht!“
Die Zweige des mächtigen Baumes trugen gerade Früchte und deshalb hingen sie ziemlich tief bis zum Jambo hinab, in welchem Julchen auf dem Rücksitz vor sich hin dämmerte. Neben ihr saß Rita und streichelte der Kleinen immer wieder über das Haar.
„Bitte George“, fauchte Margrit von unten zu ihm empor, „wir müssen das einfach versuchen, verstehst du?“ Und dann schob sie mit entschlossener Miene das riesige Blatt eines gelben Farnes beiseite, um nach dem Kiesweg Ausschau zu halten, der bis zum Haupttor Doska Jigons führen sollte. Paul war ebenfalls ausgestiegen und folgte nun, dabei ebenfalls noch schnell einen besorgten Blick auf Julchen zurück werfend, Margrit.
„Rita, du wirst uns doch auch wirklich rechtzeitig Bescheid geben, ja?“ rief er Richtung Jambo. “Wir kommen sofort angepest, wenn mit Julchen was los sein sollte!“ Wie immer, wenn ihn Gewissensbisse zu plagen begannen, war er geradezu übereifrig, seine Fehler wieder gut zu machen.
Rita, die neben Julchen auf dem Rücksitz saß, kannte das inzwischen von ihm und seufzte deshalb abgrundtief.
Einige Zeit danach schlich Margrit durch ein kleines Dorf, welches sie mit ihrer Mutter früher einmal hatte aufsuchen wollen, um dort Kräfte zu tanken. Jedoch erschien ihr heute die Stille alles andere als anheimelnd, eher gespenstisch, denn die Häuser wirkten so, als wären die Bewohner Hals über Kopf weggelaufen. Bald erkannte sie, dass furchtbare Kämpfe um dieses Dorf getobt haben mussten, denn überall waren größere oder kleinere Einschussstellen zu sehen. Die Erde war an einigen Stellen metertief aufgerissen und die restlichen Staubnebel, welche noch immer zu Boden sanken, verrieten Margrit, dass der Kampf eben erst beendet sein musste.
Etliche Gebäude waren zum Teil zerstört oder sogar dem Erdboden gleich gemacht worden. Hier und da lagen zwischen den Ruinen sogar verendete Tiere, die wohl in die Schusslinie der Loteken oder Hajeps geraten waren. Margrit konnte sich denken, wie es erst im Inneren dieser Häuser und Ställe aussehen mochte. Es roch nach Blut und das war ein Fest für Fliegen und Brummer, die überall herum summten.
Margrit war erschöpft und traurig. Zwar besaß sie keine Uhr, aber sie konnte sich denken, dass es schon sehr lange her war, seit sie Paul verlassen hatte, denn die Sonne stand hoch am Himmel und noch immer hatte sie kein Lebenszeichen ihrer Lieben entdecken können. Sie kam sich mit ihren bleischweren Beinen vor, als käme sie ähnlich langsam voran wie eine Schnecke. Gerade als sie überlegte, ob sie sich noch in diesen Kirchhof hinein schleppen sollte, auf welchen sie zusteuerte, weil Muttchen früher immer gesagt hatte, Kirchen wären am robustesten gebaut und daher der beste Schutz, meinte sie, das mehrmalige Zischeln einer außerirdischen Waffe hinter jener Mauereinfassung zu hören, welche die Kirche umgab. Derjenige welcher gleich zweimal geschossen hatte, schien jemanden getroffen zu haben, denn Margrit hatte einen fürchterlichen Schrei vernommen und nur einen Sekundenbruchteil später das schreckliche Stöhnen einer weiteren Person.
Margrit hatte sich dicht an die Mauereinfassung aus Feldsteinen gepresst, sich dann aber doch nach kurzem Zögern weiter seitwärts bis zum Tor geschoben und dabei zwei Hajeps im Kirchhof erspäht, die auf der einen Seite ihres Schädels ihr dichtes, blaues, schulterlanges Haar offen trugen und auf der anderen Seite völlig kahl rasiert waren ´Rehanan!´ dachte sie sofort und hielt vor Schreck erst einmal den Atem an.
Der Größere von den Beiden hatte gerade seinem Kameraden ein Zeichen gegeben, und dieser machte daraufhin einen großen Schritt über den Leichnam, der ebenfalls eine außerirdische Uniform trug und wohl ein Loteke war, den man vermutlich gerade getötet hatte. Der zweite Hajep folgte seinem Kampfgenossen bis zum Portal der Dorfkirche, aus dem das ängstliche Wimmern eines Kindes ertönte.
´Tobias!´ fuhr es Margrit durch den Kopf, während sie hinter dem Pfeiler des Tores hervorkam, um besser in den Hof zu schauen. Aber womöglich hatte sie sich ja auch verhört, weil ja eigentlich alles viel zu verrückt war. Sie atmete vorsichtig aus und lauschte abermals.
Da! Schon wieder das leise Wimmern und sogar noch ein weiteres Kinderstimmchen! Julchen! Margrit war sich jetzt ganz sicher! Aber diese Erkenntnis gab ihr keinerlei Grund zur Freude, denn zu den beiden Rehanan kamen nun noch fünf weitere seitwärts über den Hof gelaufen, die ebenfalls schwer bewaffnet waren und auf welche die anderen wohl gewartete hatten.
Dummerweise begann Margrit zu zittern. Ach, war das schrecklich, sollte sie ihre Kinder nur deshalb wiedergefunden haben, um Augenzeuge von deren Ermordung sein?
Nun schilderte der Anführer wohl den Hinzugekommenen in kurzen Worten, was sich gerade ereignet hatte und er wies dabei auf den eben von ihm erschossenen Loteken. Die anderen nickten anerkennend und dann wies er mit seiner Waffe nach oben zu einem offenen Fenster der Kirche, aus dem zu Margrits Entsetzen der leblose Körper eines weiteren Loteken zur Hälfte heraus baumelte. Wieder nickte alles ehrfürchtig.
Dann hob er den ausgestrecktem Arm zum Himmel, nach Osten, und seine Hand machte einen großen Bogen, während er weitersprach. Alle schienen ihn begriffen zu haben. Erst jetzt versuchte er, die große Eichentür der Kirche zu öffnen, drückte die verschnörkelte Klinke ziemlich heftig herunter, schüttelte genervt den Kopf, versuchte es noch einmal, indem er sich mit seinem schweren, muskelbepackten Körper einfach gegen die Tür warf und sofort tönten abermals kleine, weinerliche Stimmen aus dem Inneren der Kapelle. Margrit hörte nun auch eine alte, etwas heisere Frauenstimme, welche die Kleinen zu beruhigen suchte.
´Muttsch!´ dachte sie mit wild klopfendem Herzen.
Einer der Rehanan, welcher etwas kleiner gebaut war als der Anführer, schraubte nun ein seltsam gebogenes Gerät einfach von seinem Stiefel ab und setzte es irgendwie in Gang, denn es summte leise. Sein etwas dicklicher Kamerad tat kurz darauf das Gleiche. Funken sprühten und dann schob der kleinere Rehanan die spitze, sehr feine Säge - so nannte Margrit jedenfalls still bei sich das Gerät - die sich plötzlich verlängert hatte, durch den schmalen Spalt zwischen der mächtigen Eichentür und deren Rahmen, dort wo das Schloss saß. Der Kleinere zwängte währenddessen sein haarfeines Gerät auf der andere Seite zwischen die Angeln der Tür. In der Mitte stand der Anführer, welcher inzwischen ein eiförmiges Gerät mit langen Antennen an seine Ohrkappen befestigt hatte und sein Gewehr im Anschlag hielt.
Leises Brummen erfolgte und in ein paar Sekunden hatten seine Gefährten zunächst eine Angel und dann fast gleichzeitig die untere Angel und den Zapfen im Schloss durchgefräst. Die Tür polterte haltlos ins Innere der Kirche und der Anführer mit dem Gewehr schlitterte über sie, als wäre das nur ein glitschiges Surfbrett.
Seine Kameraden stürmten hinter ihm drein, sprangen von der Tür, jagten panthergleich durch den Gebetssaal, dabei wachsam nach jedem verborgenen Winkel Ausschau haltend und die kleine Schar, welche sich hinter der ersten Bankreihe vor dem Altar zusammengekauert hatte, fuhr – kaum, dass sie entdeckt worden war - kreischend vor Entsetzen hoch.
„Bitte lassen Sie uns in Ruhe!“ hörte Margrit Muttchens bebende Stimme, die verzweifelt das hemmungslose Schluchzen und Schreien von Julchen und Tobias zu übertönen suchte.
Überraschenderweise peitschten plötzlich den eindringenden Rehanan Schüsse entgegen. Margrit hörte eine außerirdische Männerstimme die einen entsetzlichen gellenden Schrei ausstieß.
„Urastaniz!“ rief Mutsch verzweifelt. „NEIIIIN!“ Also hatte sich Muttchen in ihrer Gutmütigkeit einfach gemeinschaftlich mit Loteken in dieser Kirche versteckt. Margrit schüttelte fassungslos den Kopf. Manchmal war Muttsch wirklich ein übertrieben guter Mensch. Oder hatte sie sich etwa Schutz von diesen wesentlich besser als sie bewaffneten Loteken erhofft? Wie viele Loteken waren es eigentlich? Margrit konnte von hier aus kaum etwas erkennen.
Abermals wurde gefeuert, wieder aus mehreren Gewehren ... und erneut fiel jemand dumpf zu Boden, stöhnte. Ein weiterer Schuss, dann schepperte es ... der Altar schien wohl soeben mit umgerissen worden zu sein, als der nächste Loteke nach vorne stürzte.
„Mörder!“ brüllte Muttsch fassungslos. „Das sind doch auch alles nur Außerirdische wie ihr. He ... habt ihr denn kein Herz?“
Doch trotzdem knatterten und zischelten Gewehrsalven einfach weiter und dabei glaubte Margrit plötzlich, die Kinder und Mutsch durch die Nebenräume der kleinen Kapelle rennen zu hören.
„Halt!“ tönte es nun von oben aus dem Fenster. „Nicht schießen ... doch nicht auf Kinder!“ wimmerte Mutsch. „Aaah, ... sofort loslassen ... he ... was soll denn das?“ Ihre Stimme wurde energischer. „Wir haben Ihnen doch gar nichts ge ...!“ Muttchen verstummte, stöhnte plötzlich schmerzerfüllt. Währenddessen beschimpften die Männer sie in ihrer seltsam singenden Sprache und die Kinder schrieen und kreischten dafür umso mehr.
Margrit hetzte in heller Panik über den Kirchhof. Die Hand am Revolver, der in ihrem Hosenbund steckte, jagte sie vorbei an den Gräbern, auf welchen noch hier und da einst liebevoll gepflanzte Lupinen oder Rittersporne in aller Farbenpracht erblüht waren. Was sollte sie nur machen? Wie konnte sie ihre Familie und die armen restlichen Loteken mit dem einen Revolver von diesen schwer bewaffneten Rehanan befreien?
Verdammt, da kam auch schon einer der Rehanan zum Portal hinaus, hinter sich her, an den Haaren, zerrte er Julchen. Die Kleine stolperte fast die steinernen Stufen hinunter und das Gesicht des Hajeps zuckte seltsam erregt, während er das Kind dabei beobachtete. Ihm folgte mit großen, zügigen Schritten sein etwas dickerer Kamerad, der sich Tobias einfach über die Schulter geworfen hatte. Dort hing der Kleine halb ohnmächtig wie ein Sack. Nur ab und an zuckte es durch den dürren Körper, wurde Tobias von heftigen Weinkrämpfen geschüttelt.
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Elfriede Schramm befühlte sorgenvoll ihre Platzwunde, nachdem sie wieder zu sich gekommen war. Am Hinterkopf war alles nass und klebrig. Sie blickte verstört auf die Finger, mit denen sie die Wunde berührt hatte, denn an denen glänzte es jetzt tiefrot. Also blutete sie – und wie!
Der komische Hajep hatte sie vorhin so derb gestoßen, als sie den Kindern zur Hilfe hatte eilen wollen, dass sie nicht nur über eine Kiste gestolpert, sondern auch noch nach hinten gegen diese Kommode gestürzt war und sich den Schädel dabei aufgeschlagen hatte.
Na, war ja noch mal gut gegangen, immerhin lebte sie noch. Sie lauschte - wo waren jetzt diese verrückten Hajeps? Sie hörte die sonderbaren Stimmen nur noch unten in der Kapelle. Dort war es recht laut, aber geschossen wurde nicht mehr.
Sie stöhnte leise und versuchte sich trotz der schmerzenden Wunde aufzurichten. Anscheinend hatten die Hajeps gedacht, weil sie vorhin ohnmächtig liegen geblieben und so viel Blut verloren hatte, die Alte wäre tot und hatten es deshalb nicht für nötig empfunden, auf sie zu schießen, so wie zuvor auf alle anderen.
Ihr wurde schwindelig, während sie sich auf die Kiste stützte und dann an der Kommode hoch zog, aber sie wollte endlich wieder stehen. Jetzt hörte sie die Stimmen der Hajeps von draußen, gemischt mit dem Weinen von Julchen und Tobias. Also lebten die Kinder immerhin. Doch was hatten die Hajeps mit ihnen vor?
Als sie die ersten Schritte wagte, meinte sie plötzlich, ein Kratzen und Schaben an jener Wand des Kirchengebäudes zu vernehmen, die sich im rückwärtigen Teil des Hofes befand. Da das Fenster auf dieser Seite offen war, konnte sie die Geräusche von dort sehr gut vernehmen. Verrückterweise hörten sie sich so an, als würde jemand die Wand zu ihr empor klettern. Aber das konnte doch gar nicht sein, oder?
Elfriede bekam es mit der Angst zu tun. Warum wählte jemand diesen komischen Weg, wo er doch genauso gut die Treppe zu ihr hinauf laufen konnte? Sie musste sich verstecken, schnell wegrennen, obwohl sie sich noch immer schrecklich schwach fühlte.
Zu spät! Da zeigte sich auch schon eine Art Pferdeschwanz am unteren Teil des Fensters. Sie wollte schon zum Fenster schwanken und versuchen denjenigen irgendwie zurück zu stoßen, da stutzte sie. Denn diese Haare waren komischerweise rosafarben und dann erschien auch schon das ganze Gesicht im Fenster.
„Sunga?“ krächzte sie überrascht und voller Freude.
Seine gelben Augen funkelten sie erleichtert an und dann sprang er, erstaunlich geschmeidig für sein Alter, zu ihr ins Zimmer
„He, wie hast du das geschafft?“ keuchte sie verwirrt und Tränen der Erleichterung traten ihr dabei in die Augen. “So schnell hier her zu kommen und mich auch noch zu finden?“ Sie betrachtete ihn mit großer Anerkennung und er schaute deshalb nun doch so ein bisschen stolz drein.
Sie wollte zu ihm hinüber taumeln, stolperte jedoch abermals über die Kiste, doch er hatte sie schon aufgefangen. Er hielt einen Finger über ihren Mund und wisperte: „Schscht!“
Denn überraschenderweise zischelten plötzlich wieder Schüsse unten in die Kapelle hinein. Aber dann waren die Stimmen der Feinde nur noch draußen zu hören.
„Isch eurerer Spur gefolgert ganser Zeit, bis eusch verlorinn aus Augen. Schießlich mir eingefaltet, du mir immer geschwärmt vor von dieser schonne Dorf, wo du wolltest malchen hinne“, beantwortete er endlich ihre Frage. Dann entdeckte er auch schon die Wunde an ihrem Hinterkopf und sein Blick wurde besorgt. „Wunde von Elfi müss werdinn gesünd weder!“ erklärte er aufgeregt. “Du jitz schwäch!“
Das stimmte tatsächlich, sie fühlte sich wirklich irgendwie schwach auf den Beinen. Zu ihrer Überraschung wendete er ihr plötzlich den Rücken zu und ging dabei sogar in die Knie.
„Werderere disch deshalbig nehminn Packhucke met mirr!“
„Das heißt Huckepack!“ verbesserte sie ihn, während sie ein wenig zögerte, sich an seinen muskelbepackten Rücken zu klammern.
„Nein, Packhucke!“ erklärte er hartnäckig.
Sie seufzte, doch dann klammerte sie sich mit ihren Armen und Beinen fest an ihn. Er drückte schließlich die Knie durch und lief erst mal einige Schritte mit der zarten Person an seinem Rücken probeweise hin und her. „Was willst du tun?“ fragte sie ängstlich und immer noch reichlich verwirrt.
„Vertrauer mirr!“ murrte er.
„Gut, werde ich machen!“ krächzte sie, trotzdem kein bisschen ruhiger geworden.
Er schaltete den Blunaska ein, den er gestern Abend noch schnell zusammen mit vielen anderen wichtigen Dingen den Trowes geklaut hatte, als die gerade dabei gewesen waren den Lumanti zu verspeisen, welcher auch den komischen Wagen gefahren hatte und dann hangelte er sich mit Elfriede auf seinem Rücken die Wand, in welche sich zuvor Haken aus einem besonderen Biomaterial selbsttätig festgesaugt hatten, wieder hinunter. Unten angekommen, schnippte er mit dem Finger und die Haken vielen alle gleichzeitig hinunter.
“Wo hast du denn die her?“ fragte sie, als sie wieder neben ihm stand und er die Haken in einen kleinen Beutel kriechen ließ.
„Zai, nüür alttis jiskisches Kriegsmathelinial!“ erklärte er ein wenig stolz.
„Kriegsmaterial!“ verbesserte sie ihn und beobachtete dabei etwas angeekelt die krabbeligen Dinger.
„Schlafinn bald!“ erklärte er begütigend.
„Schscht!“ wisperte sie. „Hörst du das? Es schleichen hier immer noch Hajeps herum! Ist das nicht schrecklich?“
Er nickte.
Sie schaute sich bibbernd und sehr sorgenvoll nach allen Seiten um. Überall konnte sie nur die Mauer des Kirchhofes sehen. Doch halt! Dort hinten gab es noch eine Einfahrt! Aber die war viel zu weit weg. Wie kamen sie nur so schnell dorthin?
Gerade wollte sie ihn fragen, als er sagte: „Friedschinn, wir fahrinn!“
„Fahren?“ wiederholte Elfriede verdutzt. Sunga nahm sie jetzt einfach beim Arm und führte sie immer weiter. “Womit fahren, Sunga?“ Elfriede sah hier nämlich nichts außer struppigem Gras und einigen Büschen, doch dann stieß sie sich plötzlich ziemlich schmerzhaft das Knie.
„Schuldigung!“ krächzte er betreten. „Bin Trödel!“
„Wenn dann Trottel“, wisperte sie, „aber nein, Sunga, das bist du nicht und das war auch nicht so schlimm!“ Verrückt, anscheinend hatte sie sich das Knie an einer offenen Autotür gestoßen, die sie aber nicht sah. Sie beugte sich vor und noch mehr nebelige Feuchtigkeit umfing sie und dann hatte Elfriede den Mercedes in seiner ganzen Breite plötzlich vor sich. Wo hast du denn plötzlich den h ...?“
„Schscht!“ sagte er jetzt richtig stolz und dann wedelte er ungeduldig mit der Hand, dass sie schleunigst Platz nehmen sollte. Schnell saß er hinter dem Steuer und nachdem er abermals kurz gelauscht hatte, fuhr er durch den rückwärtigen Teil des Hofes zur Einfahrt hinaus.
Muttsch schaute sich dennoch angstvoll um, während sie den Kirchhof hinter sich ließen. Hoffentlich wurden die Hajeps nicht durch die Motorgeräusche auf sie aufmerksam. Dabei sah sie Sungapelkes alten Rucksack auf dem Hintersitz liegen. Ein kleines schwarzes Ohr lugte aus diesem hervor.
„Munk?“ entfuhr es Muttsch hoffnungsfroh.
„Maaauuuu?“ tönte es zur Erwiderung und schon kam ein verpennter Katzenkopf aus dem Rucksack zum Vorschein.
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Margrit hielt den Atem an und machte sich so flach wie nur irgend möglich. Gott sei Dank blickten die Soldaten nicht nach oben, sonst hätten die Rehanan sie durch die transparente Überdachung aus Hartplastik, welche der letzte Pfarrer wohl rein provisorisch über dem Portal hatte anbringen lassen, hindurch schimmern sehen.
Nun kamen noch zwei Soldaten mit einer Bahre, auf welcher ein Verletzter gebettet worden war, der fürchterlich stöhnte. Der kleine Trupp schaute sich sorgsam um, inspizierte mit raschen Blicken die Umgebung.
Margrit hatte die Waffe gezogen, ihre Hand zitterte, während die Mündung ihres Revolvers mal auf die eine und mal auf die andere blaue Halbglatze unter ihr wies.
Zuletzt kam der Anführer, der sich allerdings plötzlich umwendete und mit seinem seltsamen Gewehr zähnfletschend einfach in die Kirche hinein feuerte. Der siebente Rehanan erschien nicht mehr – vermutlich war er tot und man hatte wohl keine Zeit gehabt, seinen Leichnam mitzunehmen, vielleicht diesen bereits zu Humus verarbeitet.
Margrit überlegte fieberhaft, konnte sie ihre Kinder retten, wenn sie nun von oben einfach losfeuerte? Aber was nutzte es, wenn sie vielleicht den einen oder gar zwei von ihnen tötete, die übrigen sie dafür mit ihrer perfekten Waffentechnik von diesem Dach herunterholen konnten wie eine plumpe Taube? Je gründlicher sie darüber nachdachte um so klarer wurde ihr, dass sie nie schnell genug sein würde, um alle zu erledigen.
Auf diese Weise waren kostbare Minuten vergangen und die Rehanan hatten sich inzwischen von Margrit weit entfernt. Als sie an den Gräbern vorbeikamen, bremste der Dickere aus diesem Trupp plötzlich, bückte sich, riss eine Lupine ab und reichte die Tobias, aber der Kleine schob dessen Hand samt Lupine wütend von sich, was den Rehanan irgendwie zu amüsieren schien. Der Anführer des Trupps äugte zwar noch immer aufmerksam nach allen Seiten, stellte aber dabei ein winziges Gerät an, dass er an einem Reifen am Oberarm trug, aus dem wohl die Nachrichten ertönten.
Endlich waren sämtliche Rehanan zum Tor hinaus. Also konnte Margrit wieder hinab. Sie stellte dabei ihren Fuß auf den Kopf des Heiligen, der ihr schon einmal behilflich gewesen war, kletterte an ihm hinunter und rannte möglichst lautlos über den Kirchhof, ebenfalls bis zum kleinen Tor.
Dort sah sie die Gruppe gerade um eine Straßenecke verschwinden und das schreckliche Weinen Julchens drang dabei bis zu Margrits Ohren. Verdammt, was wollten die Soldaten eigentlich mit ihren Kindern? Warum schleppten sie die Kleinen weg? Schlimmste Vorstellungen quälten Margrit plötzlich. Sollte sie diesen Rehanan nun immer weiter hinterher oder erst einmal sehen, was mit ihrer Mutter geschehen war, die sie vorhin so schmerzerfüllt stöhnen gehört hatte? Gewiss war Muttsch verletzt und Margrit konnte sie womöglich retten, wenn sie noch rechtzeitig kam!
Also drehte sich Margrit um. Immer noch hatte sie die Waffe schussbereit, denn es konnte ja sein, dass der zurückgelassene Rehanan wieder zu sich gekommen war und noch auf sie feuern konnte He, sie musste schnell machen, wenn sie die Hajeps später noch einholen oder zumindest irgendwo bald wieder finden wollte.
Wenig später befand sie sich im Inneren der Kapelle. Ehe sie sich des schrecklichen Anblicks voll bewusst wurde, der sich ihren Augen bot, musste sie sich, da sie gerade aus der Sonne gekommen war, an die Dunkelheit gewöhnen, welche hier herrschte. Doch dann konnte sie nur mit Mühe einen kleinen Schrei unterdrücken. Der Altar war niedergerissen und wohl zum Teil zertrümmert worden, nur knapp einen Meter von ihr entfernt lag zusammengekrümmt ein Loteke in seinem blauen, fast schwarzen Blut. Hier und da waren die Aufständischen bereits zu Humus verarbeitet worden, doch jener Rehanan, den Margrit zuletzt auf der Bare liegen gesehen hatte, mochte wohl das kleine Trupp zur Eile gezwungen haben.
Schaudernd schob sie sich auch noch an den restlichen Toten oder schwarzen Häuflein vorbei, hetzte schließlich die schmale, knarrende Stiege empor. Sämtliche Türen der kleinen Kammern waren dort oben aufgerissen worden und es
zog beträchtlich durch die offenen Kirchenfenster. Aber von Muttsch war weit und breit nichts zu sehen. Jedoch hinten in der Ecke, wo die Kommode stand, entdeckte sie eine rote Blutlache! Demnach war hier kein Außerirdischer verletzt worden sondern ein Mensch. Margrit konnte sich schon denken, welche Person hier in ihrem Blut gelegen hatte, aber wo war Muttsch jetzt hin? Auch hier war das Fenster geöffnet.
Margrit vermochte sich daraus keinen Reim zu machen und so jagte sie wieder hinab, an den Leichen vorbei, doch dann stutzte sie. Diese zusammen gekrümmte, relativ zierliche Gestalt dort hinten in einer Ecke der Kirche, welche nur zur Hälfte zu Humus verarbeitet worden war, konnte doch vorher auch ein Mensch gewesen sein, oder? Aber womöglich verschrumpelte jede Person erst einmal auf so eine kleine Größe, wenn der erst einmal das Wasser entzogen wurde! Aber Margrits Angst und Sorge um Muttsch nahm trotzdem zu. Das Herz wollte ihr schließlich wegen dieser Erkenntnis schier zerspringen.
„Muttsch?“ wisperte sie völlig verzweifelt und kämpfte mit den Tränen. Hatte das arme Frauchen sich etwa so schwer verletzt die vielen Stufen hinunter geschleppt, und als der Anführer des kleinen Trupps sie entdeckte hatte, deswegen noch zuletzt wie verrückt in die Kirche hinein gefeuert? Sie dachte an Gesines letzte Worte: „Nur nicht durchdrehen, Glucki!“ wisperte sie jetzt und schon war sie wieder im Freien.
Bald hatte sie den Kirchhof hinter sich gelassen. Waren die Hajeps noch einzuholen? Wohin konnten sie sich gewendet haben?
Da hörte sie die typischen Fluggeräusche eines Trestines am Himmel. Sie schaute empor und erkannte das Zeichen der Hajeps am gold und orange schimmernden Rumpf. Elegant segelte es mit seinen gewaltigen Schwingen über ihr dahin und war wohl auf der Suche nach seinen überall verstreuten Truppen. Hinten sah sie weitere Tristine, sie waren noch winzig klein, und ein Contrestine heran nahen und Margrit ahnte, was das bedeutete. Die Hajeps hatten endlich ihre Gebiete zurück erobert und die Loteken vollends vertrieben oder getötet. Margrit vermutete, dass der kleine Trupp vorhin wohl schon über Nachrichten erfahren hatte, dass nun alles zum Besten für die Hajeps stand und daher bereits Sig¬nale gesandt haben konnte.
Einen Vorteil hatte die ganze Sache auch für Margrit. Sie konnte nun endlich heraus bekommen, wohin der Trupp mit ihren Kindern geflüchtet war. Es lag sehr nahe, dass das Flugzeug hier bald landen oder ein paar Gleiter aussenden würde, um die kleine Gruppe aufzunehmen. Margrit hoffte inständig, dass die Soldaten nicht zu weit von ihr entfernt waren und sie noch rechtzeitig bei ihren Kindern sein konnte, weil das Flugzeug ja erst einmal nach einer Landemöglichkeit suchen musste.
Mit bangem Herzen verfolgte sie daher die Bahnen des eleganten Schiffes, die es hoch oben am Himmel zog und versuchte herauszufinden, wo es zu landen gedachte. Sie hatte Glück, denn es peilte eine der Wiesen in der Nähe eines Buchenwäldchens an, landete sogar dort einmal fast, erhob sich aber schließlich doch wieder und flog erstaunlicherweise fort.
Das romantische Wäldchen befand sich direkt neben einer breiten Landstraße, welche allerdings schon stark zerklüftet und von dichtem wuchernden Unkraut umgeben war. Der Boden des Bürgersteiges war wohl früher einmal aufgerissen worden, um ein großes Abflussrohr zu reparieren und nie wieder zugemacht worden. In der Nähe dieses stinkigen Abflussrohres, wo es nur so von Mücken wimmelte, kauerte sich Margrit hin, denn sie hatte den Trupp, noch ehe das Flugschiff wiederkommen konnte, verborgen hinter fünf mächtigen Rotbuchen und einem Vogelbeerbusch, endlich entdeckt.
Glücklicherweise hatte man die Kinder nicht gefesselt. Das wäre auch nicht nötig gewesen, denn die waren derart verängstigt, dass sie es wohl kaum gewagt hätten fortzulaufen. Wieder einmal zeigte sich die charakterliche Unterschied¬lichkeit dieser Rehanan, denn während zwei von ihnen den Schwerverletzten, welcher noch immer stöhnte und inzwi¬schen schweißgebadet war und wohl auch sehr viel Blut verloren hatte, nicht aus den Augen ließen, hatte sich der Anführer breitbeinig auf die Wiese gestellt und unablässig zum Himmel gewinkt.
Den beiden anderen, welche die Kinder zu bewachen hatten, war es indes langweilig geworden! Jener, welcher vorhin Julchen so brutal an den Haaren gezerrt hatte, spielte nun mit dem Kind ein bisschen. Er kniff Julchen dabei in den Arm oder in die Backe und staunte dabei immer wieder, dass dadurch komische Flüssigkeit aus den Augen des Kindes tropfen konnte. Er streckte die Finger nach den winzigen Wasserdingern aus und versuchte die zu erhaschen. Schließlich, als sie zu seiner Enttäuschung nicht mehr weinte, begann er ihr in gebrochenem Deutsch schauerliche Dinge ins Ohr zu flüstern, woraufhin die Kleine natürlich wieder losschluchzte und sein Gesicht deshalb begeistert zu zucken begann.
Der kräftige Hajep hingegen bemühte sich, sein Brot mit Tobias zu teilen. Das sah so aus: Tobias lehnte brüsk ab, er packte ebenso brüsk den Jungen, öffnete gewaltsam dessen Lippen, stopfte den Teil Brot, den er ihm zugedacht hatte, einfach in dessen Mund und hielt ihm den Kiefer zu.
„SCHLICK!“ kommandierte er.
Tobias verstand ihn auch, erbrach aber alles vor lauer Angst und Abneigung gleich wieder in dem Moment, in dem der Hajep ihn losließ! Das registrierte dieser nun mit Erstaunen, betrachtete seinen Teil Brot, den er zu essen vorgehabt hatte, ausgesprochen kritisch und warf ihn dann kurzerhand fort.
Da der Verletzte mit einem Male laut zu jammern und sich dabei vor Schmerzen zu krümmen begann – er schien sich zudem in einer Art Trance zu befinden - wollte derjenige, welcher sich eigentlich sonst immer nur mit Julchen beschäftigt hatte, plötzlich diesen Verletzten einfach erschießen, wohl weil er der Annahme war, diesem damit sein qualvolles Ende zu verkürzen, da der ja ohnehin sterben würde. Doch die Beiden, welche den Verletzten bewachten, hatten anscheinend etwas dagegen. Nach einem heftigen Wortwechsel stellte sich einer von ihnen sogar Julchens Aufpasser nicht nur in den Weg, er wollte ihm auch das Gewehr entreißen. Doch Julchens Bewacher setzte sich zur Wehr. Es kam zu einem wildem Handgemenge.
Das nutzte Julchen sofort für sich aus. Wenn auch am ganzen Körper bebend, schlich die Kleine schnellstens los, während Tobias nur mit offenem Munde den Kampf der Titanen beobachtete. Da hörte Margrit auch schon wütendes, über¬raschtes Gebrüll.
Julchen war wohl gestolpert und durch diese abrupte Bewegung von ihrem Aufpasser aus dem Augenwinkel bemerkt worden, der ohnehin den Kampf ganz gern unterbrechen wollte, da er zu unterliegen drohte. Just in diesem Augenblick kam auch der Anführer zurück. Ihm folgten fünf Männer der Crew aus dem Trestin, welches endlich hinten auf der Wiese gelandet war. Alle wirkten etwas nervös. Sofort kümmerten sie sich um den Verletzten. Tobias Bewacher packte indes den Jungen beim Arm, wohl weil er verhindern wollte, dass der Kleine diese Unruhe ebenfalls für sich ausnutzen könnte.
Julchens Aufpasser hatte inzwischen sein Gewehr dem Kameraden, mit dem er gerade gekämpft hatte, wieder entrissen und war losgerannt, dem vor Angst schreienden Kind hinterher und sein Gesicht zuckte hämisch. Auf diese Weise konnte er seinen Frust über die vielen Hiebe, die er in diesem dummen Zweikampf hatte einstecken müssen, abreagieren!
Der Anführer kümmerte sich indes immer noch nicht um ihn, weil der wie alle übrigen nur noch mit dem Verletzten beschäftigt war. Man beriet sich, denn dieses Flugzeug war leider kein fliegendes Lazarett, was wohl für diesen angebrachter gewesen wäre.
Während dessen bangte Margrit voller Verzweiflung um Julchen. Ihr Herz schlug wie rasend. Sie ballte die Hände hilflos zu Fäusten, während sie von Weitem den ungleichen Wettlauf beobachten musste. Schon glaubte der Rehanan Julchen zu haben, sein Gesicht wurde zu einer Fratze, als er den Arm nach ihr ausstreckte, um sie zu packen, doch sie entging ihm um Haaresbreite. Das schlaue, kleine Ding lief nämlich immer so, dass der Hajep, da er so riesig war, nicht unter den Zweigen hindurch kommen oder sich zumindest bücken musste.
Weiter und immer weiter sausten die kleinen Beinchen jetzt die Schnellstraße entlang – warum hatte das Kind diesen unseligen Weg nur gewählt? - donnerten die langen, sehnigen Beine federnd und gleichmäßig hinterher. Julchen war wahnsinnig schnell und sie mochte wohl Margrit in ihrem Versteck gesehen und daher auch diesen gefährlichen Weg gewählt haben. Julchens Augen wirkten viel zu groß in dem schmalen, kleinen Gesicht, sie rannte um ihr Leben!
Ein Teil der Rehanan lief nun in einigem Abstand gemächlich dem Kameraden hinterher, denn sie warteten auf das fliegende Lazarett. Einige von ihnen johlten und schrieen jetzt sogar, feuerten ihren Kameraden schalkhaft an.
Tobias schrie seinerseits, freilich aus einem ganz anderen Grunde, denn er hatte ja solche Angst um seine kleine Schwester! Warum machte sie das alles nur?
Plötzlich war Julchen wie vom Erdboden verschluckt. Ihr brutaler Verfolger blieb überrascht stehen, verblüffte Laute entfuhren auch den hajeptischen Zuschauern ringsum, und Tobias hatte sich deswegen an der eigenen Spucke verschluckt, er hustete entsetzlich und sein Aufpasser klopfte ihm deshalb auf den Rücken.
Julchens Bewacher hingegen fletschte jetzt wütend die Zähne, ähnlich wie ein Raubtier, und stakste unschlüssig mit seinen langen Beinen in der Nähe des Abflussrohres herum, in welches sich das Mädchen verkrochen hatte.
Dem Hajep war klar, dass er bei seiner Größe und dem beträchtlichem Leibesumfang niemals durchs Rohr dem Kind hinterher kriechen konnte. Also hatte die Jagd nun ein Ende, der Spaß war mit einem Male vorbei.
Es mussten besondere Maschinen oder Roboter gezielt eingesetzt werden, wollte man das Kind heute noch hervorholen, Doch, wie Margrit jetzt sehen konnte, zeigte sich der Kommandant der Crew überhaupt nicht einverstanden, seine Leute zum Jäger zurückzuschicken, die entsprechenden Geräte heraussuchen zu lassen, die sie dann herbringen und in Gang setzen mussten, denn der Verletzte musste dringend nach Zarakuma gebracht werden. Da konnte man sich nicht noch lange mit dieser unwichtigen Göre abgeben.
Wütend darüber, dass ihm die Rache an dem kleinen Kind verdorben war, feuerte der Hajep nun wie verrückt mit seinem seltsamen Strahlengewehr ins Rohr. Julchen stieß schließlich einen schmerzhaften Schrei aus und dann folgte ein entsetzliches Stöhnen. Grüne Flammen sausten trotzdem noch weiter aus der schmalen Mündung des außerirdischen Gewehrs in die Rohröffnung. Das faulige Wasser stank entsetzlich und der Dampf, der dem Rohr entstieg, war von gleicher Farbe wie das Feuer. Der Hajep hätte das Wasser bestimmt zum Kochen gebracht, wenn ihn nicht einer der Soldaten ziemlich derb bei der Schulter gepackt und mit sich gerissen hätte, denn sie waren bereits gemahnt worden endlich zu kommen, da das Rettungsflugzeug inzwischen erschienen war.
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Margrit hatte mit zusammen gepressten Lippen von ihrem Versteck aus regungslos den schrecklichen Ausgang des Kampfes zwischen Kind und Erwachsenem beobachten müssen, doch dann war der Lärm, den die Hajeps gemacht hatten, sehr schnell leiser geworden.
Kaum dass die Motorgeräusche der beiden Flugschiffe verhallt waren, verließ Margrit voller Sorge ihr Versteck. Wo war Tobias? Sie reckte sich in die Höhe und schaute in jene Richtung, wo vorhin die Trestine gelandet waren, gab sich dabei für einen Moment der unsinnigen Hoffnung hin, sie hätten den Kleinen dort einfach zurück gelassen, weil sie eigentlich doch gar nichts mit ihm anfangen konnten. Aber die schreckliche Gewissheit, dass die Soldaten den Jungen einfach mitgenommen hatten, offenbarte sich ihr dadurch nur um so deutlicher.
„Tobias!“ schluchzte sie schließlich. „Oh Gott, was haben die Rehanan mit dir vor - blöde Spielchen etwa?“ setzte sie tonlos hinzu und eine eiserne Hand schien sich dabei um ihr Herz zu legen.
Aber sie hatte keine Zeit, länger darüber nachzugrübeln. Jetzt zählte nur noch Julchen, das einzige Mitglied ihrer Familie, das sie vielleicht noch retten konnte. Margrit eilte zum Abflussrohr.
„Nur nicht durchdrehen, Julchen!“ flüsterte sie dort hinein, denn kein Laut war zu hören. „He ... bist du noch Leben?“
Wieder erklang aus dem Rohr nicht der kleinste Anflug eines Geräusches. Mücken schwebten stattdessen Margrit entgegen und sie hatte den Eindruck, dass das alte Wasser noch schlimmer stank als zuvor. Und wieder krampfte sich Margrits Herz zusammen. Sollte Julchen schwer verletzt bereits in dieser Brühe ertrunken sein?
„Julchen!“ keuchte sie mit käsewei0em Gesicht. „Die Hajeps sind fort! He, ich bin hier ... ich, die Margrit! Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Komm doch heraus, ja? Von nun an werde ich dich beschützen ... hörst du? Ich gebe dir mein Wort darauf! Du warst sehr tapfer, weißt du ... und die olle, doofe Margrit war feige, hat den bösen Rehanan nicht ...“ sie versuchte dabei, die Tränen hinunter zu schlucken, “... erschossen, aber sie ist stolz ... wahnsinnig stolz auf dich!“ Da hörte sie plötzlich ein Rascheln im Rohr und dann folgte ein herzzerreißendes, kindliches Schluchzen. Margrit musste sich sehr zusammennehmen, um nicht mit Julchen laut mitzuweinen.
„JULCHEN!“ Sie beugte sich hinab, blickte wieder in die lähmende Schwärze des Rohres. „Los! Gib mir deine Hand!“ sagte sie mit ruhiger, fester Stimme und steckte ihren Arm ins Rohr. Wieder raschelte und plätscherte es dort und plötzlich fühlte Margrit ein paar kleine, zittrige Fingerspitzen.
„Mama!“ hörte sie Julchen wispern. „Ich kann aber nich ... nich mehr hier raus!“
„Warum nicht, Julchen?“ erkundigte sich Margrit mit angehaltenem Atem.
„Weil ... es ... es geht nich ... ich kann nich ... mein Bein ...“, Julchen stöhnte schmerzverzerrt, „... mein Bein bewegen.“
„Hat dich dort der Rehanan mit diesem komischen Feuerstrahl getroffen?“
Julchen nickte, ohne daran zu denken, dass Margrit das gar nicht sehen konnte.
„Warte!“" murmelte Margrit. „Ich werde dir helfen, dann wirst du bald zum Rohr hinaus sein. Rück noch etwas
näher!“ Margrit zwängte sich ein wenig durch die Öffnung, was erstaunlicherweise recht gut ging, da sie so unterernährt war, und tappte durch die ekelerregende Brühe. Bald fühlte sie den kleinen, warmen Kinderkörper und legte vorsichtig den Arm um ihn. Dann kroch sie, gestützt auf den Knien und einer Hand, rückwärts wieder zur Rohröffnung zurück, rutschte dabei zwar fast in der glitschigen Schlamm und Wasserschicht aus, zog aber Julchen schließlich doch mit sich. Diese versuchte tapfer, ihr Stöhnen zu unterdrücken, doch zuletzt, als Margrit Julchen vollends aus dem Rohr wuchten wollte, schrie die Kleine gellend auf.
Margrit hielt zu Tode erschrocken inne. Was war passiert? Sie starrte auf den dunklen, schlammverschmierten Körper Julchens, welcher zur Hälfte noch im Dämmerlicht des Rohres lag, konnte aber nichts besonderes erkennen.
Die Augen in Julchens schmutzigem Gesicht waren plötzlich nach oben gedreht, es schien nicht mehr zu atmen.
„Julchen, Julchen, Julchen!“ rief Margrit wie von Sinnen. „Nicht sterben, bitte nicht!“
Da zuckten plötzlich die Lider des Kindes und es begann zu atmen, wenn auch sehr unregelmäßig. Julchens Blick ruhte dabei auf Margrit. Sie krauste die kleine schmutzige Stirn. „Warum ... warum hast du das getan?“ keuchte das Kind. „Oh, es tut ja so weh Mams ... so schrecklich, schrecklich weh!“
Margrit kauerte sich zitternd hin, lehnte sich gegen den Rand der Rohröffnung und strich der stöhnenden Kleinen das verkrustete Haar aus dem Gesicht. „Ich ... ich wollte dir nicht weh tun ... dir nur helfen, Julchen!“ wisperte sie. „Sage mir nur genau, wo genau es dir weh tut, ja? Und ich werde aufpassen.“
Julchen konnte das leider nicht klar sagen und so machte Margrit einfach ganz langsam und sehr vorsichtig weiter.
Als Margrit das Kinde entgültig aus dem Rohr hinaus hatte, legte sie es behutsam vor sich auf den Asphalt der Straße und sah erst jetzt das ganze Ausmaß der furchtbaren Verletzung. Der Feuerstrahl des Rehanan hatte Julchens Bein von der Hüfte abwärts fast völlig verkohlt. Margrit hatte, als sie Julchen durch die Rohröffnung zerren wollte, ihr dabei die gesamte obere Hautschicht vom Bein gerissen und es war erstaunlich, dass die Kleine doch wieder aufgewacht war.
Margrit machte sich entsetzliche Vorwürfe, ihre Lippen zuckten und sie kämpfte mit Übelkeit, Angst und Tränen, doch sie kauerte sich nieder und bettete behutsam Julchens Kopf erst einmal in ihrem Schoß.
Julchens Brustkorb hob und senkte sich qualvoll, sie rang nach Atem vor Schmerz und Überanstrengung, oder hatte sie inzwischen sogar Fieber? Ihre riesengroßen Augen suchten immer wieder das Gesicht Margrits auf und jetzt huschte sogar ein zartes Lächeln über die kleinen Lippen. „Ich bin bei meiner Mama!“ keuchte Julchen. „Habe es geschafft!“
Wenige Minuten später war das Kind in eine Art Dämmerzustand verfallen, aus dem es nicht mehr erwachte. Margrit behielt Julchens Kopf trotzdem noch für ein Weilchen auf ihren Knien, schluchzte aber nun hemmungslos, weil sie wusste, dass Brandwunden ein wahres Tummelfeld für Bakterien sind, denn die Haut, die den Körper vor Infektionen schützt, fehlte ja ganz. Sicher war Julchens unvorstellbar große Wunde bereits durch das brackige Wasser mit unzähligen Bakterien infiziert und die Kleine schwebte in Lebensgefahr. Julchen war verloren, wenn man nicht sofort half.
Margrit musste in dieser Einöde schnellstens nach einem Arzt suchen und das Kind hier einfach liegen lassen. Sie tat es nur ungern, hob es sehr vorsichtig hoch, legte das Kind in der Nähe der Straße ab, gut versteckt hinter hohem Gras und einem Busch, zog ihre Jacke aus, legte die über den kleinen Körper und rannte nach einigem Zaudern schließlich los! Doch je länger sie lief, desto klarer wurde ihr, dass sie vielleicht auf Menschen oder Hajeps stoßen würde, aber nicht gerade auf einen Arzt!
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Schließlich sah Margrit, als es schon dämmerte, dass wieder einmal ein hajeptischer Jäger ganz in ihrer Nähe landen wollte, wohl um noch die restlichen verstreuten Soldaten einzusammeln und eine ungeheure Wut auf sämtliche Hajeps bemächtigte sich plötzlich ihrer.
Sie stapfte mit zügigen Schritten direkt auf das im Wald verborgenen hajeptische Lager zu, denn sie glaubte, dass man ihre Muttsch getötet hatte und dass sie Julchen nicht mehr helfen konnte, weil viel zu viel Zeit vergangen war. Sie wusste, dass das Kind, wenn es nicht bereits seinen grässlichen Wunden erlegen war, noch heute Nacht sterben würde und sie ahnte, welch ein schreckliches Schicksal Tobias durch die grausamen Rehanan zu erwarten hatte. Alles, was sie geliebt, woran sie geglaubt hatte, war also für immer verloren! Margrit fand plötzlich, dass es sich für sie nicht mehr zu leben lohnte und daher war es ihr auch gleichgültig, ob die Hajeps dieses Lagers nun auf sie schossen, wenn sie Margrit sahen oder nicht!
Ohne sich zu verstecken, bewegte sie sich daher auf die hinter den Bäumen verborgenen Lichter zu, warf dabei einen kurzen Blick auf das schön geschnittene Flugschiff, welches über dem Wald immer engere Kreise zog, und murmelte leise wüste Beschimpfungen vor sich hin, während sie mit beiden Händen den Kolben ihrer Handfeuerwaffe umklammerte. Vergessen war der Glaube an die guten Dinge des Lebens, denn so etwas gab es nicht im Krieg. Günther Arendt hatte ja so Recht, man musste es den schrecklichen Feinden heimzahlen, so viele von ihnen töten wie nur irgend mög¬lich, bevor man selbst blutüberströmt zu Boden ging.
Jetzt war Margrit nahe genug. Sie duckte sich kaum hinter dem Busch, vor welchem sie halt gemacht hatte, holte tief Atem und zählte vierunddreißig Soldaten und sechs Offiziere, die sich hier alle versammelt hatten. Vier Rehanan rauften gerade miteinander und die anderen schlossen wohl noch schnell Wetten darüber ab.
Margrit schob den Lauf ihrer Waffe zwischen Blattwerk und Gezweig, spannte den Hahn. Die dünne, schrundige Haut über den Fingerknöcheln dehnte sich mühsam, als sie einen der drei Männer anvisierte, welcher direkt in ihrer Nähe sehr angeregt mit den anderen plauderten.
Ja, sie, Margrit, wollte überraschen ... das ganze Lager und dabei all ihren Zorn über diese verwöhnten, dekadenten Hajeps hinausschreien und ... nanu? Plötzlich raschelte es hinter ihr, fühlte sie Finger auf ihrem Mund, spürte sie, dass jemand mit stählernem Griff ihre Hände mitsamt Waffe hinunter drückte. Sie blickte erschrocken nach hinten, starrte auf den Mann, der ihr immer noch den Mund zuhielt.
„George!“ nuschelte sie hinter dessen Fingern.
„Aber, was machen wir hier denn für einen Unsinn ... hm?“ wisperte er ihr ins Ohr und nahm langsam die Hand von ihrem Mund. „Bitte, Margrit, ganz ruhig bleiben und mir die Waffe geben, ja?“ Aber sie ließ nicht los, brachte das einfach nicht mehr fertig, hatte wohl einen Krampf. Er strich ihr behutsam über das Haar. „Ruhig ... nur gaaanz ruhig!“ murmelte er wie bei einem in Panik geratenem Tier und streichelte sie in einem fort. Margrit wurde dadurch tatsächlich entspannter, allmählich verlangsamte sich ihr wilder Herzschlag, der seltsam schale Geschmack verschwand von ihrer Zunge, es rauschte und toste nicht mehr in ihren Ohren und ihr Atem wurde gleichmäßiger, schließlich erschlafften auch die Muskeln.
„Ist schon gut“, stammelte sie schließlich und lehnte sich erschöpft an seine Schulter, „hier hast du sie ... bin wieder ganz, okay!“ Ihre Hand wurde schlaff und er nahm ihr die Waffe ab, ergriff sie beim Ellenbogen, schlich mit Margrit ein Stück zurück und schob sie dann vorsichtig hinter einen mächtigen Baumstamm. Immer noch schaute sie ihn fassungslos und dankbar an. „Du musst den ganzen Tag nach mir gesucht haben“, stellte sie fest und rieb sich mit ihren schmutzigen Fingern derb die aufgesprungen Lippen um zu fühlen, dass sie noch lebte.
„Tja, Zähigkeit führt zum Ziel, hat mir mal jemand gesagt“, erklärte er augenzwinkernd. „Nein, nein, das war es nicht allein. Wenn Paul mir nicht verraten hätte, welche Wege und Orte du früher mal mit deiner Mutter hattest aufsuchen wollen, hätte ich dich wohl nicht so schnell aufgabeln können!“ George zerrte dabei ein wenig genervt Margrits Finger von deren Lippen.
„Mach ich dich damit verrückt? Tschuldige! Hm, also hat mir Paul doch ein bisschen geholfen!“
„Dieses bisschen war sogar sehr entscheidend!“ George grinste, aber dann spähte stirnrunzelnd durch die herabhängenden Zweige zum Lager der Hajeps „Gott sei Dank haben sie uns nicht bemerkt, weil sie wohl gerade selbst aufbrechen müssen. Sieh nur, sie packen die Sachen zusammen und machen das Feuer aus!“ brummte er. „Und ... he, hörst du die Motorgeräusche plötzlich mitten im Wald?“
Margrit nickte, während sie weiter schlichen. „Bist du mit dem Jambo da?“ fragte sie übergangslos und ihr Herz begann wieder sehr schnell zu klopfen.
„Ja! bestätigte er beiläufig. „He, das Trestin muss jetzt eine passende Lichtung gefunden haben und deswegen ...“ Er fuhr zusammen, denn Margrit hatte plötzlich die Arme von hinten um ihn geschlungen und küsste ihn auf die Wange.
Er schaute sich verdattert nach ihr um, denn er konnte ja nicht wissen, dass dieses ´ja´ das schönste war, das Margrit je vernommen hatte.
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„Hajeps!“ stammelte Julchen im Dämmerzustand. Glücklicherweise lebte das Kind – noch! Man hatte die Kleine nach Eibelstadt gebracht.
Nun kauerte Margrit neben der Matratze, auf welcher Julchen in dicke Decken gehüllt lag, und sie kühlte in gewissen Abständen dem Kind die heiße Stirn. Nichts hatte sich gebessert, seit man Julchen hierher geschleppt hatte. Das einzige Krankenhaus, welches noch funktionierte, lag in Kitzingen, also weit entfernt von hier und war außerdem völlig überfüllt mit den Opfern der zerstörten Städte. Werner, den sie glücklicherweise noch gefunden hatten, hatte eine sehr düs¬tere Prognose über Julchens Zustand gestellt. Schwere Verbrennungen waren in diesen Zeiten tödlich und die Hajeps schossen mit fremden, unbekannten Gasen, die Verletzungen hinterließen, welche mit menschlichen Mitteln einfach nicht zu heilen waren. Außerdem würde Julchen im Laufe des nächsten Tages ohnehin an ihrer schweren Infektion das Zeitliche segnen. Margrit solle sich nur ja keiner falschen Hoffnung hingeben, hatte er ihr zum Schluss noch geraten und war dann einfach gegangen.
Wieder betupfte Margrit Julchens heiße Stirn mit dem Wasser, sah wie die einzelnen Tropfen ihre Schläfe hinabliefen und bemerkte dabei, dass dort die Adern, die wegen des Fiebers stark hervorgetreten waren und beständig geklopft hatten, jetzt kaum noch zu sehen waren. Erschrocken legte Margrit ihr Ohr auf Julchens magere Brust. Das Herz schlug ganz schwach, das Kind atmete kaum.
„NEIN!“ schrie Margrit verzweifelt.
„Julchen wach auf! Bleib bei mir ... bitte, bitte, geh nicht fort!“ Schließlich barg sie laut schluchzend ihr verweintes Gesicht in der kleinen, leblosen Hand. Plötzlich kam Margrit ein rettender Gedanke, der ihr aber reichlich verrückt erschien. Egal, sie musste es einfach wagen! Julchens Puls ging noch und solange dieses kleine Herz schlug, musste sie selbst das idiotischste einfach versuchen!
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„Hast du dir das auch gut durchdacht, Margrit?“ George parkte den Jambo direkt hinter einem Zebrabaum, wie er diesen still bei sich nannte, da dessen samtene Rinde ein ähnlich schwarz-weißes Muster aufwies wie das Fell jener Tiere.
„Selbst wenn ich mir das nicht gut durchdacht hätte, George!“ Margrit riss die Wagentür auf und sprang aus dem Jambuto. „Das ist doch jetzt völlig wurscht!“
Die Zweige des mächtigen Baumes trugen gerade Früchte und deshalb hingen sie ziemlich tief bis zum Jambo hinab, in welchem Julchen auf dem Rücksitz vor sich hin dämmerte. Neben ihr saß Rita und streichelte der Kleinen immer wieder über das Haar.
„Bitte George“, fauchte Margrit von unten zu ihm empor, „wir müssen das einfach versuchen, verstehst du?“ Und dann schob sie mit entschlossener Miene das riesige Blatt eines gelben Farnes beiseite, um nach dem Kiesweg Ausschau zu halten, der bis zum Haupttor Doska Jigons führen sollte. Paul war ebenfalls ausgestiegen und folgte nun, dabei ebenfalls noch schnell einen besorgten Blick auf Julchen zurück werfend, Margrit.
„Rita, du wirst uns doch auch wirklich rechtzeitig Bescheid geben, ja?“ rief er Richtung Jambo. “Wir kommen sofort angepest, wenn mit Julchen was los sein sollte!“ Wie immer, wenn ihn Gewissensbisse zu plagen begannen, war er geradezu übereifrig, seine Fehler wieder gut zu machen.
Rita, die neben Julchen auf dem Rücksitz saß, kannte das inzwischen von ihm und seufzte deshalb abgrundtief.