Das Linzer Kerzenziehen – eine vorweihnachtliche Erzählung (Textcollage) mit ungewissem Ausgang

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Ans Kerzenziehen erinnere ich mich gern.
In Gedanken gehe ich den Linzer Hauptplatz entlang. Dort, wo der Christkindlmarkt aufgebaut ist.
Vorbei am Eingang vom Hotel Wolfinger. Ich folge der schmalen Hinterhofgasse mit dem Kopfsteinpflaster. Am Ende der Gasse befindet sich auf der linken Seite jene Tür, die mich schon so oft in eine Weihnachtswelt jenseits von Hektik hineingeführt hat. Man tritt ein und sofort zieht einem der mollige Bienenwachs-Duft in die Nase. Wie nicht-süßer Honig. Es ist warm und ruhig hier drin. Wo mit literweise heißem Wachs hantiert wird, gibt es keine schnellen Bewegungen. Das wissen auch die zahlreichen Kinder, die stets zugegen sind, um mit Mamas, Opas oder mit einer Lehrerperson ihre Kerzen zu ziehen. Es ist wirklich kinderleicht.

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Kerzenziehen heißt, man kriegt zuerst einen Docht.
Die weißen Schnüre wählt man entsprechend der gewünschten Dicke der Kerze. Dicke Kerze, dicker Docht.
Dann muss man sich entscheiden, wie lang die Kerze ungefähr werden soll und die Dochtschnur wird demgemäß der Länge nach eingekürzt. Oben am Doch wird eine kleine Schlaufe geknotet, sodass man ihn sich an den Finger hängen kann.
In den verwinkelten Räumen des Linzer Kerzenziehens stehen verstreut die Bottiche mit heißem Wachs. Bienenwachs, gelb. In diese Bottiche taucht man den Dochtfaden ein. Nicht lange. Nur ein paar Sekunden. Immer wieder. Abtropfen lassen, abstreifen am wachsverkrusteten Rand des Kessels.
Mit jedem Eintauchen kann man zuschauen, wie die Kerze an Umfang gewinnt.
Die eigentliche Kunst aber ist das Warten. Die Zeit zwischen dem Eintauchen: Es braucht Geduld. Zwischendurch muss die Kerze abkühlen. Ob sie für den nächsten Tauchgang bereit ist, erkennt man an der Temperatur, die ungefähr Körpertemperatur sein sollte, oder an der Farbe. Wenn es abkühlt und verhärtet, wird das Wachs dunkler.
So manches Mal habe ich ungeduldige Zeitgenossen beobachtet, die ihre Kerzen zu schnell hintereinander ins Wachs getaucht haben. Es werden die ungeduldig gezogenen Kerzen einfach nicht so gleichmäßig schön wie jene, die man mit Muße herangezogen hat. Im schlimmsten Fall löst sich das aufgezogene Wachs wieder vom Docht und man zieht mit langem Gesicht nur einen leeren Faden aus dem Bottich, nachdem man stundenlang schon an der Kerze gearbeitet hat.

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Hier im weißgetünchten Gewölbe habe ich schon Kerzen gezogen, als ich noch zur Schule ging.
Habe ich den Docht in meiner Hand und sehe zu, wie er in der honigfarbenen Flüssigkeit baden geht. Eintauchen.
Ich bin 15 und stehe mit meiner Freundin Christine um den Wachsbottich. Wir plaudern und lachen, während wir zwischendurch unsere Kerzen ziehen. Welche Kekse wir am letzten Schultag vor den Weihnachtsferien mitbringen werden? Bestimmt machen wir wieder einen Sesselkreis. Sabine B. wird nicht mehr Gitarre spielen, sie ist letztes Jahr sitzen geblieben.
Auf meinem Schulweg komme ich jetzt täglich an der wie selbstverständlich angeschneiten Magdalena-Kirche vorbei, die liegt auf einem Hügel und schaut aus wie idyllische Bergweihnacht in einem Werbespot. Die Neunziger.
Mariah Careys Weihnachtsalbum ist noch relativ neu und nicht abgedroschen. Zuhause im Bad mit den verschimmelten Fugen und dem angeschlagenen Waschbecken singe ich jeden einzelnen Song auf meiner Musikkassette rauf und runter, aber das erzähle ich Christine nicht. Sie soll nicht wissen, wie desolat unser Badezimmer ist und dass mir ebenda die schillerndsten Laute aus der Kehle schlüpfen.
Ich weiß ja noch nicht viel von der Welt, aber dass ich mich später mal in einem schöneren Badezimmer zurechtmachen werde, davon gehe ich schon aus irgendwie. So eins wie bei Christine daheim, wo alles immer funktioniert und wo beim Alibert oben keine Kabel rausstehen, die sich niemand anfassen traut und die deswegen schon mit einer dicken Staubschicht überzogen sind.
Ich nehme es ihnen echt ab, wenn unsere Lehrer sagen, wir würden unseren Weg schon machen.
Und ich will dran glauben, dass da bald schon jemand sein wird, für den ich „All I want for Christmas is yoooouuuu“ schmalzen kann, mit den auf- und abschwellenden, langgezogenen Vokalen. Wir werden verliebt und jung sein und alles besser machen, sodass es für uns ein richtiges Weihnachten wird – ohne hochkochende Wut, ohne Alkohol und ordinäre Worte, ohne Glastüren, die mutwillig zu Bruch gehen und ohne Polizeieinsatz. Es muss doch auch andere Männer geben und da draußen wartet so einer auf mich. Wir werden romantisch zu Abend essen im Licht meiner selbstgezogenen Kerze.
Oder ich wünsche mir, einen Freund wenigstens schon mal gehabt zu haben und mich zur Weihnachtszeit sehnsüchtig an den einst Geliebten zu erinnern. Da würde dann „Miss you most“ passen, einer von Mariahs stilleren Songs. An der Stelle ist das Band von meiner Kassette schon ganz dünn und wird irgendwann reißen. Kindisch, dieses Getue, ich weiß.
Aber Christine und ich, wir kommen uns gescheit und erwachsen vor, wie wir ganz von allein auf die Idee gekommen sind, im Kerzengewölbe ein paar selbstgemachte Weihnachtsgeschenke für Omas oder Tanten zu fabrizieren. Wir sind fast schon fertige Frauen und ich kokettiere mit meiner Figur. Ein dunkelblauer, langärmliger Baumwoll-Body betont meine inzwischen gewachsenen Brüste und die schlanke Taille. Nur die Knopfleiste im Schritt untern meinen Jeans spürt sich unangenehm an, wie das so ist bei den billigen Modellen - aber auch das behalte ich für mich. Christine mag es bequemer. Sie trägt ein offenes Flanellhemd über einem lockeren T-Shirt und Jeans mit dem roten Levi‘s-Abzeichen auf dem Hintern. Sie passt besser hierher als ich.
Wir wissen, hier beim Kerzenziehen sind wir in der Gesellschaft derjenigen, die fest dran glauben, dass man die Welt mit so kleinen Sachen wie Naturprodukt-Geschenken besser macht. Wir glauben an die gesellschaftserbauliche Wirkung von Benetton-Plakaten, auf denen sich Menschen unterschiedlicher Hautfarbe als liebende Familie gruppieren und daran, dass auch wir die Welt in diesem Sinn vorwärtsbringen.
Später werden wir am Christkindlmarkt noch einen Punsch trinken, sofern es das Taschengeld hergibt. Die Kerze will ja auch erst bezahlt werden, der Betrag wird nach Gewicht verrechnet. Zwischen kitschigen Engelchen, die wir beide ganz furchtbar finden - wir sind ja abgeklärt und ohne jeden Pathos - schlürfen wir aus dunkelblauem Porzellan mit Werbeaufdruck heißen Saft.
Dann heim. Ich gehöre zu diesem anderen Zuhause, wo der dünne Teppichbelag an manchen Stellen nur noch von Klebeband zusammengehalten wird und wo niemand so ein umsichtiges Verständnis an den Tag legt wie Lehrer oder Filmemacher vielleicht meinen. Niemand nimmt dich in einem ruhigen Moment zur Seite, um dich aufzubauen, wenn du es vielleicht brauchst. Ruhige Momente sind rar gesät, der Rest ist ein Minenfeld, wo ständig was explodiert und wo die häufigste Phrase „Du blöder Trampel“ ist – und das ist noch harmlos im Vergleich zu den übrigen Schimpfworten.
Ich versuche, das meditative Kerzentauchen zu verinnerlichen, in mich einzugraben und mit nach Hause zu nehmen.

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Mit den Fingern die noch warme Wachsschicht entlangfahren, kurz nach dem Eintauchen, das habe ich so oft schon gemacht.
Es krümeln ein paar Wachsteile herunter, wenn man die Kerze auf diese Weise glatt streift. Die Kerze schaut bald schon aus wie eine Kerze.
An der Wand im Gewölbe hängt die immergleiche Anleitung fürs Kerzenziehen mit uralten schwarz-weiß-Bildern. Ein paar Tannenzweige schmücken dezent die Räume, dazwischen aufgehängt bunte Plakate mit zweierlei Motiven nach einer Art naiver Malerei: Eine Katze im Fenster neben brennender Kerze oder Kinder, die sich ums Kerzenlicht versammeln. Es ist jedes Jahr dasselbe.
Eintauchen.
Ich blöder Trampel bin erwachsen geworden.
Ich kann nicht viel, aber das mit dem Kerzenziehen kriege ich hin.
Meinem Kind werde ich das nicht alles antun, habe ich mir vorgenommen. Es soll nicht bei jeder Bewegung an sich zweifeln und sich klein machen, sondern soll als aufrechter Mensch durchs Leben gehen.
Ich benutze keine Schimpfworte, als mein Sechsjähriger den Dochtfaden nicht ordentlich festhält und sein Werkstück in den Bottich fallen lässt. Auch nicht, als er instinktiv hinterhergreift und aufschreit. Die kleine Hand ist überzogen von Wachs. Das tut sicherlich weh, aber verletzt ist er nicht. Ein hilfsbereiter Mitarbeiter fischt die verlorene Kerze mit einem Holzstab wieder heraus.
Ist nochmal gut gegangen.
Seite an Seite ziehen wir große Kerzen und kleine. Wir kommen jedes Jahr.
Mit jedem Jahr kann mein Sohn besser über den Wachsbottich drüber schauen. Es geht so schnell.
So direkt hat es mir keiner gesagt, aber schon hat sich die Botschaft in mein Herz gefressen, es wäre das Beste, sich auf das Kleine im Drinnen zu konzentrieren, während draußen soziale und politische Krisen Hand in Hand an uns vorbeitanzen.
Ich und mein Sohn, wir ziehen Kerzen, während fernere Kriege Millionen Menschenleben einfordern, während Blasen schwellen und platzen, während die Finanzkrise ihren Höhepunkt erreicht, während die Umwelt leidet, während sich die kapitalistischen und die demokratiepolitischen Versprechen nach und nach verdünnisieren.
So richtig aufgefordert, sich zu empören und zu engagieren wird man nicht. Geh Punsch trinken und zieh deine Kerzen, mehr kannst du sowieso nicht tun. Mach nur ja keinen Aufstand. Ich glaube, ich habe es verstanden. Solange man uns das hier nicht nimmt…
Mein Sohn und ich, wir ziehen Kerzen gern.
Manchmal ist es rappelvoll im Gewölbe. Ganze Schulklassen kommen herein. Ein Ausflug zum Kerzenziehen hat sich schon fix in die Linzer Lehrpläne eingeschrieben. Mein Kind soll auch mit seinen Lehrern hierherkommen, mehrmals sogar.
Daran, dass manche Kinder schon zuvor, also vor der schulischen Erfahrung, mit den Erziehungsberechtigten beim Kerzenziehen waren, erkennen die Lehrer, welche Eltern wirklich vorbildlich sind. Stimmt aber gar nicht, weil mein Vater war damals ja auch mit meiner Schwester beim allerersten Kerzenziehen 1991.
Zu der Zeit fand das Ganze noch in einem improvisierten Zelt statt, das man extra am Hauptplatz aufgestellt hatte. So hat es angefangen.

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Wenn die Kerze fertig ist, wird sie von den Mitarbeitern unten gerade abgeschnitten.
So man will, kann man sich etwa mit Stricknadeln ein hübsches Muster in sein Werkstück einkerben lassen.
Mit einem goldenen Aufkleber versehen, werden die noch warmen Kerzen in Papier eingeschlagen und man muss aufpassen, dass sie sich auf dem Nachhauseweg nicht verbiegen.

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Das Linzer Kerzenziehen hatte fast schon Tradition.
2016 feierte man stolz das 25jährige Jubiläum.
2019 wurde die Veranstaltung von der Lebenshilfe Oberösterreich (ein karitativer Verein) an einen privaten Betreiber abgegeben.
Das Linzer Kerzenziehen gab es seit 1991 bis zu den Infektions-Schutz-Maßnahmen im Rahmen von Corona (2020, 2021) jedes Jahr im Dezember.
Hinterher nur einmal noch, im Jahr 2022.
Seitdem findet sich niemand, um die Veranstaltung fortzuführen.

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(Ende?)​
 
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