Sie kannte jeden einzelnen ihrer Verfolger. Noch vor kurzem hatten sich viele von ihnen ihre Freunde genannt. Da war zum Beispiel Ned Stone, das Oberhaupt unserer kleinen Stadt, immer freundlich, immer versucht Streitereien friedlich zu schlichten. Oder Thomy Lakota, der ihr immer Komplimente gemacht hat. Er war heimlich in sie verliebt. Oder Geena, mit der sie viele Jahre ihres Lebens so eng befreundet war, dass sie alle ihre Geheimnisse miteinander geteilt hatten.
Aber jetzt wurde sie gejagt. Sie wurde gejagt, weil etwas Unaussprechliches passiert war. Droben im Norden hatte man die Leichen mehrerer kleiner Mädchen gefunden. Sie waren fürchterlich zugerichtet und hatten ausgesehen, als wären sie von innen heraus aufgebrochen worden. Rhynai war sofort klar, dass es jetzt vorbei war mit ihrem ruhigen Leben. Die Mutanten, von denen sie bisher nur von Reisenden gehört hatte, hatten sie schließlich gefunden. Und auf einmal war alles anders.
Als die drei Mädchen begraben wurden, hielt sich die Elfe im Hintergrund. Sie wusste zwar nicht warum, aber sie hatte das Gefühl, als hätte sich ihre Welt schlagartig verändert. Sie wartete ab, bis die Trauergäste den Friedhof verlassen hatten und kniete sich dann vor das Grab der Kinder.
Sie war bei ihnen, fühlte fast körperlich ihre Angst und ihre Schmerzen, und versprach ihnen alles zu tun, dass die Welt wieder besser wurde. Einen Weg zu finden, die Mutanten zu besiegen.
Plötzlich hörte sie einen Schrei hinter sich, einen durchdringenden, keifenden Schrei so voller Hass, dass ihr regelrecht das Blut in den Adern gefror. Und noch etwas erschütterte die Elfe, der Schrei kam von Geena, ihrer Freundin.
„Da ist sie. Seht ihr, sie will die Leichen ausgraben und für ihre Brut missbrauchen. Tötet sie, tötet sie, tötet sie….“
Schockiert blieb sie stehen. Was passierte hier? Was wollten die Leute von ihr? Was war denn nur in Geena gefahren?
Doch als sie näher kamen, sah sie den Hass in ihren Gesichtern, und plötzlich begriff sie. Sie war anders als sie. Sie war kein Mensch. Mit ihrer blauen Haut und ihren Flughäuten war sie für die Menschen ihres Heimatortes zu einem Monster geworden. Sie gehörte plötzlich zu den Mutanten und musste vernichtet werden. Regungslos vor Schreck wartete sie was passieren würde. Sie wusste nicht was sie tun sollte. Denn das da vor ihr, waren ihre Freunde. Ihnen hatte sie vertraut. Und bis gestern hätten sie sie vor jeder Gefahr beschützt.
Ein stechender, reißender Schmerz in ihrer linken Flughaut riss sie in die Wirklichkeit zurück. Ein paar Schritte weiter lag das große Messer, das ihre Flughaut zerschnitten hat. Im Umdrehen sah sie, wie Thomy ausholte und eine kleine Handaxt nach ihr warf. Sie konnte gerade noch ausweichen und dann lief sie um mein Leben.
Sie hörte überhaupt nichts mehr, weder das Geschrei des wilden Mobs der sie nun schon eine Ewigkeit wie es ihr schien durch die Strassen jagte, noch hörte sie ihren eigenen Atem. Da war nichts mehr, kein Geräusch. Vollkommene Stille.
War das das Zeichen für Sie aufzuhören zu rennen, aufzuhören um ihr Leben zu laufen? Sie wusste nichts mehr - ihr Kopf war leer. Warum musste Sie hier überhaupt um ihr Leben laufen? Wussten überhaupt ihre Verfolger noch, warum sie hinter ihr her waren?
Mit einem Mal erschien ihr alles so unlogisch - noch vor einer Weile konnte sie es ihnen irgendwie nach empfinden. Als sie den Hass in den in den Augen ihrer Freunde und Bekannten sah, dachte sie zuerst: "Mein Gott, was passiert hier eigentlich?".
Doch dann wusste sie es. Diese Menschen sahen sie plötzlich mit ganz anderen Augen, als all die Jahre zuvor in denen sie sich kannten, gut kannten, mochten, in all den Jahren als sie sich so viel bedeutet hatten.
Sie sahen in ihr nicht mehr die Freundin, die Jahre lang an ihrer Seite stand, die mit ihnen Freud und Leid geteilt hatte, die Bekannte, die seit ihrer Geburt zu ihrer Gemeinschaft gehörte. Sie sahen nicht mehr das vollwertige Mitglied ihrer Gesellschaft.
Sie sahen nur noch ein Monster, einen der Mutanten wie es ihnen schien.
Für sie war Sie nur noch eine dieser Bestien, die ihre Frauen entführten und sich vom Blut ihrer Kinder ernährten. Alles was vorher von Bedeutung gewesen ist, war vergessen.
Sie hatte die Angst dieser Menschen verstanden, sie wusste wie sehr sie sich selbst mit ihnen vor der Bedrohung durch die Mutanten gefürchtet hatte. Sie konnte diese Angst nur zu gut nachvollziehen, weil Sie sie so stark in der letzten Zeit gespürt hatte. Aber diesen Hass und diese rasende Wut mit der Sie jetzt gejagt wurde die verstand Sie nicht.
Wie konnten sie nur? Sie mussten doch genau wissen wenn sie hier vor ihren Stöcken und Macheten herjagten.
Wollten sie Sie jetzt wirklich lynchen, war das alles noch real?
Immer näher kamen sie. Immer schwächer wurde das blaue Wesen das vor ihnen nur noch weiter zu stolpern schien. Immer schwächer und langsamer. Keine Kraft mehr.
Als sie an einer schmalen Gasse vorbeikam, nahm sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr, doch sie hatte keine Kraft mehr zum reagieren. Wie ein Schraubstock umklammerte plötzlich eine knorrige Hand ihren linken Arm und zog sie in die Gasse. Erschrocken schrie sie auf. Eine zweite Hand presste sich auf ihren Mund.
"Kein Laut, sonst bist du verloren!" zischte ihr eine leise Stimme ins Ohr.
Draußen auf der Strasse hörte sie schon die Schritte ihrer Verfolger. Mit panischen Augen beobachtete sie den Eingang in die Gasse. Sie würde nicht mehr entkommen können. Zu nah war die Meute. Die ersten Verfolger rannten an der Gasse vorbei ohne sie eines Blickes zu würdigen, doch dann, als schon fast alle weitergelaufen waren blieb eine Person stehen und schaute in die Gasse.
Es war, als ob Geena ihr direkt in die Augen sah, ohne sie aber wirklich sehen zu können. Panik kam in ihr auf und sie spürte den beruhigenden Griff an ihrer Schulter. Hier war eine Kraft am Werk, die sie nicht beschreiben konnte. Obwohl Geena keine fünf Meter von ihr entfernt war, schien sie die Elfe nicht zu sehen. Kopfschüttelnd lief ihre frühere Freundin dem Mob hinterher.
Verwundert blickte Rhynai ihr nach. Was war da eben passiert? Offensichtlich hatte Geena die Elfe nicht sehen können. Aber wie war so etwas möglich. Langsam drehte sie sich um, damit sie sehen konnte, wer sie gerettet hatte. Doch noch bevor sie ihre Bewegung vollendet hatte, begann die Luft um sie herum zu flimmern. Die Häuser der Gasse schienen zu verschwimmen und einer neuen Umgebung Platz zu machen. Verwundert schloss sie die Augen und spürte, wie sich alles um sie zu drehen schien. Doch dieses Schwindelgefühl war genau so schnell vergangen, wie es gekommen war. Vorsichtig öffnete sie die Augen wieder und was sie sah, lies sie an ihrem Verstand zweifeln.
„Was…, wo bin…, wie…“ stammelte sie. Die dunkle Gasse war verschwunden. Stattdessen befand sie sich in einem düsteren, spärlich möblierten Zimmer, das nur durch das flackernde Feuer im Kamin erleuchtet wurde. Vor dem einzigen Fenster hing ein dunkles Tuch mit einem langen Riss in der rechten Hälfte.
Immer noch spürte sie die fremde Hand auf ihrer Schulter. Zögernd griff sie danach und drehte sich zu der Person um, die ihr eben das Leben gerettet hatte und blickte direkt in zwei unergründlich tiefe Augen.
„Kleine Elfe, endlich habe ich dich gefunden. So lange habe ich nach dir gesucht. Und immer wenn ich die Hoffnung aufgeben wollte dich zu finden, dann kam mein Herr und sagte zu mir: ‚Gehe wieder unter die Menschen, wandle auf der Erde. Eines Tages wirst du sie finden. Und du wirst sie daran erkennen, dass sie anders ist als die meisten Menschen.’ Und ich begab mich wieder auf die Erde und setzte meine Suche fort. Fünf Menschenleben lang habe ich dich gesucht. Und jetzt hat meine Suche ein Ende. Jetzt finde ich endlich meine Ruhe.“
Mit diesen Worten kniete sich die Sprecherin vor der Elfe nieder und beugte ihren Kopf.
„Du bist dazu ausersehen, die Erde zu retten. Aber bevor ich dir deine Geschichte erzähle, ruhst du dich am Besten etwas aus. Ein Bett findest du im Nebenraum. Ich werde für dich da sein, wenn du wieder erwachst.“
Mit diesen Worten begann die alte Frau plötzlich zu flimmern und verschwamm. Und dann war Rhynai allein.
Langsam kam die Elfe wieder zu etwas mehr Luft. Sie hoffte, in diesem Versteck würden ihre Verfolger sie nicht so schnell finden. Aber sie konnte nicht ewig hier bleiben.
"Ich muss Vater finden und dann mit ihm die Stadt verlassen, die Heimat verlassen. Aber kann man zu einem Ort noch Heimat sagen, an dem man gerade beinahe umgebracht worden wäre.
Was war nur in diese Menschen gefahren?" dachte sie: "Kommt hier wieder die uralte Angst des Menschen vor Veränderungen durch? Die Angst vor allem was anders und unerklärlich ist?
Aber manchmal habe ich auch Angst vor der Kraft, die in mir schlummert. Ich kann sie spüren, sie vibriert in mir, sie will heraus. Bisher konnte ich das verhindern.
Obwohl, eigentlich war ich doch schon andersartig genug, warum sollte ich mich also dagegen wehren. Es war doch etwas Gutes, was da in mir existierte. Soviel zumindest habe ich schon herausgefunden.
Und doch, auch in mir war diese Abneigung gegen Veränderung? Aber vielleicht kann es mir helfen zu entkommen? Dann müsste ich aber doch schon viel mehr wissen, keine Zeit um lange zu lernen. Aber einen Versuch wird es doch wert sein.“
Konzentriert schloss sie die Augen, verdrängte alle Gedanken und versuchte die Kraft in sich bewusst zu spüren. Da, ein kleiner Lichtpunkt. Vorsichtig lies sie ihn größer werden, streckte die Hände aus und öffnete die Augen. Und da war das Licht. Eine kleine durchsichtig blaue Lichtkugel schwebte ein paar Zentimeter über ihren Händen. Vorsichtig versuchte sie damit zu spielen. Die Kugel drehte sich und änderte ihre Farben. Langsam griff Rhynai mit einer Hand danach. Wie eine zweite Haut legte sich die irisierende Sphäre um ihren blauen Arm und veränderte ihn. Er sah aus wie der Arm eines ganz normalen jungen Menschenmädchens. Vor Erstaunen verlor sie die Konzentration und die Sphäre verschwand. Der Arm war wieder normal. Schwer atmend dachte sie:
"Das ist meine Chance, die Stadt zu verlassen. Aber es ist so anstrengend. Ich darf mich unterwegs nicht ablenken oder aufhalten lassen, denn wenn ich die Illusion nicht halten kann, bin ich verloren."
Seufzend schaute sie sich in dem düsteren Raum um. Dem einzigen Fenster gegenüber befand sich ein schmaler Durchgang. Ein leichter Luftzug bewegte den schwarzen Vorhang der davor hing. Neben dem Fenster stand ein alter Schrank, dessen Türen kunstvoll mit magischen Symbolen verziert waren. Auf einem kleinen, hölzernen Regal standen ein paar alte Bücher und ein kupferner Wasserkrug. Und auf einem primitiven hölzernen Tisch mit zwei Stühlen, stand eine tönerne Schale mit ein paar Früchten.
Müde ging Rhynai auf den Durchgang zu. Helles Licht sickerte an den Rändern in den Raum. Zögernd streckte sie ihre Hand aus, schob das Hindernis zur Seite und schloss geblendet die Augen. Helles Tageslicht fiel durch zwei Fenster in den angrenzenden Raum.
Das versprochene Bett stand unter den beiden Fenstern auf der gegenüberliegenden Seite. Bis auf das Bett und einen bunten Teppich, der in der Mitte des Zimmers lag, war der Raum leer. Durch ein paar Ritzen in der Tür auf der rechten Seite fiel Tageslicht. Das war wohl die Eingangstür. Ein schmaler Korridor auf der linken Seite führte tiefer in das Haus hinein. Neugierig überlegte sie, was sie dort wohl finden würde. Doch dann fiel ihr Blick wieder auf das Bett. Nur ein paar Schritte durch den Raum und schon lag sie weich und warm. Innerhalb weniger Sekunden war sie fest eingeschlafen.
Wenige Meter weiter, hinter einer der Türen, zu denen der Korridor führte, stand die alte Frau vor einem weiteren Kaminfeuer. Schemenhaft waren zwei echsenartige Augen in den Flammen zu erkennen. Dann dröhnte eine mächtige Stimme durch den kleinen Raum.
„Ja, du hast Recht, Priesterin des Drachen. Die blaue Elfe ist die Auserwählte. Sie hat die Kraft in sich, mit der sie diese Welt retten kann. Aber es ist ein weiter und gefährlicher Weg bis dort hin. Und sie muss sehr viel lernen.“
„Warum machen wir es nicht so wie wir es bei mir gemacht haben?“ fragte die alte Schamanin.
„Weil wir keine fünf Menschenalter mehr Zeit haben. Rhynai muss auf ihrer Reise lernen. Und wenn sie am Ziel ankommt muss sie ihre Kräfte einsetzen können, oder aber es ist alles verloren. Dann wird ein dunkles Zeitalter über die Erde hereinbrechen. Aber sei sicher, dass sie mächtige Begleiter haben wird, die sie lehren und beschützen. Du weißt, uns liegt sehr viel an der Menschheit. Aber selbst wir können die Flut aus der Tiefe nicht aufhalten.“
Rhynai träumte. Aber es war etwas Unheimliches an ihrem Traum, etwas Unheimliches und realistisches. Sie wusste, dass sie träumte, und doch war es wie eine Begegnung im Wachzustand. Sie befand sich mitten in einem finsteren Wald. Das Feuer auf der kleinen Lichtung war herunter gebrannt, nur vereinzelt zischten glühende Holzreste im einsetzenden Regen. Schon lange hatte sich der Mond hinter den über den Himmel jagenden Wolken versteckt Und selbst die Tiere im Wald hatten sich vor dem Kommenden Unwetter zurückgezogen.
Wie gebannt horchte sie in die Finsternis, konnte aber nichts Außergewöhnliches hören. Also drehte sie sich um, und ging wieder zu ihrem Lager zurück. Eng wickelte sie sich in die schwere Decke, um sich vor dem ungemütlichen Wetter zu schützen. Langsam fielen ihr die Augen zu, als ein Blitz die Nacht zerriss. Und der Blitz enthüllte, was sie die ganze Zeit gespürt hatte. Auf der anderen Seite der Lichtung stand eine dunkle Gestalt, in einen schweren Umhang gekleidet und mit einer tief ins Gesicht gezogenen Kapuze. Stumm und regungslos beobachtete er die kleine Gruppe an der Feuerstelle. Doch als der nächste Blitz niederfuhr war die Gestalt wieder verschwunden.
Unruhig warf sich die Elfe auf dem schmalen Bett herum und schlug die Augen auf. Mittlerweile war es draußen dunkel geworden, sie musste also einige Stunden geschlafen haben. Anscheinend hatte sie das Beschwören der Sphäre und die Illusionsmagie stärker erschöpft, als sie gedacht hatte. Es würde nicht leicht werden, den Zauber auf der Flucht aufrecht zu erhalten.
Auf dem Teppich in der Mitte des Raumes saß die alte Frau und blickte sie nachdenklich an. Ihre langen, grauen Haare waren mit bunten Perlen und Ringen zu zwei ordentlichen Zöpfen gebunden. Das etwas abgetragene aber saubere Lederkleid war mit allerlei indianischen und magischen Symbolen verziert. Besonders auffallend war der silberne Anhänger, den sie um ihren Hals trug. Er stellte einen aufrecht an einem Pfahl sitzenden Drachen dar, der in seinen beiden Vorderpfoten je eine rote Kugel trug.
„Wer bist du?“ fragte sie die Alte und richtete sich auf. „Warum hilfst du mir?“
„Man nennt mich Silver Cloud“, war die Antwort der alten Schamanin, „Ich bin die heilige Frau der Cherokee und die Priesterin Feuerauges. Wenn du wirklich die bist, für die dich mein Meister hält, dann wirst du ihn schon bald kennen lernen. Wenn nicht…, obwohl, er ist überzeugt davon, dass du die Auserwählte bist.“
„Das ist jetzt das zweite Mal, dass du sagst, dass ich etwas Besonderes bin. Wer bist du, so etwas zu behaupten und wer soll ich sein, dass du mich als ‚Die Auserwählte’ bezeichnest?“ Die Unsicherheit und Furcht gegenüber der fremden Alten war verschwunden. Neugier machte sich bemerkbar. Rhynai spürte, dass die Frau ihr nichts Böses wollte.
„Ich sagte schon, mein Name ist Silver Cloud und ich wurde geboren in einer Zeit, an die sich heute nur noch wenige erinnern. Dennoch bin ich heute noch einigen bekannt. Vielleicht hast du ja einmal von der großen Seherin der Cherokee gehört. Heute ist es eine Sage, trotzdem ist es die wahre Vergangenheit deiner selbst. Viele Jahrhunderte habe ich auf dich gewartet, immer wieder wurde ich auf die Erde zurück geschickt von meinem Meister Feuerauge.“
„Du bist eine von den Wiederkehrenden?“, das Erstaunen in der Stimme der Elfe war unüberhörbar. „Ich dachte ihr seid nur eine Legende, ein Märchen, das Kindern erzählt wird. Und nun stehst du leibhaftig vor mir. Doch wenn ich mein Spiegelbild anschaue, und sehe, wie sehr ich mich von den Menschen unterscheide, und wie sehr ich den Geschöpfen ihrer Legenden gleiche, dann muss ich wohl glauben, was du sagst. Denn wenn Wesen, wie ich eines bin, wieder auf der Erde wandeln, warum sollen dann andere Sagen und Legenden falsch sein? Trotzdem weiß ich nicht, was an mir so besonderes sein soll, was das Interesse deines Meisters an mir geweckt haben soll. Wer ist Feuerauge?“
„Wer mein Meister ist, spielt im Moment keine Rolle. Er wird sich dir zu erkennen geben, wenn er es für nötig hält. Soviel nur sei dir gesagt, du stehst unter seinem besonderen Schutz. Aber erst, wenn es dir gelingt, deine Verfolger abzuschütteln und die Stadt zu verlassen kannst du ihm und dir selbst beweisen, dass du wahrhaftig die Auserwählte bist.“
„Ich bekomme also keine weitere Hilfe um die Stadt zu verlassen?“
„Die Kraft in dir wird deine Hilfe sein. Du bist auf dem richtigen Weg. Aber du musst noch lernen deine Fähigkeiten zu kontrollieren und gezielt einzusetzen. Es ist die allmächtige Kraft der Erde, die Magie, die dir zur Seite steht. Lerne sie weise zu nutzen, und sie wird dich nie verraten. Aber hüte dich davor sie gegen ihre wahre Natur zu wenden, ihre Kraft für Zwecke zu pervertieren, die ihrer selbst widersprechen. Denn es wird die Zeit kommen, da sie sich dafür rächen wird. Nutze deine Zeit. Lerne mit der Erdmagie umzugehen und sie zu nutzen. Du wirst sie benötigen auf deiner Reise.“
„Erdmagie? Reise? Wovon sprecht ihr, heilige Frau?“ Unverständnis und Zweifel lagen in Rhynais Stimme. „Hört endlich auf in Rätseln zu sprechen und sagt mir, was ihr von mir wollt.“
Silver Cloud hob ihren Kopf und verdrehte die Augen. Die roten Steine an ihrem Drachenamulett funkelten in der Dunkelheit, als ob sie ein Eigenleben hätten.
„Meister, ihr hattet Recht, als ihr mich vor der Ungeduld der Jugend gewarnt habt. Aber ihr habt mich nicht davor gewarnt, welche Anziehungskraft die Auserwählte auf andere Menschen haben wird. Wie soll ich nun unvoreingenommen deine Aufgabe erfüllen?“
Es schien, als ob die alte Schamanin tief in sich hinein horchte, um eine Antwort auf ihre Frage zu erhalten. Geduldig wartete Rhynai auf Silver Clouds Antwort. Doch die Stimme die schließlich zu ihr sprach war nicht die der Schamanin. Und sie erklang auch nicht in ihren Ohren. Die Worte bildeten sich direkt in ihrem Kopf. Sie verkörperten eine Macht, die sie sich bisher noch nicht hatte vorstellen können. Die Worte eines Wesens, das genau so fremdartig auf der Erde war, wie sie selbst.
‚Ja, kleine Elfe, dein Instinkt führt dich in die richtige Richtung. Ich, Feuerauge, bin der goldene Drache, Herr über alle Drachen. Und ich möchte, dass du meiner Dienerin, den nötigen Respekt bezeugst und ihr zuhörst. Unser aller Zukunft – deine, die der Menschen und die der Erde und ihrer Diener, ist in Gefahr. Selbst wir Drachen können dieser Gefahr nichts entgegensetzen. Unsere Kraft ist nicht stark genug. Ich, Feuerauge, bitte dich, hilf uns.“
Verwirrt schüttelte die blaue Elfe ihren Kopf. Was waren das für seltsame Gedanken in ihrem Kopf? Wo kamen sie her? Hatte hier wirklich jemand, ein anderes Wesen, ein Drache, zu ihr gesprochen? Wie war so etwas möglich? Doch im selben Augenblick sah sie wieder die blau leuchtende Sphäre vor sich, die ihren Arm verwandelt hatte. Und langsam begann sie zu verstehen, zu akzeptieren
Da war wirklich mehr auf der Erde, als sie es sich bisher hatte vorstellen können. Da war die alte Schamanin Silver Cloud, eine Widerkehrende die scheinbar seit Jahrhunderten auf sie gewartet hatte, da war etwas, das behauptete der Goldene Drache Feuerauge zu sein und da waren die seltsamen Fähigkeiten, die sie selbst entwickelt hatte. Irgendetwas ging hier vor und sie sollte eine gewichtige Rolle spielen.
„Also gut, Silver Cloud, was wollt ihr und euer Meister von mir?“
„Ihr werdet hungrig sein, kleine Elfe. Wenn ihr gegessen habt, werde ich euch alles Nötige erklären.“ Mit diesen Worten erschien eine hölzerne Schale mit Früchten vor der erstaunten Elfe. „Greift ruhig zu. Was ihr seht ist keine Illusion. Und ihr werdet schon bald verstehen, auch eure Kräfte derart einzusetzen….Wenn ihr es akzeptiert und wollt.“
„Nun,“ begann Rhynai, nachdem sie gesättigt war, „erklärt ihr mir nun, was ihr von mir erwartet? Was ist an mir so besonderes, dass ihr Jahrhunderte gerade auf mich gewartet habt?“
„Lasst mich mit meiner eigenen Vergangenheit und mit der Vergangenheit der Menschheit von heute beginnen. Es war eine Zeit, in der die Menschheit die Kräfte der Natur vollständig besiegt und vergessen hatte. Es zählte nur noch das, was die sogenannten Wissenschaftler beweisen konnten. Die Tore zwischen den Welten wurden verschlossen. Weder Magier noch Drachen konnten diese Tore wieder öffnen. Und so gerieten sie in Vergessenheit. Nur wenige magische Wesen verstanden es auf der Erde zu überleben. Dazu gehörten zum Beispiel die Elfen, dein Volk, das sich nach Island zurückzog und in Steinen verbarg. Aber auch einige Drachen und Trolle verstanden es sich tief in den Bergen zu verstecken und in jahrhunderte währendem Schlaf darauf zu warten, bis Mutter Erde sie wieder brauchte.
Die Menschheit aber hatte sich einem Technikwahn verschrieben, der unsere Mutter zu vernichten drohte. Warnzeichen wurden übersehen oder gar ignoriert. Es dauerte lange, bis man begann etwas zu unternehmen. Aber das forderte Einbußen gerade von den reichen Gesellschaften auf der Erde. Und die war man nicht bereit zu gewähren.
Unsere Mutter versuchte es im Guten. Es begann damit, dass ihr Regen die Wälder zerstörte. Aber nichts geschah. Sie veränderte ihre Atmosphäre, schuf Löcher um die Strahlung der Sonne ungefiltert eindringen zu lassen. Nur einige wenige besorgte verlangten, dass etwas geschehen müsse. Sie veränderte den Fluss des großen Stroms in den Meeren und sorgte dafür, dass die Eiswüsten an den Polen schmolzen, doch noch immer hörten die Menschen nicht auf den Ruf von Mutter Erde.
Mittlerweile hatten sie doch schon die benachbarten Gestirne besiedelt, waren auf dem Mond, dem Mars und auf den Jupitermonden heimisch. Mit ihrer Technik versuchten sie sich die Planeten untertan zu machen. Doch mit der Strafe des Großen Geistes hatten sie nicht gerechnet. Den Feuerball, den er ihnen von den Sternen schickte, entdeckten sie viel zu spät. Und als er im Zentrum der Nation einschlug, deren Frevel gegen die Erde am größten war, wurde die alte Welt vernichtet und eine neue entstand.
Doch die neue Welt war eine grausame Welt, eine veränderte Welt. Viele Jahre nach der Katastrophe, als die Überreste der Menschheit glaubten, die Erde hätte sich wieder beruhigt, begannen aus der Tiefe bösartige Kreaturen über die Menschen herzufallen. Nur wenige setzten sich dieser Höllenbrut zur Wehr. Gleichzeitig aber öffneten sich wieder die Tore zu den alten Welten. Die Erde selbst schien um Hilfe zu rufen.
Wer den Ruf hörte, kam der Alten Mutter zu Hilfe. Wesen, die in den letzten Jahrhunderten, für Legenden gehalten wurden, kehrten auf die Erde zurück, um ihr im Kampf gegen das Böse von den Sternen beizustehen. Da waren auf einmal Einhörner, Phönixe, Greife, Drachen und andere wieder da. Ein jedes dieser Wesen versuchte mit der ihm eigenen Macht zu helfen. Aber leider erschienen auch jene Wesen wieder, die immer wieder versucht hatten die Erde für sich zu gewinnen oder zu zerstören. Und so kam es, dass das Kräfteverhältnis der magischen Wesen so ausgeglichen war, dass an einen Sieg über die Sternenmonster, ihr nennt sie Mutanten, nicht zu denken war.
Wir mussten erkennen, dass die alten Weisheiten immer noch gültig waren. Gut und Böse halten sich die Waage. Keines kann ohne das andere existieren. Nur hatten wir jetzt ein drittes Element auf der Erde, das von dem Gleichgewicht der magischen Kräfte profitierte. Und über die Jahrhunderte entwickelte es sich und wurde immer mächtiger. Und schon bald wird die Zeit kommen, da es die wenigen mutigen Menschen in Denver nicht mehr zurückhalten können. Und wenn wir ihm dann nichts entgegensetzen können, dann ist unsere Mutter Erde endgültig verloren.“
„Wie aber soll ausgerechnet ich euch helfen können?“ Rhynais Frage war so leise, dass die alte Schamanin sie fast nicht hörte.
„Das kann ich dir nicht sagen. Du wirst es dann wissen, wenn der richtige Moment gekommen ist. Bis dahin wirst du vielen anderen Wesen begegnen, wirst viel lernen und entdecken. Und du wirst lernen deine Kräfte einzusetzen.“
„Ihr sprecht schon wieder von meinen Kräften. Was meint ihr damit? Ich meine, dass ich eine Verbindung zu jenen magischen Welten habe, das habe ich mittlerweile verstanden. Aber was meint ihr mit Erdmagie? Was ist das für eine Kraft in mir?“
„Siehst du, kleine Elfe, aus deiner Frage geht schon hervor, dass du anfängst die Kraft in dir zu akzeptieren. Lerne sie zu nutzen, den ersten Schritt hast du schon getan. Ich kann dir dabei nicht helfen, denn meine Kraft ist eine andere. Deine Kraft aber ist die Kraft von Mutter Erde selbst. Du wirst Lehrer finden, wenn du die Stadt verlassen hast. Und du wirst verstehen, warum ich dir nicht helfen kann. Aber manchmal lassen sich die Elemente auch verbinden, manchmal entsteht aus Erde, Feuer und Äther eine Macht, die leicht einzusetzen aber sehr schwer zu bändigen ist.“
Verwirrt schüttelte Rhynai ihren Kopf. Sie sollte die Erde retten? Ausgerechnet sie, die froh sein musste, wenn sie den nächsten Morgen noch erlebte. Und wovor sollte sie die Erde überhaupt retten?
„Aber…“ begann sie zaghaft.
„Folge mir, Rhynai. Ich möchte dir etwas zeigen.“
In einer eleganten, fließenden Bewegung erhob sich die Schamanin und näherte sich dem Korridor. Erst jetzt bemerkte die Elfe, dass Silver Cloud gar keinen Kontakt mit dem Boden hatte und folgte ihr durch den langen Gang. An seinem Ende öffnete sich ein prachtvolles Portal in einen gewaltigen Saal. Als sie einen letzten Blick hinter sich warf stöhnte sie überrascht auf. Wieder hatte sich ihre Umgebung verändert, oder war sie schon wieder woanders. Ihr Blick fiel über den Hof einer gewaltigen Festung. Hohe, weiße Berggipfel türmten sich hinter weißen Mauern gen Himmel. Wo sie hergekommen waren, befand sich nun ein gewaltiges goldenes Tor, dessen Flügel sich lautlos schlossen. Beide Hälften waren mit einem gewaltigen Echsenkopf verziert.
„Wo sind wir hier?“ fragte sie, doch da war niemand mehr, den sie fragen konnte. Silver Cloud war verschwunden. Zögernd trat sie in den Saal, in dessen Zentrum ein gewaltiges Feuer brannte und den Raum in einem atemberaubenden goldenen Lichtschein schimmern lies. Aber bis auf das Feuer war der Saal leer.
Vorsichtig ging sie auf das Feuer zu und entdeckte schließlich den schwarzen Gegenstand, der in der Nähe der Flamme auf dem Boden lag. Neugier überkam sie und ein seltsames Gefühl von Geborgenheit. Hier würde ihr nichts passieren. Wenn die alte Schamanin sie hier her geführt hatte, dann musste dies die Festung von Feuerauge, dem Goldenen Drachen sein.
Ein tiefes, dröhnendes Lachen, erfüllte den Raum, aber es war ein friedliches und ein weises Lachen, doch niemand zeigte sich. Zögernd ging sie auf den Gegenstand zu und hielt kurz darauf ein in kostbares Leder gebundenes Buch in den Händen. Ein Abbild des hellen Sternenbandes, das sie nachts manchmal erkennen konnte umschloss zwei Hände, die gemeinsam eine kristallene Kugel hielten. In den verschnörkelten Buchstaben entzifferte sie die Worte ‚Atlantische Prophezeiungen’.
Als sie mit ihrer Hand vorsichtig über den Einband strich öffnete sich das Buch. Raschelnd blätterten die Seiten um, bis sie schließlich irgendwo in der Mitte des Buches fanden, was die Elfe sehen sollte. Auf der linken Seite sah man das verschwommene Bild von ein paar Helden, die sich des Angriffs einer gewaltigen Menge von Monstern erwehren mussten. Doch weder Helden noch Monster waren genau zu erkennen. Seltsam verschwommen waren die Umrisse des Bildes. Nur eine einzige Figur war detailgetreu dargestellt.
„Nein“, keuchte die Elfe. „Das kann doch nicht sein.“
„Aber es ist genau so, kleine Elfe.“ tönte die Stimme Feuerauges durch den Raum. „Dies ist die Prophezeiung, die uns den Kampf von einer kleinen Gruppe mutiger Wesen unter der Führung einer außergewöhnlichen Frau voraussagt, um die Erde zu retten. Bis vor kurzer Zeit, war dein Bild noch genau so verschwommen wie der Rest der Szene. Aber nun weiß ich, dass der letzte Kampf begonnen hat. Noch wissen wir nicht wer dir zur Seite steht, und auch nicht, was dich erwartet. Nur, dass der Kampf fast aussichtslos ist. Aber wäre er das wirklich, dann wäre er nicht im Buch der Prophezeiungen niedergeschrieben, sondern im Buch der Vergangenheit. Lies jetzt den Text der Weissagung, denn deshalb bist du hier.“
Zögernd senkte sie ihre Augen und begann leise zu lesen. Ihre Lippen zitterten und Schweiß lief ihr über ihre Stirn, als sie die Worte der Prophezeiung in sich aufnahm. Und dann schien das Buch in ihren Händen in einer lautlosen Explosion aus Licht zu vergehen. Aufschreiend erwachte sie und blickte sich schwer atmend um. Sie befand sich wieder in der Kammer mit dem Bett. Nur der flackernde Schein des Feuers im Nebenraum sorgte für ein wenig Licht.
Gedankenverloren starrte sie in den dunklen Raum. Waren die Festung Feuerauges und das Buch der Prophezeiungen nur ein Traum gewesen, oder war das Wirklichkeit. Wie sollte sie das jemals herausfinden? Und wenn am Ende doch alles nur ein Traum war, wann hatte er begonnen? Doch sicherlich noch bevor sie die leuchtende Sphäre beschworen hatte. Immer schneller jagten sich die Gedanken durch ihren Kopf. Und wenn es ein Traum war, war sie dann jetzt wach oder träumte sie noch?
‚Ich bin wach, und es war kein Traum.’ Mit all ihrer verbliebenen Kraft und Konzentration wiederholte sie diesen Satz ein paar Mal und setzte sich dann auf die Bettkante.
‚Und wenn es kein Traum war, dann habe ich die Fähigkeit meinen Hunger auf einfachste Weise zu stillen.’
Vor ihrem Auge entstand die tönerne Schale mit Obst, die sie im Nebenraum gesehen hatte. Sie konzentrierte sich auf ihren Wunsch und scheppernd fiel die Schale vor ihr auf den Boden zerbarst und verteilte das Obst im ganzen Raum.
Nachdem sie das Obst eingesammelt und auf ihr Bett gelegt hatte, begann sie ihren Hunger zu stillen Doch schon bald fielen ihre Augen auf die Scherben der Schale. Sie bedauerte ihr Missgeschick und versuchte sich die leere Schale so vorzustellen, wie sie einmal gewesen war. Langsam setzten sich die Scherben in Bewegung, und schon nach kurzer Zeit sah die Schale aus wie zuvor. Nachdenklich setzte sie sich wieder auf den Bettrand. Wo waren die Antworten auf die vielen Fragen? Wo war die alte Schamanin, die ihre Fragen beantworten konnte?
‚Silver Cloud, wo bist du? Komm zu mir! Ich habe noch so viele Fragen.’
„Du hast mich gerufen, Herrin?“ lautlos war die Schamanin erschienen.
„Ich bin nicht deine Herrin, heilige Frau.“
„Doch, das bist du, du bist die Auserwählte, die Partnerin des Drachen. Und deshalb bin ich als seine Dienerin auch die deine. Aber sprich schnell, denn meine Zeit in dieser Welt geht zu Ende, nun, da meine Aufgabe erfüllt ist.“
„Aber warum…“ begann Rhynai nur um sofort von der alten Schamanin unterbrochen zu werden.
„Keine Zeit für Fragen mehr. Hör mir gut zu. Auch wenn ich diese Welt bald verlasse, werde ich dir immer zur Seite stehen. Du wirst spüren wann und wo du Kontakt mit mir aufnehmen kannst. Und wenn es in meiner Macht steht werde ich dir helfen.“
Ihr Blick fiel auf die Tonschale.
„Du hast deine Kräfte also akzeptiert. Nun musst du lernen sie zu beherrschen. Das ist nicht leicht. Irre geleitete oder außer Kontrolle geratene Magie kann großen Schaden anrichten. Schaden, der in der Regel nicht mehr wieder gut zu machen ist. Setze deine Kraft also mit Bedacht ein. Und noch etwas. Magie ist zwar eine mächtige Kraft, aber wie jede Kraft gilt auch hier der Grundsatz, dass nichts aus nichts geschaffen werden kann. Die Magie ist eine Kraft der Veränderung und der Bewegung. Was du hier tust, wirkt sich irgendwo anders aus. Wie die Obstschale, die plötzlich aus dem Nebenraum verschwunden ist.
Und trotzdem ist die Magie eine Macht, der sich nur wenige widersetzen können. Gehe vorsichtig damit um, denn sie kann nicht nur deine Feinde vernichten, sondern auch dich wenn du nicht acht gibst.“
Umständlich kramte sie in ihrem Kleid nach etwas und hielt es schließlich der Elfe hin.
„Nimm diesen Drachendolch. Er ist ein Geschenk meines Herrn an dich. Der Griff ist aus dem Horn eines Drachen geschnitzt und seine Klinge ist nicht von dieser Welt. Sie wird nie brechen und sie wird alles schneiden, was du für nötig hältst. Außerdem kannst du mit dem Dolch Kontakt zu meinem Herrn aufnehmen. Doch auch wenn du tief in seiner Gunst stehst, solltest du das nur in einer wirklich ausweglosen Situation tun.
Und nun, kleine Elfe, wirst du dich ausruhen. Und dann musst du die Stadt verlassen. Du kennst dein Ziel und du wirst auf deiner Reise die Gefährten finden, die die Prophezeiung vorhersagt. Mach dich auf den Weg und bereite dem Chaos ein Ende. Die Kraft der Erde ist mit dir, mein Kind…“
Während ihrer letzten Worte war die Figur der alten Frau immer blasser und durchscheinender geworden, bis sie schließlich ganz verschwunden war. Bedrückt blickte Rhynai auf die Stelle, wo vor wenigen Sekunden noch Silver Cloud gestanden war. Nachdenklich senkte sie den Blick auf den Dolch, aber sie nahm ihn nicht war. Statt Fragen zu beantworten waren noch mehr aufgetaucht. Aber sie wusste, dass sich diese Fragen nicht von allein beantworten ließen.
Entschlossen schob sie den Doch unter ihren Gürtel und ging zur Tür. Draußen begann es hell zu werden, doch von der wütenden Menge war keine Spur zu sehen. Sie brauchte eine Weile um sich zu orientieren, doch dann erblickte sie am unteren Ende der Strasse ein bekanntes Gebäude. Der schnellste Weg um die Stadt zu verlassen führte sie an diesem Gebäude vorbei. Es waren nur noch ein paar hundert Meter bis zum Stadtrand doch dann würde sie eine weite Strecke über offene Wiesen zurücklegen müssen. Illusionszauber hin oder her, jeder, der sie dort draußen sah, würde misstrauisch werden. Doch sie sah keine andere Möglichkeit.
Noch einmal betrat sie die ihr mittlerweile vertraut gewordene Wohnstätte der Schamanin. Langsam ließ sie sich auf dem Teppich vor dem Bett in eine sitzende Position nieder und schloss die Augen. Alle Gedanken verbannend konzentrierte sie sich auf die Kraft in ihr, die Erdmagie, wie es Silver Cloud genannt hatte. Langsam erschien vor ihrem inneren Auge wieder das blaue Leuchten, doch diesmal hielt sie die Augen geschlossen und konzentrierte sich weiter auf ihr Vorhaben und dehnte die blaue Sphäre so weit aus, bis sie selbst völlig von ihr umschlossen war. Mit einer letzten Willensanstrengung legte sich die Sphäre wie eine zweite Haut um die Elfe, bevor sie erlosch. Schwer atmend öffnete Rhynai ihre Augen und schaute an sich herunter.
Es hatte funktioniert. Sie sah aus wie ein ganz normaler Mensch. Niemand, auß0er vielleicht ein anderer Magiekundiger, würde die Illusion durchschauen können. Entschlossen erhob sie sich und trat auf die Strasse hinaus. Inzwischen war es draußen hell geworden, aber noch immer war niemand auf der Strasse zu sehen. Die Elfe sah das als gutes Zeichen und wandte sich dem näheren Ende der Strasse zu. Sie wollte so schnell wie möglich die Wälder jenseits des Flusses erreichen. Mit etwas Glück würde sie ihren Vater treffen, bevor er von seinem Jagdausflug wieder in die Stadt zurückkehrte.
Wie so oft in den letzten Jahren wunderte sie sich, wie gut erhalten dieser Teil der Stadt noch war. Der größte Teil der kleinen Stadt bestand aus mehr oder weniger gut erhaltenen Ruinen, doch hier im Norden waren die Gebäude noch fast vollständig erhalten. Das bedeutete allerdings auch, dass sich hier die meisten Einwohner befanden, und dass die Gefahr, von ihren Verfolgern entdeckt zu werden wesentlich größer war.
Aufmerksam beobachtete sie Hauseingänge und Fenster. Mehrmals vermeinte sie hinter den teilweise geborstenen Scheiben eine Bewegung zu erkennen. Sie wurde beobachtet. Fast körperlich spürte sie die Blicke in ihrem Rücken, doch hütete sie sich davor, sich umzudrehen. Hoch aufgerichtet und selbstsicher ging sie die verlassene Strasse hinunter. Der Geruch brennenden Holzes stieg ihr in die Nase und lies sie innehalten. Leise Stimmen unterhielten sich, doch es war noch nichts zu verstehen. Aber sie wusste was das bedeutete. Dort vorn, keine hundert Meter vor ihr, war ein großer Platz mit einer kleinen, ungepflegten Parkanlage. Von dort konnte jeder überwacht werden, der die Stadt verlassen wollte. Dort würden ihre Verfolger auf sie warten.
Die Elfe wechselte auf die andere Straßenseite. Vielleicht würden die Arkaden der Stadthalle sie den Blicken ihrer Verfolger entziehen. Zögernd erst, dann aber sicherer werdend näherte sie sich dem Platz. Ungesehen erreichte sie den Bogengang. Tief durchatmend ging sie weiter. Nur aus den Augenwinkeln beobachtete sie die drei Lagerfeuer in der Mitte des Platzes. Ungefähr 30 Männer und Frauen hatten sich hier versammelt um sie zu jagen. Unter ihnen waren auch ihre ehemaligen Freunde Thomy und Geena.
Nur noch wenige Meter, dann könnte sie in eine Seitengasse abbiegen und wäre aus dem Blickfeld ihrer Verfolger verschwunden. Und dann wären es nur noch wenige hundert Meter, bis sie in Sicherheit wäre. Ein letztes Mal blieb sie stehen und blickte zu ihren Verfolgern hinüber. Noch immer hatten diese sie nicht bemerkt.
Doch plötzlich spürte sie eine schwere Hand auf ihrer Schulter. Erschrocken fuhr sie herum und schaute in das misstrauische Gesicht von Ned Stone.
„Was macht eine kleine Herumtreiberin so früh am Morgen auf der Strasse?“
„Lass mich los, sonst…“
„Was sonst, rufst du sonst noch deinem großen Bruder? Was machst du hier? Hast du hier sonst noch jemanden gesehen? Eine blaue Mutantin?“
Rhynai atmete auf, der Bürgermeister hatte sie nicht erkannt.
„Von was reden sie? Die Mutanten sind doch bloß Erzählungen um unsere Kinder zu erschrecken.“
Zornig griff Stone nach ihrem Arm.
„Halt mich nicht für dumm…“ ungläubig verstummte er. Unter seiner Hand schimmerte Rhynais Arm blau.
„Du? Nicht nur Mutant, sondern auch Hexe? Na warte…“ Haßerfüllt schaute er die Elfe an. Und dann rief er über den Platz.
„Hey Leute, kommt her, ich hab sie!“
Rhynai musste sich nicht umdrehen um zu sehen, dass die anderen aufgesprungen waren und in wenigen Sekunden hier sein würden. Mit einer schnellen, fast unsichtbaren Bewegung stach sie mit dem Drachendolch nach dem Arm, der sie festhielt. Laut aufschreiend lies der getroffene Bürgermeister sie los.
„Sie wollte mich umbringen, die verdammte Hexe wollte mich töten. Ergreift sie, tötet sie…“
Die letzten Worte waren für die Elfe nicht mehr zu hören. Atemlos hetzte sie durch die schmale Gasse zur nächsten Strasse. Diese Strasse würde sie zur Brücke über den Fluss führen und wenn sie erst die Wälder jenseits erreichen würde, dann würde sie ihre Verfolger schon abzuschütteln wissen.
Doch als sie um die Ecke bog, stockte ihr der Atem. Keine hundert Schritte vor ihr war die Brücke, doch waren dort hölzerne Palisaden errichtet, die den Durchgang blockierten. Hastig blickte sie sich nach einem Ausweg um, es blieb nur ein einziger. Fluss abwärts am Ufer entlang. Doch war der Uferbereich stark bewachsen und das Unterholz bot mannigfaltige Möglichkeiten für einen Hinterhalt. Aber sie hatte keine Wahl. Zudem wusste sie einige hundert Schritt flussabwärts eine seichte Stelle. Wenn sie diese erreichen könnte, dann wäre es vielleicht doch noch möglich den Fluss zu überqueren.
Sie achtete nicht auf das Geschrei hinter ihr, als sie den schmalen Pfad am Ufer entlang rannte und im dichten Unterholz verschwand. Sie achtete auch nicht auf die Zweige, die ihr ins Gesicht schlugen als sie den Pfad verlies um im Ufergestrüpp noch schlechter zu finden sein.
Aber das Geschrei hinter ihr wurde leiser als die Meute ihr Opfer nicht mehr sehen konnte. Doch noch war die Gefahr nicht vorüber. Sicherlich würde jemand auf die Idee kommen die Furt zu sichern. Und wenn sie oben auf der Strasse blieben, dann könnten sie vielleicht sogar vor ihr dort sein. Sollte sie vielleicht hier im Unterholz abwarten was der Mob machen würde? Aber was wenn sie sich aufteilten? Dann würde sie ihre letzte Chance zu entkommen aus der Hand geben. Nein, sie musste weiter, musste die Furt erreichen, bevor ihre Verfolger sie erreichten. Nur so hatte sie noch eine Chance zu entkommen.
Immer weiter rannte die Elfe durch das Unterholz, sprang über Wurzeln und Baumstämme bis es schließlich wieder deutlich heller vor ihr wurde. Vor ihr lag die Furt. Heftig atmend lehnte sie sich an eine alte Birke um ein paar Sekunden zu verschnaufen.
Über ihr raschelten die Blätter des alten Baumes in der morgendlichen Brise. Vereinzelte Sonnenstrahlen brachen durch das Blätterdach, Vögel zwitscherten in den Ästen. Es war fast wie früher, als sie diesen Ort aufgesucht hatte, sich zu dem Baum gesetzt hatte. Damals hatte sie das Gefühl gehabt, der Baum würde seine Ruhe und seine Kraft auf sie übertragen. Jetzt war sie sich fast sicher, dass es einen derartigen Austausch zwischen den Geschöpfen der Erde, seien es Pflanzen, Tiere, Menschen und andere Wesen, tatsächlich gab. Aber das konnte ihr jetzt nicht weiterhelfen.
Vorsichtig näherte sie sich der Furt, immer damit rechnend jeden Moment entdeckt oder gar gefangen zu werden. Aber es schien alles ruhig. Trotzdem wollte dieses Gefühl von Gefahr nicht weichen. Und als sie auf den Pfad hinaustrat, wusste sie auch warum. Eine Hand schloß sich um ihren Knöchel und brachte sie zu Fall.
„Ich hab sie,“ hörte sie Thomys Stimme hinter ihr. Im gleichen Moment tauchten aus dem umgebenden Unterholz etwa zwei Dutzend ihrer Verfolger auf. Sie waren trotz ihres Jagdeifers, trotz ihrer Wut, schlau genug gewesen sich zu verstecken und auf die Elfe zu warten.
Thomy hatte sie wieder losgelassen, aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Sie war gefangen, immer mehr Menschen aus der Stadt tauchten auf und bildeten mehrere dichte Kreise um sie herum. Stolz und trotzig stand sie auf und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Sie wusste, dass sie verloren hatte.
Gefasst schaute sie ihren Verfolgern ins Gesicht. Was sollte sie sagen? Es war egal, es würde nichts nutzen. Aus den Augen der Menschen blitzte ihr der pure Hass entgegen. Mit einer fast unsichtbaren, kreisenden Handbewegung hob Rhynai die Illusion auf.
„Wenn ich schon sterben muss, dann will ich als die sterben, die ich bin. Als Rhynai, die Elfe. Und nicht als jemand, der sich seiner Herkunft schämt. Ich weiß, dass ich anders bin als ihr, aber ich gehöre nicht zu diesen Mutanten, die die Menschen jagen und töten. Bis vor kurzem habe ich zu euch gehört, und hätte alles für euch gegeben. Wenn ihr meint, ihr müsst mich töten, dann werdet ihr mit diesem Mord leben müssen. Und eines Tages werdet ihr erkennen, was für einen Fehler ihr begangen habt. Aber dann wird es zu spät sein. Dann kann ich euch nicht mehr helfen.“
Niemand schien ihr zuzuhören außer Geena. Offensichtlich erinnerte sie sich langsam wieder an ihre tiefe Freundschaft. Aber Rhynai sah auch die Angst in Geenas Augen.
„Tötet sie endlich,“ keifte hinter ihr eine Stimme und Rhynai drehte sich um. Mehrere Leute wurden heftig zur Seite gestoßen, dann sah sie die Alte, die mit einem rostigen Messer auf sie zustürmte. Auch hinter ihr begann es unruhig zu werden. Sie wusste, jetzt würde sie sterben und blickte der alten Frau tief in die hasserfüllten Augen. Noch zwei Schritte, die Hand mit dem Messer hocherhoben trennten sie, da hörte sie ein seltsames Zischen. Im selben Moment spürte sie einen harten Schlag auf dem Hinterkopf. Das letzte was sie sah, war ein schwarzer, gefiederter Bolzen, der aus der Stirn der Alten ragte. Dann wurde es schwarz um sie.
Aber jetzt wurde sie gejagt. Sie wurde gejagt, weil etwas Unaussprechliches passiert war. Droben im Norden hatte man die Leichen mehrerer kleiner Mädchen gefunden. Sie waren fürchterlich zugerichtet und hatten ausgesehen, als wären sie von innen heraus aufgebrochen worden. Rhynai war sofort klar, dass es jetzt vorbei war mit ihrem ruhigen Leben. Die Mutanten, von denen sie bisher nur von Reisenden gehört hatte, hatten sie schließlich gefunden. Und auf einmal war alles anders.
Als die drei Mädchen begraben wurden, hielt sich die Elfe im Hintergrund. Sie wusste zwar nicht warum, aber sie hatte das Gefühl, als hätte sich ihre Welt schlagartig verändert. Sie wartete ab, bis die Trauergäste den Friedhof verlassen hatten und kniete sich dann vor das Grab der Kinder.
Sie war bei ihnen, fühlte fast körperlich ihre Angst und ihre Schmerzen, und versprach ihnen alles zu tun, dass die Welt wieder besser wurde. Einen Weg zu finden, die Mutanten zu besiegen.
Plötzlich hörte sie einen Schrei hinter sich, einen durchdringenden, keifenden Schrei so voller Hass, dass ihr regelrecht das Blut in den Adern gefror. Und noch etwas erschütterte die Elfe, der Schrei kam von Geena, ihrer Freundin.
„Da ist sie. Seht ihr, sie will die Leichen ausgraben und für ihre Brut missbrauchen. Tötet sie, tötet sie, tötet sie….“
Schockiert blieb sie stehen. Was passierte hier? Was wollten die Leute von ihr? Was war denn nur in Geena gefahren?
Doch als sie näher kamen, sah sie den Hass in ihren Gesichtern, und plötzlich begriff sie. Sie war anders als sie. Sie war kein Mensch. Mit ihrer blauen Haut und ihren Flughäuten war sie für die Menschen ihres Heimatortes zu einem Monster geworden. Sie gehörte plötzlich zu den Mutanten und musste vernichtet werden. Regungslos vor Schreck wartete sie was passieren würde. Sie wusste nicht was sie tun sollte. Denn das da vor ihr, waren ihre Freunde. Ihnen hatte sie vertraut. Und bis gestern hätten sie sie vor jeder Gefahr beschützt.
Ein stechender, reißender Schmerz in ihrer linken Flughaut riss sie in die Wirklichkeit zurück. Ein paar Schritte weiter lag das große Messer, das ihre Flughaut zerschnitten hat. Im Umdrehen sah sie, wie Thomy ausholte und eine kleine Handaxt nach ihr warf. Sie konnte gerade noch ausweichen und dann lief sie um mein Leben.
Sie hörte überhaupt nichts mehr, weder das Geschrei des wilden Mobs der sie nun schon eine Ewigkeit wie es ihr schien durch die Strassen jagte, noch hörte sie ihren eigenen Atem. Da war nichts mehr, kein Geräusch. Vollkommene Stille.
War das das Zeichen für Sie aufzuhören zu rennen, aufzuhören um ihr Leben zu laufen? Sie wusste nichts mehr - ihr Kopf war leer. Warum musste Sie hier überhaupt um ihr Leben laufen? Wussten überhaupt ihre Verfolger noch, warum sie hinter ihr her waren?
Mit einem Mal erschien ihr alles so unlogisch - noch vor einer Weile konnte sie es ihnen irgendwie nach empfinden. Als sie den Hass in den in den Augen ihrer Freunde und Bekannten sah, dachte sie zuerst: "Mein Gott, was passiert hier eigentlich?".
Doch dann wusste sie es. Diese Menschen sahen sie plötzlich mit ganz anderen Augen, als all die Jahre zuvor in denen sie sich kannten, gut kannten, mochten, in all den Jahren als sie sich so viel bedeutet hatten.
Sie sahen in ihr nicht mehr die Freundin, die Jahre lang an ihrer Seite stand, die mit ihnen Freud und Leid geteilt hatte, die Bekannte, die seit ihrer Geburt zu ihrer Gemeinschaft gehörte. Sie sahen nicht mehr das vollwertige Mitglied ihrer Gesellschaft.
Sie sahen nur noch ein Monster, einen der Mutanten wie es ihnen schien.
Für sie war Sie nur noch eine dieser Bestien, die ihre Frauen entführten und sich vom Blut ihrer Kinder ernährten. Alles was vorher von Bedeutung gewesen ist, war vergessen.
Sie hatte die Angst dieser Menschen verstanden, sie wusste wie sehr sie sich selbst mit ihnen vor der Bedrohung durch die Mutanten gefürchtet hatte. Sie konnte diese Angst nur zu gut nachvollziehen, weil Sie sie so stark in der letzten Zeit gespürt hatte. Aber diesen Hass und diese rasende Wut mit der Sie jetzt gejagt wurde die verstand Sie nicht.
Wie konnten sie nur? Sie mussten doch genau wissen wenn sie hier vor ihren Stöcken und Macheten herjagten.
Wollten sie Sie jetzt wirklich lynchen, war das alles noch real?
Immer näher kamen sie. Immer schwächer wurde das blaue Wesen das vor ihnen nur noch weiter zu stolpern schien. Immer schwächer und langsamer. Keine Kraft mehr.
Als sie an einer schmalen Gasse vorbeikam, nahm sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr, doch sie hatte keine Kraft mehr zum reagieren. Wie ein Schraubstock umklammerte plötzlich eine knorrige Hand ihren linken Arm und zog sie in die Gasse. Erschrocken schrie sie auf. Eine zweite Hand presste sich auf ihren Mund.
"Kein Laut, sonst bist du verloren!" zischte ihr eine leise Stimme ins Ohr.
Draußen auf der Strasse hörte sie schon die Schritte ihrer Verfolger. Mit panischen Augen beobachtete sie den Eingang in die Gasse. Sie würde nicht mehr entkommen können. Zu nah war die Meute. Die ersten Verfolger rannten an der Gasse vorbei ohne sie eines Blickes zu würdigen, doch dann, als schon fast alle weitergelaufen waren blieb eine Person stehen und schaute in die Gasse.
Es war, als ob Geena ihr direkt in die Augen sah, ohne sie aber wirklich sehen zu können. Panik kam in ihr auf und sie spürte den beruhigenden Griff an ihrer Schulter. Hier war eine Kraft am Werk, die sie nicht beschreiben konnte. Obwohl Geena keine fünf Meter von ihr entfernt war, schien sie die Elfe nicht zu sehen. Kopfschüttelnd lief ihre frühere Freundin dem Mob hinterher.
Verwundert blickte Rhynai ihr nach. Was war da eben passiert? Offensichtlich hatte Geena die Elfe nicht sehen können. Aber wie war so etwas möglich. Langsam drehte sie sich um, damit sie sehen konnte, wer sie gerettet hatte. Doch noch bevor sie ihre Bewegung vollendet hatte, begann die Luft um sie herum zu flimmern. Die Häuser der Gasse schienen zu verschwimmen und einer neuen Umgebung Platz zu machen. Verwundert schloss sie die Augen und spürte, wie sich alles um sie zu drehen schien. Doch dieses Schwindelgefühl war genau so schnell vergangen, wie es gekommen war. Vorsichtig öffnete sie die Augen wieder und was sie sah, lies sie an ihrem Verstand zweifeln.
„Was…, wo bin…, wie…“ stammelte sie. Die dunkle Gasse war verschwunden. Stattdessen befand sie sich in einem düsteren, spärlich möblierten Zimmer, das nur durch das flackernde Feuer im Kamin erleuchtet wurde. Vor dem einzigen Fenster hing ein dunkles Tuch mit einem langen Riss in der rechten Hälfte.
Immer noch spürte sie die fremde Hand auf ihrer Schulter. Zögernd griff sie danach und drehte sich zu der Person um, die ihr eben das Leben gerettet hatte und blickte direkt in zwei unergründlich tiefe Augen.
„Kleine Elfe, endlich habe ich dich gefunden. So lange habe ich nach dir gesucht. Und immer wenn ich die Hoffnung aufgeben wollte dich zu finden, dann kam mein Herr und sagte zu mir: ‚Gehe wieder unter die Menschen, wandle auf der Erde. Eines Tages wirst du sie finden. Und du wirst sie daran erkennen, dass sie anders ist als die meisten Menschen.’ Und ich begab mich wieder auf die Erde und setzte meine Suche fort. Fünf Menschenleben lang habe ich dich gesucht. Und jetzt hat meine Suche ein Ende. Jetzt finde ich endlich meine Ruhe.“
Mit diesen Worten kniete sich die Sprecherin vor der Elfe nieder und beugte ihren Kopf.
„Du bist dazu ausersehen, die Erde zu retten. Aber bevor ich dir deine Geschichte erzähle, ruhst du dich am Besten etwas aus. Ein Bett findest du im Nebenraum. Ich werde für dich da sein, wenn du wieder erwachst.“
Mit diesen Worten begann die alte Frau plötzlich zu flimmern und verschwamm. Und dann war Rhynai allein.
Langsam kam die Elfe wieder zu etwas mehr Luft. Sie hoffte, in diesem Versteck würden ihre Verfolger sie nicht so schnell finden. Aber sie konnte nicht ewig hier bleiben.
"Ich muss Vater finden und dann mit ihm die Stadt verlassen, die Heimat verlassen. Aber kann man zu einem Ort noch Heimat sagen, an dem man gerade beinahe umgebracht worden wäre.
Was war nur in diese Menschen gefahren?" dachte sie: "Kommt hier wieder die uralte Angst des Menschen vor Veränderungen durch? Die Angst vor allem was anders und unerklärlich ist?
Aber manchmal habe ich auch Angst vor der Kraft, die in mir schlummert. Ich kann sie spüren, sie vibriert in mir, sie will heraus. Bisher konnte ich das verhindern.
Obwohl, eigentlich war ich doch schon andersartig genug, warum sollte ich mich also dagegen wehren. Es war doch etwas Gutes, was da in mir existierte. Soviel zumindest habe ich schon herausgefunden.
Und doch, auch in mir war diese Abneigung gegen Veränderung? Aber vielleicht kann es mir helfen zu entkommen? Dann müsste ich aber doch schon viel mehr wissen, keine Zeit um lange zu lernen. Aber einen Versuch wird es doch wert sein.“
Konzentriert schloss sie die Augen, verdrängte alle Gedanken und versuchte die Kraft in sich bewusst zu spüren. Da, ein kleiner Lichtpunkt. Vorsichtig lies sie ihn größer werden, streckte die Hände aus und öffnete die Augen. Und da war das Licht. Eine kleine durchsichtig blaue Lichtkugel schwebte ein paar Zentimeter über ihren Händen. Vorsichtig versuchte sie damit zu spielen. Die Kugel drehte sich und änderte ihre Farben. Langsam griff Rhynai mit einer Hand danach. Wie eine zweite Haut legte sich die irisierende Sphäre um ihren blauen Arm und veränderte ihn. Er sah aus wie der Arm eines ganz normalen jungen Menschenmädchens. Vor Erstaunen verlor sie die Konzentration und die Sphäre verschwand. Der Arm war wieder normal. Schwer atmend dachte sie:
"Das ist meine Chance, die Stadt zu verlassen. Aber es ist so anstrengend. Ich darf mich unterwegs nicht ablenken oder aufhalten lassen, denn wenn ich die Illusion nicht halten kann, bin ich verloren."
Seufzend schaute sie sich in dem düsteren Raum um. Dem einzigen Fenster gegenüber befand sich ein schmaler Durchgang. Ein leichter Luftzug bewegte den schwarzen Vorhang der davor hing. Neben dem Fenster stand ein alter Schrank, dessen Türen kunstvoll mit magischen Symbolen verziert waren. Auf einem kleinen, hölzernen Regal standen ein paar alte Bücher und ein kupferner Wasserkrug. Und auf einem primitiven hölzernen Tisch mit zwei Stühlen, stand eine tönerne Schale mit ein paar Früchten.
Müde ging Rhynai auf den Durchgang zu. Helles Licht sickerte an den Rändern in den Raum. Zögernd streckte sie ihre Hand aus, schob das Hindernis zur Seite und schloss geblendet die Augen. Helles Tageslicht fiel durch zwei Fenster in den angrenzenden Raum.
Das versprochene Bett stand unter den beiden Fenstern auf der gegenüberliegenden Seite. Bis auf das Bett und einen bunten Teppich, der in der Mitte des Zimmers lag, war der Raum leer. Durch ein paar Ritzen in der Tür auf der rechten Seite fiel Tageslicht. Das war wohl die Eingangstür. Ein schmaler Korridor auf der linken Seite führte tiefer in das Haus hinein. Neugierig überlegte sie, was sie dort wohl finden würde. Doch dann fiel ihr Blick wieder auf das Bett. Nur ein paar Schritte durch den Raum und schon lag sie weich und warm. Innerhalb weniger Sekunden war sie fest eingeschlafen.
Wenige Meter weiter, hinter einer der Türen, zu denen der Korridor führte, stand die alte Frau vor einem weiteren Kaminfeuer. Schemenhaft waren zwei echsenartige Augen in den Flammen zu erkennen. Dann dröhnte eine mächtige Stimme durch den kleinen Raum.
„Ja, du hast Recht, Priesterin des Drachen. Die blaue Elfe ist die Auserwählte. Sie hat die Kraft in sich, mit der sie diese Welt retten kann. Aber es ist ein weiter und gefährlicher Weg bis dort hin. Und sie muss sehr viel lernen.“
„Warum machen wir es nicht so wie wir es bei mir gemacht haben?“ fragte die alte Schamanin.
„Weil wir keine fünf Menschenalter mehr Zeit haben. Rhynai muss auf ihrer Reise lernen. Und wenn sie am Ziel ankommt muss sie ihre Kräfte einsetzen können, oder aber es ist alles verloren. Dann wird ein dunkles Zeitalter über die Erde hereinbrechen. Aber sei sicher, dass sie mächtige Begleiter haben wird, die sie lehren und beschützen. Du weißt, uns liegt sehr viel an der Menschheit. Aber selbst wir können die Flut aus der Tiefe nicht aufhalten.“
Rhynai träumte. Aber es war etwas Unheimliches an ihrem Traum, etwas Unheimliches und realistisches. Sie wusste, dass sie träumte, und doch war es wie eine Begegnung im Wachzustand. Sie befand sich mitten in einem finsteren Wald. Das Feuer auf der kleinen Lichtung war herunter gebrannt, nur vereinzelt zischten glühende Holzreste im einsetzenden Regen. Schon lange hatte sich der Mond hinter den über den Himmel jagenden Wolken versteckt Und selbst die Tiere im Wald hatten sich vor dem Kommenden Unwetter zurückgezogen.
Wie gebannt horchte sie in die Finsternis, konnte aber nichts Außergewöhnliches hören. Also drehte sie sich um, und ging wieder zu ihrem Lager zurück. Eng wickelte sie sich in die schwere Decke, um sich vor dem ungemütlichen Wetter zu schützen. Langsam fielen ihr die Augen zu, als ein Blitz die Nacht zerriss. Und der Blitz enthüllte, was sie die ganze Zeit gespürt hatte. Auf der anderen Seite der Lichtung stand eine dunkle Gestalt, in einen schweren Umhang gekleidet und mit einer tief ins Gesicht gezogenen Kapuze. Stumm und regungslos beobachtete er die kleine Gruppe an der Feuerstelle. Doch als der nächste Blitz niederfuhr war die Gestalt wieder verschwunden.
Unruhig warf sich die Elfe auf dem schmalen Bett herum und schlug die Augen auf. Mittlerweile war es draußen dunkel geworden, sie musste also einige Stunden geschlafen haben. Anscheinend hatte sie das Beschwören der Sphäre und die Illusionsmagie stärker erschöpft, als sie gedacht hatte. Es würde nicht leicht werden, den Zauber auf der Flucht aufrecht zu erhalten.
Auf dem Teppich in der Mitte des Raumes saß die alte Frau und blickte sie nachdenklich an. Ihre langen, grauen Haare waren mit bunten Perlen und Ringen zu zwei ordentlichen Zöpfen gebunden. Das etwas abgetragene aber saubere Lederkleid war mit allerlei indianischen und magischen Symbolen verziert. Besonders auffallend war der silberne Anhänger, den sie um ihren Hals trug. Er stellte einen aufrecht an einem Pfahl sitzenden Drachen dar, der in seinen beiden Vorderpfoten je eine rote Kugel trug.
„Wer bist du?“ fragte sie die Alte und richtete sich auf. „Warum hilfst du mir?“
„Man nennt mich Silver Cloud“, war die Antwort der alten Schamanin, „Ich bin die heilige Frau der Cherokee und die Priesterin Feuerauges. Wenn du wirklich die bist, für die dich mein Meister hält, dann wirst du ihn schon bald kennen lernen. Wenn nicht…, obwohl, er ist überzeugt davon, dass du die Auserwählte bist.“
„Das ist jetzt das zweite Mal, dass du sagst, dass ich etwas Besonderes bin. Wer bist du, so etwas zu behaupten und wer soll ich sein, dass du mich als ‚Die Auserwählte’ bezeichnest?“ Die Unsicherheit und Furcht gegenüber der fremden Alten war verschwunden. Neugier machte sich bemerkbar. Rhynai spürte, dass die Frau ihr nichts Böses wollte.
„Ich sagte schon, mein Name ist Silver Cloud und ich wurde geboren in einer Zeit, an die sich heute nur noch wenige erinnern. Dennoch bin ich heute noch einigen bekannt. Vielleicht hast du ja einmal von der großen Seherin der Cherokee gehört. Heute ist es eine Sage, trotzdem ist es die wahre Vergangenheit deiner selbst. Viele Jahrhunderte habe ich auf dich gewartet, immer wieder wurde ich auf die Erde zurück geschickt von meinem Meister Feuerauge.“
„Du bist eine von den Wiederkehrenden?“, das Erstaunen in der Stimme der Elfe war unüberhörbar. „Ich dachte ihr seid nur eine Legende, ein Märchen, das Kindern erzählt wird. Und nun stehst du leibhaftig vor mir. Doch wenn ich mein Spiegelbild anschaue, und sehe, wie sehr ich mich von den Menschen unterscheide, und wie sehr ich den Geschöpfen ihrer Legenden gleiche, dann muss ich wohl glauben, was du sagst. Denn wenn Wesen, wie ich eines bin, wieder auf der Erde wandeln, warum sollen dann andere Sagen und Legenden falsch sein? Trotzdem weiß ich nicht, was an mir so besonderes sein soll, was das Interesse deines Meisters an mir geweckt haben soll. Wer ist Feuerauge?“
„Wer mein Meister ist, spielt im Moment keine Rolle. Er wird sich dir zu erkennen geben, wenn er es für nötig hält. Soviel nur sei dir gesagt, du stehst unter seinem besonderen Schutz. Aber erst, wenn es dir gelingt, deine Verfolger abzuschütteln und die Stadt zu verlassen kannst du ihm und dir selbst beweisen, dass du wahrhaftig die Auserwählte bist.“
„Ich bekomme also keine weitere Hilfe um die Stadt zu verlassen?“
„Die Kraft in dir wird deine Hilfe sein. Du bist auf dem richtigen Weg. Aber du musst noch lernen deine Fähigkeiten zu kontrollieren und gezielt einzusetzen. Es ist die allmächtige Kraft der Erde, die Magie, die dir zur Seite steht. Lerne sie weise zu nutzen, und sie wird dich nie verraten. Aber hüte dich davor sie gegen ihre wahre Natur zu wenden, ihre Kraft für Zwecke zu pervertieren, die ihrer selbst widersprechen. Denn es wird die Zeit kommen, da sie sich dafür rächen wird. Nutze deine Zeit. Lerne mit der Erdmagie umzugehen und sie zu nutzen. Du wirst sie benötigen auf deiner Reise.“
„Erdmagie? Reise? Wovon sprecht ihr, heilige Frau?“ Unverständnis und Zweifel lagen in Rhynais Stimme. „Hört endlich auf in Rätseln zu sprechen und sagt mir, was ihr von mir wollt.“
Silver Cloud hob ihren Kopf und verdrehte die Augen. Die roten Steine an ihrem Drachenamulett funkelten in der Dunkelheit, als ob sie ein Eigenleben hätten.
„Meister, ihr hattet Recht, als ihr mich vor der Ungeduld der Jugend gewarnt habt. Aber ihr habt mich nicht davor gewarnt, welche Anziehungskraft die Auserwählte auf andere Menschen haben wird. Wie soll ich nun unvoreingenommen deine Aufgabe erfüllen?“
Es schien, als ob die alte Schamanin tief in sich hinein horchte, um eine Antwort auf ihre Frage zu erhalten. Geduldig wartete Rhynai auf Silver Clouds Antwort. Doch die Stimme die schließlich zu ihr sprach war nicht die der Schamanin. Und sie erklang auch nicht in ihren Ohren. Die Worte bildeten sich direkt in ihrem Kopf. Sie verkörperten eine Macht, die sie sich bisher noch nicht hatte vorstellen können. Die Worte eines Wesens, das genau so fremdartig auf der Erde war, wie sie selbst.
‚Ja, kleine Elfe, dein Instinkt führt dich in die richtige Richtung. Ich, Feuerauge, bin der goldene Drache, Herr über alle Drachen. Und ich möchte, dass du meiner Dienerin, den nötigen Respekt bezeugst und ihr zuhörst. Unser aller Zukunft – deine, die der Menschen und die der Erde und ihrer Diener, ist in Gefahr. Selbst wir Drachen können dieser Gefahr nichts entgegensetzen. Unsere Kraft ist nicht stark genug. Ich, Feuerauge, bitte dich, hilf uns.“
Verwirrt schüttelte die blaue Elfe ihren Kopf. Was waren das für seltsame Gedanken in ihrem Kopf? Wo kamen sie her? Hatte hier wirklich jemand, ein anderes Wesen, ein Drache, zu ihr gesprochen? Wie war so etwas möglich? Doch im selben Augenblick sah sie wieder die blau leuchtende Sphäre vor sich, die ihren Arm verwandelt hatte. Und langsam begann sie zu verstehen, zu akzeptieren
Da war wirklich mehr auf der Erde, als sie es sich bisher hatte vorstellen können. Da war die alte Schamanin Silver Cloud, eine Widerkehrende die scheinbar seit Jahrhunderten auf sie gewartet hatte, da war etwas, das behauptete der Goldene Drache Feuerauge zu sein und da waren die seltsamen Fähigkeiten, die sie selbst entwickelt hatte. Irgendetwas ging hier vor und sie sollte eine gewichtige Rolle spielen.
„Also gut, Silver Cloud, was wollt ihr und euer Meister von mir?“
„Ihr werdet hungrig sein, kleine Elfe. Wenn ihr gegessen habt, werde ich euch alles Nötige erklären.“ Mit diesen Worten erschien eine hölzerne Schale mit Früchten vor der erstaunten Elfe. „Greift ruhig zu. Was ihr seht ist keine Illusion. Und ihr werdet schon bald verstehen, auch eure Kräfte derart einzusetzen….Wenn ihr es akzeptiert und wollt.“
„Nun,“ begann Rhynai, nachdem sie gesättigt war, „erklärt ihr mir nun, was ihr von mir erwartet? Was ist an mir so besonderes, dass ihr Jahrhunderte gerade auf mich gewartet habt?“
„Lasst mich mit meiner eigenen Vergangenheit und mit der Vergangenheit der Menschheit von heute beginnen. Es war eine Zeit, in der die Menschheit die Kräfte der Natur vollständig besiegt und vergessen hatte. Es zählte nur noch das, was die sogenannten Wissenschaftler beweisen konnten. Die Tore zwischen den Welten wurden verschlossen. Weder Magier noch Drachen konnten diese Tore wieder öffnen. Und so gerieten sie in Vergessenheit. Nur wenige magische Wesen verstanden es auf der Erde zu überleben. Dazu gehörten zum Beispiel die Elfen, dein Volk, das sich nach Island zurückzog und in Steinen verbarg. Aber auch einige Drachen und Trolle verstanden es sich tief in den Bergen zu verstecken und in jahrhunderte währendem Schlaf darauf zu warten, bis Mutter Erde sie wieder brauchte.
Die Menschheit aber hatte sich einem Technikwahn verschrieben, der unsere Mutter zu vernichten drohte. Warnzeichen wurden übersehen oder gar ignoriert. Es dauerte lange, bis man begann etwas zu unternehmen. Aber das forderte Einbußen gerade von den reichen Gesellschaften auf der Erde. Und die war man nicht bereit zu gewähren.
Unsere Mutter versuchte es im Guten. Es begann damit, dass ihr Regen die Wälder zerstörte. Aber nichts geschah. Sie veränderte ihre Atmosphäre, schuf Löcher um die Strahlung der Sonne ungefiltert eindringen zu lassen. Nur einige wenige besorgte verlangten, dass etwas geschehen müsse. Sie veränderte den Fluss des großen Stroms in den Meeren und sorgte dafür, dass die Eiswüsten an den Polen schmolzen, doch noch immer hörten die Menschen nicht auf den Ruf von Mutter Erde.
Mittlerweile hatten sie doch schon die benachbarten Gestirne besiedelt, waren auf dem Mond, dem Mars und auf den Jupitermonden heimisch. Mit ihrer Technik versuchten sie sich die Planeten untertan zu machen. Doch mit der Strafe des Großen Geistes hatten sie nicht gerechnet. Den Feuerball, den er ihnen von den Sternen schickte, entdeckten sie viel zu spät. Und als er im Zentrum der Nation einschlug, deren Frevel gegen die Erde am größten war, wurde die alte Welt vernichtet und eine neue entstand.
Doch die neue Welt war eine grausame Welt, eine veränderte Welt. Viele Jahre nach der Katastrophe, als die Überreste der Menschheit glaubten, die Erde hätte sich wieder beruhigt, begannen aus der Tiefe bösartige Kreaturen über die Menschen herzufallen. Nur wenige setzten sich dieser Höllenbrut zur Wehr. Gleichzeitig aber öffneten sich wieder die Tore zu den alten Welten. Die Erde selbst schien um Hilfe zu rufen.
Wer den Ruf hörte, kam der Alten Mutter zu Hilfe. Wesen, die in den letzten Jahrhunderten, für Legenden gehalten wurden, kehrten auf die Erde zurück, um ihr im Kampf gegen das Böse von den Sternen beizustehen. Da waren auf einmal Einhörner, Phönixe, Greife, Drachen und andere wieder da. Ein jedes dieser Wesen versuchte mit der ihm eigenen Macht zu helfen. Aber leider erschienen auch jene Wesen wieder, die immer wieder versucht hatten die Erde für sich zu gewinnen oder zu zerstören. Und so kam es, dass das Kräfteverhältnis der magischen Wesen so ausgeglichen war, dass an einen Sieg über die Sternenmonster, ihr nennt sie Mutanten, nicht zu denken war.
Wir mussten erkennen, dass die alten Weisheiten immer noch gültig waren. Gut und Böse halten sich die Waage. Keines kann ohne das andere existieren. Nur hatten wir jetzt ein drittes Element auf der Erde, das von dem Gleichgewicht der magischen Kräfte profitierte. Und über die Jahrhunderte entwickelte es sich und wurde immer mächtiger. Und schon bald wird die Zeit kommen, da es die wenigen mutigen Menschen in Denver nicht mehr zurückhalten können. Und wenn wir ihm dann nichts entgegensetzen können, dann ist unsere Mutter Erde endgültig verloren.“
„Wie aber soll ausgerechnet ich euch helfen können?“ Rhynais Frage war so leise, dass die alte Schamanin sie fast nicht hörte.
„Das kann ich dir nicht sagen. Du wirst es dann wissen, wenn der richtige Moment gekommen ist. Bis dahin wirst du vielen anderen Wesen begegnen, wirst viel lernen und entdecken. Und du wirst lernen deine Kräfte einzusetzen.“
„Ihr sprecht schon wieder von meinen Kräften. Was meint ihr damit? Ich meine, dass ich eine Verbindung zu jenen magischen Welten habe, das habe ich mittlerweile verstanden. Aber was meint ihr mit Erdmagie? Was ist das für eine Kraft in mir?“
„Siehst du, kleine Elfe, aus deiner Frage geht schon hervor, dass du anfängst die Kraft in dir zu akzeptieren. Lerne sie zu nutzen, den ersten Schritt hast du schon getan. Ich kann dir dabei nicht helfen, denn meine Kraft ist eine andere. Deine Kraft aber ist die Kraft von Mutter Erde selbst. Du wirst Lehrer finden, wenn du die Stadt verlassen hast. Und du wirst verstehen, warum ich dir nicht helfen kann. Aber manchmal lassen sich die Elemente auch verbinden, manchmal entsteht aus Erde, Feuer und Äther eine Macht, die leicht einzusetzen aber sehr schwer zu bändigen ist.“
Verwirrt schüttelte Rhynai ihren Kopf. Sie sollte die Erde retten? Ausgerechnet sie, die froh sein musste, wenn sie den nächsten Morgen noch erlebte. Und wovor sollte sie die Erde überhaupt retten?
„Aber…“ begann sie zaghaft.
„Folge mir, Rhynai. Ich möchte dir etwas zeigen.“
In einer eleganten, fließenden Bewegung erhob sich die Schamanin und näherte sich dem Korridor. Erst jetzt bemerkte die Elfe, dass Silver Cloud gar keinen Kontakt mit dem Boden hatte und folgte ihr durch den langen Gang. An seinem Ende öffnete sich ein prachtvolles Portal in einen gewaltigen Saal. Als sie einen letzten Blick hinter sich warf stöhnte sie überrascht auf. Wieder hatte sich ihre Umgebung verändert, oder war sie schon wieder woanders. Ihr Blick fiel über den Hof einer gewaltigen Festung. Hohe, weiße Berggipfel türmten sich hinter weißen Mauern gen Himmel. Wo sie hergekommen waren, befand sich nun ein gewaltiges goldenes Tor, dessen Flügel sich lautlos schlossen. Beide Hälften waren mit einem gewaltigen Echsenkopf verziert.
„Wo sind wir hier?“ fragte sie, doch da war niemand mehr, den sie fragen konnte. Silver Cloud war verschwunden. Zögernd trat sie in den Saal, in dessen Zentrum ein gewaltiges Feuer brannte und den Raum in einem atemberaubenden goldenen Lichtschein schimmern lies. Aber bis auf das Feuer war der Saal leer.
Vorsichtig ging sie auf das Feuer zu und entdeckte schließlich den schwarzen Gegenstand, der in der Nähe der Flamme auf dem Boden lag. Neugier überkam sie und ein seltsames Gefühl von Geborgenheit. Hier würde ihr nichts passieren. Wenn die alte Schamanin sie hier her geführt hatte, dann musste dies die Festung von Feuerauge, dem Goldenen Drachen sein.
Ein tiefes, dröhnendes Lachen, erfüllte den Raum, aber es war ein friedliches und ein weises Lachen, doch niemand zeigte sich. Zögernd ging sie auf den Gegenstand zu und hielt kurz darauf ein in kostbares Leder gebundenes Buch in den Händen. Ein Abbild des hellen Sternenbandes, das sie nachts manchmal erkennen konnte umschloss zwei Hände, die gemeinsam eine kristallene Kugel hielten. In den verschnörkelten Buchstaben entzifferte sie die Worte ‚Atlantische Prophezeiungen’.
Als sie mit ihrer Hand vorsichtig über den Einband strich öffnete sich das Buch. Raschelnd blätterten die Seiten um, bis sie schließlich irgendwo in der Mitte des Buches fanden, was die Elfe sehen sollte. Auf der linken Seite sah man das verschwommene Bild von ein paar Helden, die sich des Angriffs einer gewaltigen Menge von Monstern erwehren mussten. Doch weder Helden noch Monster waren genau zu erkennen. Seltsam verschwommen waren die Umrisse des Bildes. Nur eine einzige Figur war detailgetreu dargestellt.
„Nein“, keuchte die Elfe. „Das kann doch nicht sein.“
„Aber es ist genau so, kleine Elfe.“ tönte die Stimme Feuerauges durch den Raum. „Dies ist die Prophezeiung, die uns den Kampf von einer kleinen Gruppe mutiger Wesen unter der Führung einer außergewöhnlichen Frau voraussagt, um die Erde zu retten. Bis vor kurzer Zeit, war dein Bild noch genau so verschwommen wie der Rest der Szene. Aber nun weiß ich, dass der letzte Kampf begonnen hat. Noch wissen wir nicht wer dir zur Seite steht, und auch nicht, was dich erwartet. Nur, dass der Kampf fast aussichtslos ist. Aber wäre er das wirklich, dann wäre er nicht im Buch der Prophezeiungen niedergeschrieben, sondern im Buch der Vergangenheit. Lies jetzt den Text der Weissagung, denn deshalb bist du hier.“
Zögernd senkte sie ihre Augen und begann leise zu lesen. Ihre Lippen zitterten und Schweiß lief ihr über ihre Stirn, als sie die Worte der Prophezeiung in sich aufnahm. Und dann schien das Buch in ihren Händen in einer lautlosen Explosion aus Licht zu vergehen. Aufschreiend erwachte sie und blickte sich schwer atmend um. Sie befand sich wieder in der Kammer mit dem Bett. Nur der flackernde Schein des Feuers im Nebenraum sorgte für ein wenig Licht.
Gedankenverloren starrte sie in den dunklen Raum. Waren die Festung Feuerauges und das Buch der Prophezeiungen nur ein Traum gewesen, oder war das Wirklichkeit. Wie sollte sie das jemals herausfinden? Und wenn am Ende doch alles nur ein Traum war, wann hatte er begonnen? Doch sicherlich noch bevor sie die leuchtende Sphäre beschworen hatte. Immer schneller jagten sich die Gedanken durch ihren Kopf. Und wenn es ein Traum war, war sie dann jetzt wach oder träumte sie noch?
‚Ich bin wach, und es war kein Traum.’ Mit all ihrer verbliebenen Kraft und Konzentration wiederholte sie diesen Satz ein paar Mal und setzte sich dann auf die Bettkante.
‚Und wenn es kein Traum war, dann habe ich die Fähigkeit meinen Hunger auf einfachste Weise zu stillen.’
Vor ihrem Auge entstand die tönerne Schale mit Obst, die sie im Nebenraum gesehen hatte. Sie konzentrierte sich auf ihren Wunsch und scheppernd fiel die Schale vor ihr auf den Boden zerbarst und verteilte das Obst im ganzen Raum.
Nachdem sie das Obst eingesammelt und auf ihr Bett gelegt hatte, begann sie ihren Hunger zu stillen Doch schon bald fielen ihre Augen auf die Scherben der Schale. Sie bedauerte ihr Missgeschick und versuchte sich die leere Schale so vorzustellen, wie sie einmal gewesen war. Langsam setzten sich die Scherben in Bewegung, und schon nach kurzer Zeit sah die Schale aus wie zuvor. Nachdenklich setzte sie sich wieder auf den Bettrand. Wo waren die Antworten auf die vielen Fragen? Wo war die alte Schamanin, die ihre Fragen beantworten konnte?
‚Silver Cloud, wo bist du? Komm zu mir! Ich habe noch so viele Fragen.’
„Du hast mich gerufen, Herrin?“ lautlos war die Schamanin erschienen.
„Ich bin nicht deine Herrin, heilige Frau.“
„Doch, das bist du, du bist die Auserwählte, die Partnerin des Drachen. Und deshalb bin ich als seine Dienerin auch die deine. Aber sprich schnell, denn meine Zeit in dieser Welt geht zu Ende, nun, da meine Aufgabe erfüllt ist.“
„Aber warum…“ begann Rhynai nur um sofort von der alten Schamanin unterbrochen zu werden.
„Keine Zeit für Fragen mehr. Hör mir gut zu. Auch wenn ich diese Welt bald verlasse, werde ich dir immer zur Seite stehen. Du wirst spüren wann und wo du Kontakt mit mir aufnehmen kannst. Und wenn es in meiner Macht steht werde ich dir helfen.“
Ihr Blick fiel auf die Tonschale.
„Du hast deine Kräfte also akzeptiert. Nun musst du lernen sie zu beherrschen. Das ist nicht leicht. Irre geleitete oder außer Kontrolle geratene Magie kann großen Schaden anrichten. Schaden, der in der Regel nicht mehr wieder gut zu machen ist. Setze deine Kraft also mit Bedacht ein. Und noch etwas. Magie ist zwar eine mächtige Kraft, aber wie jede Kraft gilt auch hier der Grundsatz, dass nichts aus nichts geschaffen werden kann. Die Magie ist eine Kraft der Veränderung und der Bewegung. Was du hier tust, wirkt sich irgendwo anders aus. Wie die Obstschale, die plötzlich aus dem Nebenraum verschwunden ist.
Und trotzdem ist die Magie eine Macht, der sich nur wenige widersetzen können. Gehe vorsichtig damit um, denn sie kann nicht nur deine Feinde vernichten, sondern auch dich wenn du nicht acht gibst.“
Umständlich kramte sie in ihrem Kleid nach etwas und hielt es schließlich der Elfe hin.
„Nimm diesen Drachendolch. Er ist ein Geschenk meines Herrn an dich. Der Griff ist aus dem Horn eines Drachen geschnitzt und seine Klinge ist nicht von dieser Welt. Sie wird nie brechen und sie wird alles schneiden, was du für nötig hältst. Außerdem kannst du mit dem Dolch Kontakt zu meinem Herrn aufnehmen. Doch auch wenn du tief in seiner Gunst stehst, solltest du das nur in einer wirklich ausweglosen Situation tun.
Und nun, kleine Elfe, wirst du dich ausruhen. Und dann musst du die Stadt verlassen. Du kennst dein Ziel und du wirst auf deiner Reise die Gefährten finden, die die Prophezeiung vorhersagt. Mach dich auf den Weg und bereite dem Chaos ein Ende. Die Kraft der Erde ist mit dir, mein Kind…“
Während ihrer letzten Worte war die Figur der alten Frau immer blasser und durchscheinender geworden, bis sie schließlich ganz verschwunden war. Bedrückt blickte Rhynai auf die Stelle, wo vor wenigen Sekunden noch Silver Cloud gestanden war. Nachdenklich senkte sie den Blick auf den Dolch, aber sie nahm ihn nicht war. Statt Fragen zu beantworten waren noch mehr aufgetaucht. Aber sie wusste, dass sich diese Fragen nicht von allein beantworten ließen.
Entschlossen schob sie den Doch unter ihren Gürtel und ging zur Tür. Draußen begann es hell zu werden, doch von der wütenden Menge war keine Spur zu sehen. Sie brauchte eine Weile um sich zu orientieren, doch dann erblickte sie am unteren Ende der Strasse ein bekanntes Gebäude. Der schnellste Weg um die Stadt zu verlassen führte sie an diesem Gebäude vorbei. Es waren nur noch ein paar hundert Meter bis zum Stadtrand doch dann würde sie eine weite Strecke über offene Wiesen zurücklegen müssen. Illusionszauber hin oder her, jeder, der sie dort draußen sah, würde misstrauisch werden. Doch sie sah keine andere Möglichkeit.
Noch einmal betrat sie die ihr mittlerweile vertraut gewordene Wohnstätte der Schamanin. Langsam ließ sie sich auf dem Teppich vor dem Bett in eine sitzende Position nieder und schloss die Augen. Alle Gedanken verbannend konzentrierte sie sich auf die Kraft in ihr, die Erdmagie, wie es Silver Cloud genannt hatte. Langsam erschien vor ihrem inneren Auge wieder das blaue Leuchten, doch diesmal hielt sie die Augen geschlossen und konzentrierte sich weiter auf ihr Vorhaben und dehnte die blaue Sphäre so weit aus, bis sie selbst völlig von ihr umschlossen war. Mit einer letzten Willensanstrengung legte sich die Sphäre wie eine zweite Haut um die Elfe, bevor sie erlosch. Schwer atmend öffnete Rhynai ihre Augen und schaute an sich herunter.
Es hatte funktioniert. Sie sah aus wie ein ganz normaler Mensch. Niemand, auß0er vielleicht ein anderer Magiekundiger, würde die Illusion durchschauen können. Entschlossen erhob sie sich und trat auf die Strasse hinaus. Inzwischen war es draußen hell geworden, aber noch immer war niemand auf der Strasse zu sehen. Die Elfe sah das als gutes Zeichen und wandte sich dem näheren Ende der Strasse zu. Sie wollte so schnell wie möglich die Wälder jenseits des Flusses erreichen. Mit etwas Glück würde sie ihren Vater treffen, bevor er von seinem Jagdausflug wieder in die Stadt zurückkehrte.
Wie so oft in den letzten Jahren wunderte sie sich, wie gut erhalten dieser Teil der Stadt noch war. Der größte Teil der kleinen Stadt bestand aus mehr oder weniger gut erhaltenen Ruinen, doch hier im Norden waren die Gebäude noch fast vollständig erhalten. Das bedeutete allerdings auch, dass sich hier die meisten Einwohner befanden, und dass die Gefahr, von ihren Verfolgern entdeckt zu werden wesentlich größer war.
Aufmerksam beobachtete sie Hauseingänge und Fenster. Mehrmals vermeinte sie hinter den teilweise geborstenen Scheiben eine Bewegung zu erkennen. Sie wurde beobachtet. Fast körperlich spürte sie die Blicke in ihrem Rücken, doch hütete sie sich davor, sich umzudrehen. Hoch aufgerichtet und selbstsicher ging sie die verlassene Strasse hinunter. Der Geruch brennenden Holzes stieg ihr in die Nase und lies sie innehalten. Leise Stimmen unterhielten sich, doch es war noch nichts zu verstehen. Aber sie wusste was das bedeutete. Dort vorn, keine hundert Meter vor ihr, war ein großer Platz mit einer kleinen, ungepflegten Parkanlage. Von dort konnte jeder überwacht werden, der die Stadt verlassen wollte. Dort würden ihre Verfolger auf sie warten.
Die Elfe wechselte auf die andere Straßenseite. Vielleicht würden die Arkaden der Stadthalle sie den Blicken ihrer Verfolger entziehen. Zögernd erst, dann aber sicherer werdend näherte sie sich dem Platz. Ungesehen erreichte sie den Bogengang. Tief durchatmend ging sie weiter. Nur aus den Augenwinkeln beobachtete sie die drei Lagerfeuer in der Mitte des Platzes. Ungefähr 30 Männer und Frauen hatten sich hier versammelt um sie zu jagen. Unter ihnen waren auch ihre ehemaligen Freunde Thomy und Geena.
Nur noch wenige Meter, dann könnte sie in eine Seitengasse abbiegen und wäre aus dem Blickfeld ihrer Verfolger verschwunden. Und dann wären es nur noch wenige hundert Meter, bis sie in Sicherheit wäre. Ein letztes Mal blieb sie stehen und blickte zu ihren Verfolgern hinüber. Noch immer hatten diese sie nicht bemerkt.
Doch plötzlich spürte sie eine schwere Hand auf ihrer Schulter. Erschrocken fuhr sie herum und schaute in das misstrauische Gesicht von Ned Stone.
„Was macht eine kleine Herumtreiberin so früh am Morgen auf der Strasse?“
„Lass mich los, sonst…“
„Was sonst, rufst du sonst noch deinem großen Bruder? Was machst du hier? Hast du hier sonst noch jemanden gesehen? Eine blaue Mutantin?“
Rhynai atmete auf, der Bürgermeister hatte sie nicht erkannt.
„Von was reden sie? Die Mutanten sind doch bloß Erzählungen um unsere Kinder zu erschrecken.“
Zornig griff Stone nach ihrem Arm.
„Halt mich nicht für dumm…“ ungläubig verstummte er. Unter seiner Hand schimmerte Rhynais Arm blau.
„Du? Nicht nur Mutant, sondern auch Hexe? Na warte…“ Haßerfüllt schaute er die Elfe an. Und dann rief er über den Platz.
„Hey Leute, kommt her, ich hab sie!“
Rhynai musste sich nicht umdrehen um zu sehen, dass die anderen aufgesprungen waren und in wenigen Sekunden hier sein würden. Mit einer schnellen, fast unsichtbaren Bewegung stach sie mit dem Drachendolch nach dem Arm, der sie festhielt. Laut aufschreiend lies der getroffene Bürgermeister sie los.
„Sie wollte mich umbringen, die verdammte Hexe wollte mich töten. Ergreift sie, tötet sie…“
Die letzten Worte waren für die Elfe nicht mehr zu hören. Atemlos hetzte sie durch die schmale Gasse zur nächsten Strasse. Diese Strasse würde sie zur Brücke über den Fluss führen und wenn sie erst die Wälder jenseits erreichen würde, dann würde sie ihre Verfolger schon abzuschütteln wissen.
Doch als sie um die Ecke bog, stockte ihr der Atem. Keine hundert Schritte vor ihr war die Brücke, doch waren dort hölzerne Palisaden errichtet, die den Durchgang blockierten. Hastig blickte sie sich nach einem Ausweg um, es blieb nur ein einziger. Fluss abwärts am Ufer entlang. Doch war der Uferbereich stark bewachsen und das Unterholz bot mannigfaltige Möglichkeiten für einen Hinterhalt. Aber sie hatte keine Wahl. Zudem wusste sie einige hundert Schritt flussabwärts eine seichte Stelle. Wenn sie diese erreichen könnte, dann wäre es vielleicht doch noch möglich den Fluss zu überqueren.
Sie achtete nicht auf das Geschrei hinter ihr, als sie den schmalen Pfad am Ufer entlang rannte und im dichten Unterholz verschwand. Sie achtete auch nicht auf die Zweige, die ihr ins Gesicht schlugen als sie den Pfad verlies um im Ufergestrüpp noch schlechter zu finden sein.
Aber das Geschrei hinter ihr wurde leiser als die Meute ihr Opfer nicht mehr sehen konnte. Doch noch war die Gefahr nicht vorüber. Sicherlich würde jemand auf die Idee kommen die Furt zu sichern. Und wenn sie oben auf der Strasse blieben, dann könnten sie vielleicht sogar vor ihr dort sein. Sollte sie vielleicht hier im Unterholz abwarten was der Mob machen würde? Aber was wenn sie sich aufteilten? Dann würde sie ihre letzte Chance zu entkommen aus der Hand geben. Nein, sie musste weiter, musste die Furt erreichen, bevor ihre Verfolger sie erreichten. Nur so hatte sie noch eine Chance zu entkommen.
Immer weiter rannte die Elfe durch das Unterholz, sprang über Wurzeln und Baumstämme bis es schließlich wieder deutlich heller vor ihr wurde. Vor ihr lag die Furt. Heftig atmend lehnte sie sich an eine alte Birke um ein paar Sekunden zu verschnaufen.
Über ihr raschelten die Blätter des alten Baumes in der morgendlichen Brise. Vereinzelte Sonnenstrahlen brachen durch das Blätterdach, Vögel zwitscherten in den Ästen. Es war fast wie früher, als sie diesen Ort aufgesucht hatte, sich zu dem Baum gesetzt hatte. Damals hatte sie das Gefühl gehabt, der Baum würde seine Ruhe und seine Kraft auf sie übertragen. Jetzt war sie sich fast sicher, dass es einen derartigen Austausch zwischen den Geschöpfen der Erde, seien es Pflanzen, Tiere, Menschen und andere Wesen, tatsächlich gab. Aber das konnte ihr jetzt nicht weiterhelfen.
Vorsichtig näherte sie sich der Furt, immer damit rechnend jeden Moment entdeckt oder gar gefangen zu werden. Aber es schien alles ruhig. Trotzdem wollte dieses Gefühl von Gefahr nicht weichen. Und als sie auf den Pfad hinaustrat, wusste sie auch warum. Eine Hand schloß sich um ihren Knöchel und brachte sie zu Fall.
„Ich hab sie,“ hörte sie Thomys Stimme hinter ihr. Im gleichen Moment tauchten aus dem umgebenden Unterholz etwa zwei Dutzend ihrer Verfolger auf. Sie waren trotz ihres Jagdeifers, trotz ihrer Wut, schlau genug gewesen sich zu verstecken und auf die Elfe zu warten.
Thomy hatte sie wieder losgelassen, aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Sie war gefangen, immer mehr Menschen aus der Stadt tauchten auf und bildeten mehrere dichte Kreise um sie herum. Stolz und trotzig stand sie auf und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Sie wusste, dass sie verloren hatte.
Gefasst schaute sie ihren Verfolgern ins Gesicht. Was sollte sie sagen? Es war egal, es würde nichts nutzen. Aus den Augen der Menschen blitzte ihr der pure Hass entgegen. Mit einer fast unsichtbaren, kreisenden Handbewegung hob Rhynai die Illusion auf.
„Wenn ich schon sterben muss, dann will ich als die sterben, die ich bin. Als Rhynai, die Elfe. Und nicht als jemand, der sich seiner Herkunft schämt. Ich weiß, dass ich anders bin als ihr, aber ich gehöre nicht zu diesen Mutanten, die die Menschen jagen und töten. Bis vor kurzem habe ich zu euch gehört, und hätte alles für euch gegeben. Wenn ihr meint, ihr müsst mich töten, dann werdet ihr mit diesem Mord leben müssen. Und eines Tages werdet ihr erkennen, was für einen Fehler ihr begangen habt. Aber dann wird es zu spät sein. Dann kann ich euch nicht mehr helfen.“
Niemand schien ihr zuzuhören außer Geena. Offensichtlich erinnerte sie sich langsam wieder an ihre tiefe Freundschaft. Aber Rhynai sah auch die Angst in Geenas Augen.
„Tötet sie endlich,“ keifte hinter ihr eine Stimme und Rhynai drehte sich um. Mehrere Leute wurden heftig zur Seite gestoßen, dann sah sie die Alte, die mit einem rostigen Messer auf sie zustürmte. Auch hinter ihr begann es unruhig zu werden. Sie wusste, jetzt würde sie sterben und blickte der alten Frau tief in die hasserfüllten Augen. Noch zwei Schritte, die Hand mit dem Messer hocherhoben trennten sie, da hörte sie ein seltsames Zischen. Im selben Moment spürte sie einen harten Schlag auf dem Hinterkopf. Das letzte was sie sah, war ein schwarzer, gefiederter Bolzen, der aus der Stirn der Alten ragte. Dann wurde es schwarz um sie.