Das Mädchen mit den dunklen Augen

Leovinus

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Gut, dachte der junge Wanderer und zog die graue Kutte zurecht. Irgendwann musste es ja einmal soweit sein.
Die ganze Zeit über hatte er damit gerechnet, aber nun, da der Augenblick gekommen war, verblüffte es ihn doch, mit welcher Klarheit und Ausweglosigkeit er konfrontiert werden würde.
Wobei uns hier nicht weiter interessieren sollte, woher der Wanderer eigentlich kam, ob er verheiratet oder allein war, reich oder arm. Für unsere Geschichte ist das nicht von Belang. Wichtig ist nur, dass er nun, nach wochenlangem Laufen, Fragen und fast Verzweifeln am Fuße des Berges angekommen war, den er so lange gesucht hatte.
Er hatte unterwegs viele Freunde gefunden, die ihm weiterhalfen. Aber auch viele falsche Freunde, die nur darauf bedacht waren, selbst umso schneller ans Ziel zu kommen.
Nun war er allein. Er sah die lange Serpentine hoch, die zum Gipfel führte. Sie schlängelte sich durch einen spärlichen Wald, der scheinbar wenige Meter unter der Spitze gänzlich versiegte. Dort, auf dem allerhöchsten Punkt, stand nur ein einziger riesiger Baum – sein Ziel. Ihn zu erreichen schien nicht allzu schwierig zu sein. Sicher, es würde Mühe bereiten, die Straße hinaufzukraxeln, aber unterwegs waren keine großen Hindernisse auszumachen. Nicht wie bei den unzähligen anderen Bergen, an denen er vorübergezogen war, wo unglückliche Menschen sich an Abhänge krallten und nur knapp dem Tode entrannen. Auf all diesen Bergen stand ebenfalls ein einsamer Baum auf der Spitze, aber der Wanderer hatte gespürt, dass sein Weg genau hierher führen würde.
Er warf noch einmal einen Blick zurück auf die Landstraße, die er gekommen war, schnallte seinen Rucksack enger und betrat den Waldweg. Zu Beginn ließ es sich recht angenehm laufen, der steinige Weg führte nur sanft bergan, sodass der Wanderer fast Angst bekam, er würde nicht schnell genug an Höhe gewinnen. Insgeheim ging der Wanderer davon aus, bereits am Abend unter dem Baum sein Zelt aufschlagen zu können. Also lief er etwas schneller. Doch merkwürdig: Je mehr er seine Schritte beschleunigte, umso leichter wurde zwar das Gehen, aber umso flacher wurde auch die Strecke und er entfernte sich nahezu von seinem Ziel. Lief er jedoch langsam, schien der Weg unendlich steil, sodass er bald kaum mehr vorwärts kam. Es dauerte sehr lange, ehe der Wanderer das richtige Tempo feststellte. Und als er sich endlich darauf eingestellt hatte, senkte sich der Weg langsam aber stetig, bis er schließlich sogar wieder ein wenig hinab, zurück zur Landstraße führte. So hatte unser Wanderer ständig damit zu tun, sein Gehen dem Weg anzupassen. Das war nicht das bequeme Vorwärtslaufen, das er erwartet hatte.
Mit Erschrecken stellte er fest, dass langsam die Dämmerung einsetzte und er sein Ziel keinesfalls bis zum Einbruch der Dunkelheit erreichen würde. Er begann, sich an den Gedanken zu gewöhnen, sein Zelt mitten im Wald aufschlagen zu müssen, als hinter einer Wegbiegung eine wacklige Hütte auftauchte. Einige Fenster waren notdürftig mit Brettern vernagelt, weil irgendwann ein Sturm die Scheiben zerstört hatte. Vom Schornstein fehlten ein paar Steine. Dennoch stieg Qualm daraus hervor, was den Wanderer wunderte, denn er hatte den ganzen Tag in glühender Hitze geschwitzt. Es musste wohl das Feuer in der Küche sein. Der Besitzer der Hütte saß auf einer Bank davor: ein alter, gebrechlicher Mann mit einer Pfeife im Mund, die mindestens ebenso viel Rauch ausstieß wie der Schornstein.
»Guten Abend, alter Mann!« begrüßte ihn der Wanderer, als er nahe genug heran war.
Die Antwort war eine Hustensalve, die nicht enden wollte. Immer und immer wieder, wenn der Alte zum Sprechen ansetzte, brach es aus ihm heraus und wohl eine Viertelstunde quälte er sich. Schließlich schnappte er heftig nach Luft und erwiderte endlich: »Guten Abend, mein Junge, guten Abend.« Erneut schüttelte ihn ein Hustenanfall, doch er wies auf den Platz neben sich. Der Wanderer setzte sich.
Erneut zu Atem gekommen fragte der Mann: »Was führt dich zu mir?«
»Nun, eigentlich bin ich auf dem Weg zum Gipfel. Ich wollte es mir unter dem Baum gemütlich einrichten.«
»Ach ja«, krächzte der Alte, »der Baum des Glücks. Das ist ganz nett da oben. Bin ein paar mal da gewesen.«
»Warum nennst du ihn ›Baum des Glücks‹, alter Mann? Erzähl mir, was erwartet mich dort?«
Der Mann paffte an seiner Pfeife, hustete wieder und erklärte dann: »Ich weiß auch nicht mehr, warum er so heißt. Ich erinnere mich nur daran, dass seine Früchte wie Medizin wirkten. So blieb ich gesund und stark, und konnte alles erreichen was ich wollte. Aber nun - sieh mich an. Alt und krank bin ich geworden. Viel zu schwach, um noch einmal dort hoch zu klettern.«
»Ich werde morgen ganz sicher die Bergspitze erreichen«, sprach der Wanderer. »Wenn du möchtest, bringe ich dir auf dem Rückweg ein paar Früchte mit. Dann kehrt deine Gesundheit zurück und du schaffst den Weg vielleicht auch wieder allein. Das würde ich für dich tun, wenn du mich heute Nacht in deiner Hütte schlafen lässt.«
So wurden sie sich einig. Der Wanderer musste sein Zelt nicht aufschlagen und konnte am nächsten Tag frohgemut seinen Weg fortsetzen.
Doch mit jedem Schritt brannten seine Füße mehr. In den ganzen Wochen der Wanderung hatten sie ihm nie so weh getan wie jetzt. Immer wieder musste er eine Pause machen, um die Schmerzen zu lindern. Es wurde Mittag, schließlich Nachmittag und endlich musste er einsehen, dass er auch heute den Gipfel nicht erreichen würde. Wieder begann er in Gedanken sein Zelt aufzubauen und wieder sah er, kurz vor Einbruch der Dunkelheit ein Licht. Diese Hütte war noch einigermaßen in Ordnung, wenn auch hier und dort ein wenig Putz fehlte. Hier qualmte kein Schornstein, doch hinter dem Haus klang ein regelmäßiges Kratzen hervor.
Dort kniete eine alte Frau in der Dämmerung. Sie hatte das Ende einer kaputten Hacke in der Hand und versuchte, ein Stück Garten zu bearbeiten. Doch sie kam nicht recht voran, weil der Stiel der Hacke abgebrochen war und sie stets das Stück, das sie eben bearbeitet hatte, mit den Knien plattdrückte.
»Guten Abend, alte Frau«, rief der Wanderer.
Sie schien ihn nicht zu hören und arbeitete emsig weiter. Wenn sie das Stück Beet fertig hatte, drehte sie sich um und bearbeitete es aufs Neue, wieder und wieder. Irgendwann jedoch schaute sie auf und wischte sich den Schweiß aus der Stirn. »Gott zum Gruße, junger Mann, Gott zum Gruße.« Mühsam rappelte sie sich auf und kam mit gebeugtem Rücken zu ihm herüber gehumpelt. »Was willst du hier? Suchst du Arbeit?«
»Ich bin auf dem Weg zum Baum des Glücks. Dort wollte ich mich ein paar Tage niederlassen und dann dem alten Mann, der dort unten wohnt, einige Früchte für seine Gesundheit mitbringen. Aber wenn Ihr Arbeit habt, so bin ich auch nicht abgeneigt, mir etwas dazu zu verdienen.«
Da lachte die alte Frau nur und sprach: »Ja, hätte ich Werkzeug, dann hätte ich auch Arbeit für dich. Mit diesem kleinen Beet quäle ich mich nun schon drei Wochen herum und es will und will nicht fertig werden. Früher bin ich immer zum Baum hochgegangen. Der hat wunderbares Holz, aus dem sich allerlei Werkzeug machen lässt, aber ich habe es einmal versäumt und dann ist mir diese letzte Hacke kaputt gegangen. Nun habe ich keine Zeit mehr dafür, weil ich nicht soviel schaffe. Es ist ein Jammer.«
»Ich werde morgen ganz sicher die Bergspitze erreichen«, sprach der Wanderer. »Wenn du möchtest, bringe ich dir auf dem Rückweg etwas Holz mit. Dann macht dir deine Arbeit mehr Freude und du schaffst den Weg vielleicht auch wieder allein. Das würde ich für dich tun, wenn du mich heute Nacht in deiner Hütte schlafen lässt.«
So wurden sie sich einig. Der Wanderer musste sein Zelt nicht aufschlagen und konnte am nächsten Tag seinen Weg fortsetzen.
Doch noch immer schmerzten seine Füße und hinzu kam, dass der Rucksack nach einer Stunde an der gesamten Längsseite plötzlich und ohne sichtbaren Grund aufriss. Also setzte sich der Wanderer auf einen Baumstumpf, holte sein Nähzeug hervor und begann ihn notdürftig zu reparieren. Dies kostete eine weitere Stunde. Kaum hatte er Nadel und Zwirn fort gepackt, sich den Rucksack wieder umgeschnallt, hörte er schon wieder ein leises Ratschen. Doch heute wollte er sein Ziel unbedingt erreichen. Er ging schneller, doch immer höllischer brannten seine Füße und immer öfter hörte er das verräterische Reißen der Rucksacknaht. Schließlich platzte sie wieder auf und der Wanderer ließ sich einfach in den Staub fallen.
Sollte er denn diesen verfluchten Baum nie erreichen? Er schien doch so nah zu sein! Der Mann schlug mit der Faust auf den Boden, erhob sich mühevoll und setzte sich aufs Neue hin, um seinen Rucksack zu flicken.
Der Nachmittag rückte näher, als er endlich fertig war damit. Nun war auch der Zwirn alle. Langsam stand der Wanderer auf und trottete weiter. Machte das alles überhaupt noch Sinn? Sollte er nicht einfach umkehren zu seinem vorherigen Leben? Da war er doch zufrieden gewesen. Er hatte sein Heimatdorf, wo die Eltern lebten. Eine Frau würde er sicher auch finden und mit der würde er in Ruhe alt werden und schließlich sterben. Was war daran so schlecht? Nein, sagte er sich. Ich muss zu diesem Baum, koste es was es wolle. Ich werde es schaffen, wäre doch gelacht. Schritt um Schritt kam er auf dem steinigen Weg in der heißen Sonne voran, die sich jedoch immer schneller dem Horizont zuneigte. Fast Dreiviertel des Weges hatte er nun geschafft, da hörte er aus der Ferne leise Musik.
Er lauschte und plötzlich schien die Last auf seinem Rücken leichter zu werden. Auch die Füße schmerzten nicht mehr so sehr, fast mühelos erreichte er ein kleines, aber ordentliches Haus mit weißem Putz und roten Dachziegeln. An den Fenstern hingen bunte Gardinen und auf der Wiese neben dem Haus blühten die herrlichsten Blumen, die der Wanderer je gesehen hatte. Dennoch wurde der schöne Eindruck getrübt.
Vor dem Haus stand eine kleine Bühne, auf der ein Tänzer in rotem Kostüm mühsam versuchte, mit der Musik Schritt zu halten. Der Wanderer konnte nicht erkennen, woher die Melodie kam, doch war es ein feiner beschwingter Klang. Die Füße des Tänzers aber waren nackt und blutig. Nur mit großer Anstrengung konnte er sich bewegen, bis er schließlich aufgab und auf der Bühne zusammensank.
»Guten Abend, roter Tänzer«, rief ihm der Wandersmann zu.
Müde erhob der zarte Künstler seinen Blick und schaute ihn stumm an. Er versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, doch es gelang ihm nicht. Er atmete heftig, zog schließlich die Beine an und setzte sich auf den Boden. »Sei willkommen, Wanderer, sei willkommen.« Er rutschte an den Bühnenrand und ließ die Füße baumeln. »Was suchst du hier? Zerstreuung? Die kann ich dir nicht bieten.«
»Ich bin auf dem Weg zum Baum des Glücks. Dort wollte ich mich ein paar Tage niederlassen und dann dem alten Mann, der dort unten wohnt, einige Früchte für seine Gesundheit mitbringen. Und der alten Frau einige Meter höher wollte ich Holz für Werkzeug mitbringen, damit sie wieder arbeiten kann.«
»Oh, da ist einer mit Illusionen! Die hatte ich auch einst. Ich tanzte den ganzen Tag und verführte jedes Mädchen im Umkreis von drei Meilen. Sie liebten mich alle. Aber ach, das ist längst vorbei. Früher holten sie mir Blätter vom Baum, aus denen ich Schuhe fertigen konnte. Doch eines Tages habe ich es übertrieben. Ich tanzte die ganze Nacht, bis alle meine Ballettschuhe hinüber waren. Und keines der Mädchen war bereit, für mich dort hoch zu gehen. Seitdem versuche ich barfuß zu tanzen, doch es will und will mir nicht gelingen.«
»Ich werde morgen ganz sicher die Bergspitze erreichen«, sprach der Wanderer. »Wenn du möchtest, bringe ich dir auf dem Rückweg Blätter für Schuhe mit. Dann kannst du deine Füße wieder schonen und so schön tanzen wie früher. Das würde ich für dich tun, wenn du mich heute Nacht in deiner Hütte schlafen lässt.«
So wurden sie sich einig. Der Wanderer musste sein Zelt nicht aufschlagen und konnte am nächsten Tag seinen Weg fortsetzen.
Nach kurzer Zeit trat er aus dem Wald heraus, ganz so, wie er es von unten gesehen hatte. Heute würde er es gewiss schaffen, denn vom Baum trennte ihn nur eine weite Wiese mit hohem Gras. Doch wenige Schritte vor dem Baum endeten die Wiese und der Weg an einem tiefen Graben. Am Rande des Grabens standen zwei Holzstühle. Auf einem saß ein kleines Mädchen mit dicken schwarzen Zöpfen.
»Guten Tag, Mädchen«, begrüßte es der Wanderer.
»Da bist du ja endlich«, erwiderte das Kind und drehte sich zu ihm um. Der Wanderer blickte in zwei dunkle Augen, die endlos tief schienen und ihn etwas ängstigten. Er nahm auf dem freien Stuhl Platz und schaute über den Graben zu dem Baum. »Du hast mich erwartet?«
»Natürlich« sprach sie. »Du hast es dir nicht leicht gemacht. Aber wärest du nicht gekommen, hätte ich dich auch gefunden.«
»Was willst du von mir? Wer bist du?«
»Ich bin die Hüterin des Baumes und gebe acht, dass ihn niemand fort nimmt.«
Da musste der Wanderer lachen. Einen Baum fort nehmen, das hatte er noch nie gehört! »Warum sollte jemand so etwas tun?«
»Nun«, wandte sie ein und musterte ihn von der Seite. »Kann ja sein, dass jemand die Blätter, die Früchte und das Holz benötigt. Dann wäre der Baum verschwunden. Dies zu verhindern bin ich hier.«
Der Wanderer dachte nach. »Was passiert, wenn ich es dennoch versuche?«
»Verstehst du nicht? Die Blätter für die Liebe wären fort, das Holz für die Arbeit und die Früchte für die Gesundheit. Und auch du wärest gegangen. Es gäbe nur noch mich.«
Erst jetzt sah der Wanderer, dass neben dem Stuhl des Mädchens eine Sense lag. Sie hob sie auf und begann ruhig, das Gras abzumähen. Er ging hinter ihr her und begriff noch immer nicht. »Aber, kann man denn nicht wenigstens über den Graben gelangen und sich ein wenig im Schatten des Baumes ausruhen?«
Ohne ihre Arbeit zu unterbrechen, antwortete sie: »Niemand außer mir kann den Graben überwinden. Versuche, hinüber zu springen. Doch wisse, es wird dir nicht gelingen, und unten in der Tiefe werde nur ich auf dich warten und dich auffangen.«
Da kam ihm eine Idee: »Was ist, wenn ich nur eines mitnähme, Blätter, Holz oder Früchte? Das haben der alte Mann, die Frau und der Tänzer doch schließlich auch getan!«
Das Mädchen hielt inne und lächelte: »Immerhin, du bist klug. Dies ist tatsächlich die einzige Möglichkeit, etwas von dem Baum zu erhalten. Ich werde es dir holen, auf einem Weg, den nur ich kenne. Doch du musst verstehen, dass ich mir für jeden, der hier vorüber kommt, nur eines merken kann. Darum: Entscheide dich. Was du auch willst, du wirst nie etwas anderes von mir bekommen.«
Das schien dem Wanderer zumindest ein Angebot zu sein. Also holte er tief Luft und sagte: »Ich möchte…« Doch bevor er weitersprach dachte er: Und wenn ich nun das Falsche wähle? Dann wären die anderen beiden beleidigt. Er entschied sich anders, während das Mädchen seine Arbeit wieder aufnahm und weiter um den Graben herumlief. »Nein, dann doch lieber…« Wieder verließ ihn der Mut. Wem sollte er nur den Vorzug geben?
Ruhig mähte das Mädchen Bogen um Bogen, und der Wanderer lief immer hinter ihr her. Jeden Augenblick entschied er sich anders. So vollendete das Mädchen schließlich die erste Runde und fragte ihn: »Nun, was ist dir am liebsten?« Doch er wusste keine Antwort. Da sah sie ihn schweigend an und begann mit ihrer Arbeit auf dem nächsten Rasenstück.
So vergingen der Tag, die Woche, der Monat und die Jahre. Schweigend drehte das Mädchen Runde um Runde, und sie entfernten sich mit jedem Tag weiter vom Baum, der dem Wanderer auch mehr und mehr zu verdorren schien. Dabei näherten sie sich wieder dem Wald. Nur am Ende einer Runde stellte sie ihm immer wieder die selbe Frage und stets hatte er keine Antwort.
Der Wanderer war schon völlig entkräftet, als das Mädchen schließlich den letzten Meter Rasen gemäht hatte. Sie sah ihn an und er schaute aus einem bleichen hohlwangigen Gesicht zurück. Seine Haare waren grau geworden, die Beine dünn und die Kleider hingen in Fetzen an seinem Leib.
»Hast du dich entschieden?« fragte sie wieder, wie schon so oft zuvor.
»Nein, ich weiß es einfach nicht«, antwortete er verzweifelt mit heiserer Stimme.
»Doch«, widersprach sie. »Du hast deine Wahl getroffen.«
Er starrte sie entsetzt an und wusste plötzlich, dass er all die Jahre, in denen er mit ihr sinnlos Runde um Runde gedreht hatte, seine Entscheidung gefällt hatte, ohne es zu ahnen.
»Schau dir den Baum an, wie er verkrüppelt und verblüht dasteht«, erklärte sie. »Meinst du, er ist dir jetzt noch zu irgend etwas nütze? Du hast dich für mich entschieden.«
Das Mädchen legte die Sense fort und nahm den Greis bei der Hand. Sie ging geradewegs auf den Graben zu und er folgte ihr, wie all die Jahre zuvor.
Am Rand des Grabens blieb sie stehen: »Sieh hinab und spring. Ich warte unten auf dich.«
Und der Wanderer sprang.


(Übernommen aus der 'Alten Leselupe'.
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