Das Mädchen

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lietzensee

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„Und bei ihnen?“, Marek hatte so lange über den Geschmack seiner Süßwaren und deren Umgehung von Etikettiervorschriften geredet, dass er nun wirklich nichts mehr zu erzählen wusste. In seiner Daunenjacke drückte er sich an Asha und sah den Vertreter an.
Der zuckte nur mit den Schultern. „Über Geschäftliches will ich nicht klagen.“ Er kratzte sich den Kopf mit den blondierten Haaren und blickte in die leere Wartehalle des zentralen Omnibusbahnhofs. Für eine Weile sprach niemand mehr.
Das Mädchen sah Marek, Asha und den Vertreter unter ihrer Wollmütze hervor an. Auf den orangenen Bänken hatte sie sich mit einem Platz Abstand zu ihnen gesetzt und hoffte sehr, dass heute Abend noch ein Fernbus fahren würde. Zumindest hoffte sie aber, dass der Junge wieder kam. Die Uhr der Wartehalle zeigte jetzt auf zehn nach acht. Warum ließ er sie alleine warten? Er hatte gesagt, dass er gleich wieder da sein würde. Inzwischen war es vor den Scheiben der Wartehalle schon dunkel geworden. Sie blickte auf den Fernseher, der an einem Kabel herab hing und einen stumm gestellten Nachrichtenkanal zeigte. Eine Minuten lang hielt sie das aus, dann biss sie sich auf die Lippen. „Was machen sie als Vertreter denn genau?“ fragte sie und bemühte sich, ein höfliches Lächeln zu zeigen.
Der Vertreter schien sich über die Aufmerksamkeit zu freuen. „Wissen sie, gute Frau, die Arbeit ist genau so, wie sie sie sich wahrscheinlich vorstellen.“ Er schob seine Sporttasche zur Seite und beugte sich vor zu ihr. „Ich reise viel und schlafe oft in Hotels. Ich treffe sehr viele Menschen und bin den meisten unwillkommen.“ Er lächelte. Unter seinem Kragen blinkte ein Goldkettchen hervor. „Wahrscheinlich klingt das ziemlich langweilig, oder?“
Das Mädchen schüttelte pflichtschuldig den Kopf. Asha machte es ihr nach und sagte dann: „Ob langweilig, kommt ganz auf Hotel an.“ Alle lachten. Dann schwiegen sie wieder.
Das Mädchen blickte auf den leeren Parkplatz. Wie weit entfernt sich auf einmal Bremen anfühlte. Sie dachte an das Restaurant, das ihre Eltern dort führten, an die mit Leinen bespannten Speisekarten und die Muster aus Fettflecken darauf. Ihr Flug war kurzfristig abgesagt worden. Das Festival der indigenen Kulturen fiel aus. Vor einem abgesperrten Park hatte sie dann den Jungen getroffen und gemeinsam hatten sie überlegt, dass ein Fernbus jetzt die sicherste Option sein würde. Das war besser als nichts. Sie zog ihre Jacke fester um sich und blickte auf das geschlossene Ristorante Terminale. Viel besser als nichts war es aber nicht.
„Da waren wir im Urlaub Marek“, rief Asha und zeigte auf den Fernseher. Marek blickte von seinem Handy auf und schaute auf die Bilder. Ein Platz, im Schatten von Mandelbäumen, auf dem Särge gestapelt wurden. Er fluchte.
„Ja“, nickte der Vertreter. „Die Gegend kenne ich auch, beruflich.“ Er sah Mark und Asha an und öffnete seiner Sporttasche. Papier raschelte. Dann zog er eine Flasche Goldkrone hervor. Er nahm einen Schluck und reichte sie ihnen. „Wo ist eigentlich ihr Freund?“ fragte er das Mädchen. Er wippte auf seiner Bank und sah sich in der Halle um.
„Er ist gleich wieder da!“ rief sie, lauter als sie gewollt hatte. Der Vertreter lächelte. Sie zog ihr Handy hervor und hielt es vor ihr Gesicht. Die Nachrichten die sie dort sah, waren dieselben wie auf dem Fernseher, zehntausende Infizierte in Italien, Notaufnahmen die Patienten aussortieren mussten, Triage. Sie spürte, wie sich etwas in ihrem Hals verkrampfte. Plötzlich war der Tod wieder allgegenwärtig in Europa.
„Letzten Endes gehört das Sterben ja zum Geboren werden. Das ist wie bei Bussen, wenn man an einer Station einsteigt, ist klar, dass man an einer Anderen wieder aussteigen wird.“ Der Vertreter sah sie an. Er lächelte nicht mehr, sondern kratzte sich den Kopf mit den blondierten Haaren.
„Nicht lustig“, zischte das Mädchen. Sie blickte auf die Anzeigetafel unter der Uhr und fragte sich, ob ihre Abfahrt dort noch erscheinen würde.
Da zirpte das Smartphone in Mareks Händen. Er wischte darüber und rief: „Wir haben zwei Plätze bei BlaBlaCar bekommen, direkt nach Bielsko Biała!“ Hastig stopfte er Kopfhörer und Kissen in ihre Taschen. Asha sah das Mädchen und den Vertreter an. Sie schenkte jedem Gummibärchen und zwei große Tafeln Schokolade, „Nervennahrung.“ Süßigkeiten für den Jungen legte sie auf eine leere Bank. Dann waren Marek und Asha durch die Glastüren in der Dunkelheit verschwunden.
Ein kalter Luftzug wehte durch die Halle. Der Vertreter wippte auf seiner Bank vor und zurück. Er zog ein schmales Stück Pappe aus seiner Sporttasche, dann lächelte er verlegen. „Gleich sind wir nur noch zu zweit.“
Sie sah ihn verständnislos an. Wut stieg in ihr auf und sie zeigte auf den Fernseher. „Ist ihnen eigentlich klar, was gerade passiert? Wie viel Menschen man nicht helfen kann? Wie viele Menschen sterben?
„Ja.“ Er lachte. „Das ist mir klar. Und nein, ich kann diesen Menschen nicht helfen.“ Er stand auf, stellte sich vor ein Fenster und blickte auf den Wirtschaftshof. Dann schaute er auf seine Armbanduhr. Er zog einen Locher aus seiner Manteltasche, nahm sorgfältig Maß und stanzte in das Stück Pappe ein Loch. „Jetzt ist es passiert.“
„Was?“
„Ihr Freund ist gestorben.“
Mit den Händen tastete sie nach etwas zum Werfen. Sie sah ihn an. Der hässliche Mantel, das verlebte Gesicht und sein geduldiges Lächeln. Dann begriff sie und ihre Augen wurden groß.
Er nickte. „Ich bin der Tod.“ Auf dem Pappzettel machte er sich noch eine Notiz, dann strich er ihn vorsichtig glatt und steckte ihn zurück in die Sporttasche.
„Ist er auch gestorben an...“
„Nein.“ Der Tod lächelte. „Nicht an der Seuche, sondern an einem Hirnschlag. Das hat etwas gedauert. Der Junge liegt jetzt zusammengeklappt hinter dem Toilettenhäuschen.“ Er versuchte eine ungeschickte Verbeugung und hob dann seine Sporttasche auf die Schulter. „Sie werden verstehen, ich muss weiter.“
Das Mädchen sprang von ihrer Bank auf, um dem irgendetwas entgegen zu setzen. Die Glastüren hatten sich vor ihm schon geöffnet, als sie schließlich schrie: „Du bist ein Schwein!“
Der Tod drehte sich um. „Und du hättest mal nach dem armen Jungen gucken können.“ Dann war er in der Dunkelheit verschwunden. Ein kalter Luftzug wehte durch die Halle und sie war allein. Das Mädchen traute sich nicht, raus auf den Wirtschaftshof zu gehen. Sie starrte nur auf die Bilder, die sich im Fernseher wiederholten, wieder und wieder und wieder.
 

Baskerville

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Fast sind mir die realen Geschehnisse noch zu nah um den nötigen Abstand zu haben...dennoch gefällt mir die Geschichte. Der personifizierte Tod als Gegenspieler ist zwar nicht neu aber interessant unter den gegebenen Bedingungen. Die Situation und die Personen werden interessant und glaubwürdig beschrieben man ist sofort drin in der Geschichte. Nur die Beschreibung des Vertreters als Personifizierung des Todes wirkt mir etwas zu aufdringlich mit den blondierten Haaren und dem Goldkettchen. Ich finde der Tod sollte eher sehr unscheinbar bzw. unauffällig auftreten. So wirklich klar wird mir auch nicht warum hier neutral von Junge und Mädchen gesprochen wird. Soll sich hier jeder mit den beiden identifizieren können? Der Junge ist kein Opfer der aktuellen globalen Bedrohung. Jeder Mensch kann also jederzeit an unerwarteten Ursachen sterben. Das macht man sich eben gerade als junger Mensch nicht wirklich bewusst. Covid-19 führt uns die Fragilität unserer Existenz nur besonders deutlich vor Augen. Dennoch, ich finde die Geschichte funktioniert genauso gut wenn du den beiden einen Namen geben würdest.

Da sind auch noch ein paar Flüchtigkeitsfehler drin.
z.B. :'Er sah Mark und Asha an' sollte wohl Marek heißen
Im letzten Abschnitt:
'Er versuchte eine ungeschickte Verbeugung und hob dann seine Sporttasche auf die Schulter. „Sie werden verstehen, ich muss weiter.“' fände ich es angemessen wenn der Vertreter beim letzten Satz noch auf den Fernseher zeigt um deutlich zu machen dass er grade ziemlich viel zu tun hat....
 

lietzensee

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Hallo Baskerville,
vielen Dank für deine Antwort! Ja, es ist alles sehr nah und leider noch nichts, auf das man mit Abstand zurückblicken kann. Mir ist klar, dass es grenzwertig ist, Fiktion daraus zu machen, wenn gleichzeitig real Leute sterben. Aber das Thema drängt halt zum Schreiben.

Ich weiß, der personifizierte Tod ist alles andere als neu. Meine Idee war, den Tod als jemanden zu zeigen, der das Elend nur verwaltet. Auch er soll nicht Herr der Lage sein, eben wie ein etwas runtergekommener Vertreter. Am Ende sollte der Tod positiver als das Mädchen dastehen. Du hast Recht, die Goldkette ist dabei überzeichnet.
 

Baskerville

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Hallo lietzensee,
es wäre in der Tat hochinteressant den Tod so zu gestalten, dass er am Ende sympathischer als der Protagonist rüberkommt.
Als Leser bin ich hier aber bis zum Schluss auf der Seite des Mädchens, der Tod kommt hier angesichts des unfassbaren Leides das sich vor allen Augen abspielt zu ungerührt und fast selbstzufrieden rüber. Ja er fragt sie mal nach dem Jungen aber das wirkt nicht wirklich ehrlich Anteil nehmend. Er spielt hier eher mit dem Mädchen und wirkt dadurch wie ein kaltblütiger Sadist, während sie ja nun nichts anderes verbrochen hat als 'zu geduldig' und vielleicht ein klein wenig feige (am Ende) auf ihren Freund zu warten....
 

lietzensee

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Hi Baskerville,
vielen Dank für den Hinweis! So negativ hatte ich mir meinen Tod nicht gedacht. Ich werde vielleicht noch einbauen, dass er nicht eingreifen darf. Ins Unreine geschrieben:

Sie sah ihn verständnislos an. Wut stieg in ihr auf und sie zeigte auf den Fernseher. „Ist ihnen eigentlich klar, was gerade passiert? Wie viel Menschen man nicht helfen kann? Wie viele Menschen sterben?
„Ja.“ Er erwiderte ihren Blick. „Das ist mir klar. Und nein, ich kann diesen Menschen nicht helfen.“ Er stand auf, stellte sich vor ein Fenster und schaute auf den Wirtschaftshof. „Helfen darf ich nicht.“ Dann sah er auf seine Armbanduhr. Er zog einen Locher aus seiner Manteltasche, nahm sorgfältig Maß und stanzte in das Stück Pappe ein Loch. „Jetzt ist es passiert.“


Noch eine andere Frage, waren die einzelnen Sätze für dich flüssig lesbar oder hat es manchmal geholpert? Mit diesem hier habe ich mich zB beim Schreiben schwer getan:

Auf den orangenen Bänken hatte sie sich mit einem Platz Abstand zu ihnen gesetzt und hoffte sehr, dass heute Abend noch ein Fernbus fahren würde.

Viele Grüße
Lietzensee
 

Baskerville

Mitglied
Hallo Lietzensee, dein Schreibstil ist flüssig lesbar und wirkt meiner Meinung nach angemessen lebhaft und unverkrampft für den jüngeren Personenkreis dessen Perspektive der Leser annimmt.
In diesem Rahmen ist mir der von dir zitierte Satz nicht als allzu holprig aufgefallen.
Wenn du ihn dennoch etwas glätten möchtest, würde ich ihn folgendermaßen umstellen:
'Sie hatte sich mit einem Platz Abstand zu ihnen auf die orangefarbenen Bänke gesetzt und hoffte sehr, dass heute Abend noch ein Fernbus fahren würde.'

Wie wäre es wenn der Tod seine Rolle in der Analogie eines Schaffners verdeutlicht der für den Transit der Sterbenden verantwortlich ist, nicht jedoch für der ausschlaggebende Faktor für den Antritt der Reise. Vielleicht so?

„Ist ihnen eigentlich klar, was gerade passiert? Wie vielen Menschen man nicht helfen kann? Wie viele Menschen sterben?
„Ja.“ Er erwiderte ihren Blick. „Das ist mir klar. Und nein, ich kann diesen Menschen nicht helfen. Sie haben ihren Weg durch eigene Entscheidungen, bewusst oder unbewusst selbst gewählt. Ich bin nur der Schaffner, das Reisepersonal, nicht der Anlass für ihre Reise. Er stand auf, stellte sich vor ein Fenster und schaute auf den Wirtschaftshof. Dann sah er auf seine Armbanduhr. Er zog einen Locher aus seiner Manteltasche, nahm sorgfältig Maß und stanzte in das Stück Pappe ein Loch. „Jetzt ist es passiert.“

Herzliche Grüße,
Baskerville
 

lietzensee

Mitglied
Hallo Baskerville,
danke für die Antwort! Ja, der Tod als Schaffner, in die Richtung wollte ich, er nimmt jeden mit, der eine Fahrkarte hat. Aber er drängelt nicht beim einsteigen. Da wäre man fast schon beim Fährmann, der einen über Styx ins Reich der Toten bringt.

Viele Grüße
Lietzensee
 



 
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