Etwa drei Wochen später
Aylene summte eine einfache Melodie, als sie aus dem Feld hervortrat und zu dem am Wegesrand liegenden Sack ging. Sie ließ ihren Sammelbeutel von der Schulter gleiten und fing an, die Strauchwolle fest in den Sack zu stopfen, als ein Rascheln der Sträucher sie zurückblicken ließ. Es war Farah, die ihr, ihren Sammelbeutel nachlässig hinter sich herschleifend, folgte.
„Schön, dass du mir hilfst“, rief Aylene ihr zu.
„Es macht mir Spaß“, meinte das Mädchen und ließ den Beutel los. Ihr braungebranntes Gesicht glänzte in der bereits tiefstehenden Sonne, doch von Müdigkeit war keine Spur zu entdecken. „Und du hast mehr Zeit.“
Aylene lächelte. „Das stimmt natürlich. Willst du klettern oder schwimmen?“
„Beides!“ Sie deutete auf ihren prall gefüllten Beutel. „Ich habe mich extra angestrengt, damit wir gleich los können. Das reicht doch, oder?“
„Mehr, als ich den ganzen Tag lang geschafft hätte“, lachte Aylene und strich ihr anerkennend über den Kopf, dann füllte sie auch deren Ernte in den großen Sack um. Als sie anfing, einige Strauchwollfasern auf Farahs Haar zu zupfen wurde diese unruhig und tauchte schließlich unter der suchenden Hand weg.
„Ich kann das alleine“, knurrte das Mädchen und rannte los. „Komm lieber!“, rief sie über ihre Schulter und lief quer über den Weg zu einigen dort stehenden Bäumen.
Aylene seufzte belustigt auf, stopfte hastig die restliche Ernte in den Sack und verschnürte ihn mit einem Hanfseil.
Aylene ging mit schwenkenden Armen, sie waren durch das stundenlange Pflücken etwas steif geworden, zu den Bäumen und sah sich suchend um.
„Wo steckst du denn?“, rief sie.
„Hier oben!“
Sie blickte hoch und entdeckte das Mädchen auf einem riesigen Birnbaum, wie sie sich auf einem dicken Ast entlang balancierte. Trotz der beachtlichen Höhe hielt Farah sich dabei nur gelegentlich mit einer Hand an einem Zweig fest, bis sie ihr Ziel erreichte und nach dem Obst griff.
„Irgendwann fällst du noch runter“, mahnte Aylene, doch in ihrer Stimme lag keine Schärfe.
„Glaube ich nicht“, kam es frech zurück.
Farah zog an der Frucht, und als sie sich löste, fing sie das Schaukeln der Äste so geschickt mit den Beinen ab, dass ihr Oberkörper ruhig blieb.
„Die Birnen sind endlich reif“, rief sie fröhlich hinunter. „Ich mag sie lieber als Äpfel. Hier, fang!“
Aylene fing die Birne auf. Sie war ungewöhnlich groß, etwa wie die Faust eines Mannes, von grünlichem Gelb und mit braunen Punkten übersät.
„Vorsicht!“, rief Farah herab, dann sprang sie auch schon. Mit wirbelnden Armen fiel sie herab und rollte sich überschlagend am Boden ab.
„Aua!“, rief sie und blieb mit weit abgespreizten Gliedern auf dem Rücken liegen.
„Wieso ‚Aua’? Wegen des Hopsers?“, neckte Aylene das Mädchen und biss betont gleichgültig in ihre Birne.
Farah funkelte sie leicht enttäuscht an. „Alte Spielverderberin!“ Ohne aufzustehen, winkelte sie ihren Arm an. In der Hand hielt sie eine zweite Birne, die alles unbeschadet überstanden hatte, und biss hinein. Sie sah dabei einer ziehenden Wolke zu, bis sie mit vollem Mund fragte: „Aylene, du erzählst immer von den Sternen. Was findest du an ihnen so besonders? Für mich sind das nur irgendwelche Lichtpunkte.“
„Sie haben mich schon immer fasziniert“, meinte Aylene und legte sich neben Farah auf den Boden. Sie hob eine Hand und deutete in den Himmel. „Diese Lichter müssen sehr groß und sehr weit entfernt sein.“
„Manchmal redest du so seltsam. Was bedeutet ‚fasziniert’?“
„Ach, das ist nur so ein Wort, das ich gelernt habe. Es bezeichnet einen fesselnden Anblick.“
„‚Fesselnder Anblick’, wie komisch das klingt. Nein, ‚faszinierend’ klingt schöner ... ‚faszinierend’ ... ja, das gefällt mir.“
Als Aylene nichts sagte, drehte Farah ihren Kopf und sah sie seitlich an. „Ist etwas?“, fragte sie.
„Nein ...“, kam es schleppend zurück, „Nein ... Die Sterne, sie sind überall gleich. Egal, wo ich bin, hier oder Zuhause, sie sind immer gleich ...“ Sie sah jetzt Farah an. „Verstehst du das?“
„Nein“, antwortete Farah vorsichtig, „aber ich wollte dich nicht traurig machen.“
„Natürlich nicht.“ Aylene wischte sich über das Gesicht, straffte sich und stand auf. „Komm, lass uns jetzt zum See gehen. Dort kannst du die Felswand raufklettern und danach schwimmen wir noch.“
Sie reichte Farah die Hand und zog sie mit einem kräftigen Ruck hoch.
„Willst du nicht auch klettern?“, fragte das Mädchen. „Wir könnten um die Wette machen, dann springen wir von oben in den See und ...“
„Du springst nicht vom Felsen aus!“, fuhr Aylene ihr dazwischen. „Ich habe dir schon hundert Mal gesagt, das Wasser ist dort viel zu flach dafür.“
„Och, nur einmal.“
„Nein!“
„Das ist gemein!“, meinte Farah, doch ihre Stimme klang nicht beleidigt. „Aber wir klettern zusammen?“
„Na schön“, seufzte Aylene. „Eigentlich wollte ich mich etwas ausruhen.“
Aylene sah, wie Farah plötzlich an ihr vorbeiblickte. Sie drehte sich um, doch bereits während der Bewegung klang Hildes Stimme auf:
„Habe ich mir doch gedacht, dass du hier bist.“
Die Bäuerin trat bis auf zwei Schritte heran und sah Farah, die sich hinter Aylene zu verstecken schien, streng an.
„Komm gefälligst hervor, damit ich dich richtig ansehen kann!“
Farah schlich seitlich hervor. Hilde sah das Kind mit strengem Blick an, bis es schuldbewusst den Kopf senkte.
„Darfst du hier sein?“, fragte sie scharf.
„...nein....“, antwortete Farah kleinlaut.
Hilde wartete, bis ihre Enkeltochter anfing, verlegen von einem Fuß auf den anderen zu treten. Dann streckte sie ihren Arm aus und deutete in einem weiten Bogen in Richtung zum Hof. „Ab nach Hause! Wir reden später weiter.“
Aylene berührte Farah am Arm.
„Hab keine Angst“, flüsterte sie ihr leise zu und gab ihr einen unmerklichen Schubs.
Das Kind ging langsam zum Weg, dabei wich sie Hilde aus, deren Blick sie verfolgte. Am Weg blieb sie noch einmal stehen.
„Bitte tue ihr nichts, Großmutter“, bat sie.
„Nein“, antwortete Hilde, „sie hat doch nichts getan. Und jetzt geh!“
Aylene konnte Farah noch aufmunternd zunicken, dann drehte sich das Kind endgültig um und stapfte schwermütig den Weg fort.
Als Farah außer fort war, wandte sie sich Aylene zu, doch ohne sie wirklich anzusehen.
„Angelogen hat sie mich!“, klagte sie und der Zorn war ihr anzusehen. „Mich einfach angelogen. Warum nur?“ Sie ging ohne sie zu beachten an Aylene vorbei zu einem Baumstumpf und setzte sich. „Warum nur?“, wiederholte sie, und statt Zorn lag nun Nachdenklichkeit in ihrer Stimme. „Warum nur?“ Schwer legte sie ihr Gesicht in ihre Hände und verstummte.
„Herrin...“, fragte Aylene vorsichtig.
„Bitte nenne mich nicht immer so“, murmelte Hilde in ihre Hände und sah auf. „Wie soll dieses ungezogene Mädchen je einen Mann finden? Keron verwöhnt sie nur. Ich versuche sie zu erziehen, doch nun misstraut sie mir, ihrer eigenen Großmutter“, sagte sie mit bitterer Stimme.
„Nein. Entschuldigt, dass ich widerspreche, doch Farah ist nur ein Kind. Ihr habt ihr etwas verboten, das sie nicht einsieht. Da blieb ihr nichts anderes übrig als zu lügen, aber sie meint es nicht böse und sie misstraut Euch nicht. Sie liebt Euch.“
„Das sagst du doch nur, um mir zu schmeicheln.“
Aylene schüttelte ihren Kopf. „Ich kenne Farah jetzt seit drei Wochen, und sie hat nie etwas Schlechtes über Euch gesagt. Im Gegenteil, sie lobte Euch.“
„Wie meinst du das?“
„Nun ... Zum Beispiel hat sie mir erzählt, dass Ihr einen Kirschkuchen gebacken habt. Darüber hat sie sich sehr gefreut, denn es sei ihr Lieblingskuchen.“
„Das war nur ein Kuchen.“
„Farah hat sehr sohl begriffen, dass der Kuchen für sie war, und darüber hat sie sich gefreut.“
„Wirklich?“
„Ja!“
Hilde saß einige Minuten lang nachdenklich da, dann stand sie auf. „Ich muss mich jetzt um Farah kümmern“, meinte sie.
„Bitte bestraft sie nicht zu streng.“
„Was soll ich machen? Sie hat immer noch gelogen.“
„Sie tat es nicht für sich, sondern um mich zu schützen.“
„Um dich zu schützen?“, fragte Hilde.
„Bei unserer ersten Begegnung habe ich sie erschreckt, wodurch sie stolperte und sich am Arm verletzte. Sie wollte nicht, dass man mir die Schuld dafür gibt, deshalb fing sie an zu lügen.“
„Ach, deshalb tat sie so damals geheimnisvoll.“ Hilde kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe herum, dann nickte sie. „Keine Sorge, ich bin kein Unmensch.“
Am nächsten Morgen zupfte Aylene lustlos an den Sträuchern. Zum ersten Mal kam ihr die Stille des Feldes wie eine Last vor, die sich wie kalter Nebel um ihr Gemüt legte. Als sie dann Hilde ihren Namen rufen hörte, war sie fast dankbar für die Angst, die ihre trüben Gedanken vertrieb. Sie schloss ihre Augen und holte tief Luft, dann ging sie mit müden Schritten aus dem Feld heraus auf den Weg, wo Hilde auf sie wartete.
„Ragar und Keron sind einverstanden, dass du mir in den nächsten Tagen im Haus hilfst“, rief die Bäuerin ihr gut gelaunt zu. Sie wartete ungeduldig, bis Aylene sie erreichte, um sie dann mit einer Geste zum Mitkommen aufzufordern.
„Keron war gestern Abend sehr wütend über Farah“, erzählte sie dabei. „Er verbat ihr, dich wieder zu treffen, worüber sie völlig verzweifelt war.“
„Armes Kind“, meinte Aylene.
„Keron ging es auch nicht besser. Die Erkenntnis, dass seine Tochter wochenlang in deiner Nähe war, hatte ihn zunächst kopflos werden lassen. Er forderte sogar deine Abschiebung an die Soldaten, obwohl er inzwischen weiß, was das für dich bedeuten würde.“ Hilde warf ihr einen Blick zu. „Auch, wenn er es nie begreifen wird.“
Sie schwieg einige Schritte, dann sprach sie weiter: „Nach einigem Zureden wurde er endlich vernünftig und stimmte zu, dich auf den Hof zu holen. Dort kann er meinetwegen aufpassen, wenn Farah sich mit dir trifft.“
„Oh...Wie kann ich Euch dafür danken?“
Hilde blieb stehen und ein versonnenes Lächeln huschte zaghaft über ihr Gesicht. „Mir wurde schon gedankt.“ Ihr Blick kehrte zurück und sah Aylene ernst an. „Bitte enttäusche uns nicht.“
„Das werde ich nicht“, versprach Aylene fest. „Doch warum habt Ihr das für mich getan, obwohl ich eure Scheune anzündete und Farah verletzte?“, fragte sie.
„Ich tat es nicht für dich“, kam es etwas schroff von Hilde zurück und sie setzte den Weg fort. Nach einigen Schritten meinte sie versöhnlicher: „Gestern habe ich euch Beiden eine Weile zugesehen. Farah ist manchmal ungezogen, doch sie hat auch ein feines Gespür. Sie mag dich.“ Sie nickte bekräftigend mit dem Kopf. „Eigentlich war ich mir immer sicher, dass du kein böser Mensch bist. Das mit der Scheune war eine große Dummheit von dir. Mache es wieder gut, und wir werden dir verzeihen.“
Als Hilde und Aylene den Hof betraten, sahen Ragar und Keron sahen nur kurz von ihrer Arbeit an der großen Scheune auf. Farah dagegen ließ ihr Holzstück, an dem sie schnitzte, fallen und rannte freudenstrahlend auf Aylene zu. Es sah abenteuerlich aus, wie sie im Laufen mit ihrem großen Messer herumfuchtelte, doch ehe jemand reagieren erreichte sie Aylene und umarmte sie.
Ragar zog nur die Augenbraunen hoch, dann sägte er scheinbar unberührt an einem Brett weiter. Keron, der seiner Tochter hinterhergelaufen war, blieb auf halber Strecke stehen und sah verwundert dem Treiben zu. Er konnte nicht verstehen, was die Beiden sich sagten, nur sehen, wie Farah einmal zu Aylene hoch sah, die ihr daraufhin kopfschüttelnd eine Haarsträhne aus dem Gesicht schob.
Schließlich löste sich Farah aus Aylenes Armen.
„Komm, ich zeig dir, was ich mache“, sagte sie und zog sie am Arm näher zur Scheune.
Deren Wand erstreckte sich über acht Schritte in die Länge und zweieinhalb Mann in die Höhe, wo sie in das weiter aufstrebende Lattengerüst des Daches überging. Die Holzkonstruktion ruhte auf einem knapp kniehohen Steinsockel, und die bereits fertig gestellte Wandung bestand an der Außenseite aus senkrechten Planken. Stumpf aneinandergefügt ergaben sie eine ebenmäßige Fläche, die nur von drei kleinen Fenstern und einer Tür unterbrochen wurde. Außerdem wurde sie von drei Lattenreihen wie von Gürteln umlaufen, eine am Sockel, eine an der Dachkante und eine, auffällig breitere Reihe, in der Mitte.
Farah deutete auf die mittlere umlaufende Lattenreihe. Aylene konnte jetzt aus der Nähe erkennen, dass sie aus zahlreichen Segmenten bestand, von denen einige mit eingeschnitzten Motiven verziert waren. Sie schienen ausnahmslos Pflanzen und Tiere darzustellen, auch wenn Aylene nicht alle davon erkannte.
„Die habe ich gemacht. Gefallen sie dir?“
„Donnerwetter!“, entfuhr es Aylene, „Sind die aber schön. Sind die wirklich alle von dir?“
„Natürlich. Ich zeichne sie erst vor, dann ritze ich sie ein. Manche hat auch Keron gezeichnet, aber die meisten habe ich ganz alleine gemacht.“
Aylene betrachtete nachdenklich ein auffallend großes und detailreiches Tierbild.
„Das hier ist besonders schön. Was für ein Tier ist das?“
„Ein Gesko.“
„Ein Gesko? Davon habe ich noch nie etwas gehört.“
„Das musst du Keron fragen. Er hat es gezeichnet.“
Aylene zögerte, dann drehte sie sich um. Keron stand etwa zwei Schritte entfernt und sah sie mit undurchdringlicher Miene an.
„Geskos leben in den nördlichen Wäldern“, sagte er knapp.
„Bei den Druidenvölkern und Waldläufern?“, fragte sie weiter.
„Ja. Du solltest jetzt zu Hilde gehen, sie wartet schon auf dich“, erwiderte er und deutete auf das Haus. „Sie ist bestimmt in der Küche, die ist gleich rechts im Haus.“
Aylene nickte langsam, dann sah sie zu Farah, die etwas bedrückt wirkte. „Ich muss arbeiten. Bestimmt kannst du mir später alle Bilder zeigen.“
Sie sah, wie Farahs Gesicht sich etwas aufhellte, dann drehte sie sich um und ging zum Haus.
Hilde befand sich tatsächlich in ihrer Küche. Sie hatte angefangen, einen Hefeteig zu kneten, doch als Aylene eintrat stand sie reglos am Arbeitstisch und sah mit einem feinen Lächeln durch das offene Fenster hinaus auf den Hof. Ohne fortzusehen, winkte sie Aylene zu sich.
„Schau nur, aber gehe nicht zu nahe an das Fenster“, flüsterte sie verschwörerisch.
Draußen standen Farah und Keron noch immer vor der Scheune. Beide schienen aufgeregt miteinander zu diskutieren. Aylene konnte nichts verstehen, denn Ragar sägte weiterhin Bretter, doch es war gut zu erkennen, wie Farah manchmal aufgeregt auf ihren Vater zeigte und der dann beschwichtigend seine Hände anhob.
„Die Beiden streiten sich über dich“, meinte Hilde. „Natürlich wird sich Farah durchsetzen.“ Sie lachte leise. „Sonst ärgere ich mich darüber, aber dieses Mal ist es gut so.“
„Was macht Euch so sicher?“
„Vielleicht mein Alter?“, meinte Hilde knapp und wandte sich wieder dem Teig zu. Der Tisch knarrte leicht unter ihren Anstrengungen. „Das wird ein Apfelkuchen. Keron mag ihn am liebsten mit diesem festen Teig.“ Sie sah auf. „Er hat es noch am schwersten.“
„Warum tut Ihr das für mich?“
„Hass hat noch nie genutzt, er wird nur genutzt.“ Ihr Gesicht verfinsterte sich. „Das haben wir selbst erlebt...“ Fahrig wischte sie sich über das Gesicht, um die dunklen Erinnerungen zu verscheuchen. „Das verstehst du nicht. Lass es uns einfach versuchen.“ Übergangslos lächelte sie wieder und deutete auf eine Schüssel. „Du kannst die Äpfel schälen und schneiden.“
Gegen Mittag versammelte sich die gesamte Familie in der Küche zum Essen. Als Erste traf Farah ein. Sie lief sofort zu dem großen Tisch, der groß und wuchtig die linke Raumhälfte einnahm, und kletterte auf die Sitzbank. Aylene, die den Unmut in Hildes Gesicht erkannte, ging zu Farah und flüsterte etwas in ihr Ohr, die daraufhin weniger begeistert zum Spülbecken ging und sich die Hände wusch.
Kaum war Farah wieder zurück zur Bank gelaufen, da betrat Keron den Raum. Er wirkte verschlossen, als er sich ohne umzusehen neben seine Tochter setzte. Kurz darauf folgte Ragar. Auch er verlor kein Wort und wirkte ungewöhnlich ernst, als er zu seinem angestammten Platz ging, dem Stuhl am dem Hausinneren zugewandten Stirnende des Tisches, doch im Gegensatz zu seinem Sohn wirkte er nicht angespannt.
Farah beobachtete mit wachen Augen Aylenes Hände, während sie die Teller und Löffel auf dem Tisch verteilten. Unruhig trommelten dabei ihre Fersen gegen die hölzerne Bank, bis Keron sie anstieß. Sie hielt inne, doch dann erklang wieder das dumpfe Klopfen. Ragar, der bisher völlig ruhig geblieben war, warf ihr, ohne den Kopf zu bewegen, einen mahnenden Blick zu. Mit einem unschuldigen Lächeln hielt sie erneut inne, doch die Anstrengung und innere Unruhe waren ihr deutlich anzusehen.
Als Hilde die Suppe zum Tisch trug, wollte Aylene die Küche verlassen, um in der kleinen Scheune etwas von ihrem aufgesparten Brot zu essen, doch die Bäuerin hielt sie mit einem Zuruf zurück:
„Aylene, wohin willst du?“ Sie stellte den Topf auf den Tisch, er war aus schwerem Gusseisen und gut gefüllt, und sah Farah fragend an.
„Ich habe nichts gesagt“, reagierte das Mädchen auf die unausgesprochene Frage. „Das hatte ich doch versprochen.“
„Ich wollte abwarten, bis es alle hören können“, mischte sich Ragar ein und winkte Aylene herbei. Er sah sie betont ernst an. „Ab heute sollst du zusammen mit uns essen.“
„Was?...Ich...“, stammelte Aylene überrascht. Über Ragars Gesicht huschte ein verschmitztes Lächeln, dann wurde er wieder ernst und wandte sich ab.
„Du hast doch gehört“, meinte Hilde burschikos und stellte demonstrativ einen zweiten Stuhl an den Tisch. „Setz dich nur, ich bringe dir noch einen Teller.“
Völlig überrumpelt nahm Aylene Platz. Hilflos blickte sie in die Runde. Zuerst sah sie die gegenübersitzende Farah an, sie schien sich zu freuen und strahlte Aylene gerade zu an. Dann glitten ihre Augen weiter zu Keron. Der bemerkte ihren Blick nicht, weil er seit Ragars Worten sichtlich verärgert auf den Tisch starrte. Schließlich sah sie zu Ragar, der scheinbar gleichgültig längs über den Tisch blickte.
„Warum?...“
„Weil ich es so will“, antwortete Ragar knapp und griff ohne eine weitere Erklärung zu der Suppenkelle.
Nachdem Ragar sich bedient hatte, übernahm Keron die Suppenkelle und schöpfte erst seiner Tochter, dann sich selbst auf. Während er mit unbewegtem Gesicht in seiner Suppe rührte, blies Farah kräftig in sie, bis Hilde ihr einen strengen Blick zuwarf. Das Mädchen fing nun ebenfalls an zu rühren, wenn auch sichtlich ungeduldiger als ihr Vater.
Hilde, die es gewohnt war, immer als Letzte zu nehmen, zögerte einen Moment, dann bediente sie sich. Auffordernd schob sie danach den Kellengriff zu der links neben ihr sitzenden Aylene, doch die zögerte auch jetzt noch. Kurzerhand griff Hilde erneut zu und schöpfte ihr zwei Kellen voll auf den Teller.
Es war still während des Essens, lediglich das Klappern und Schaben der eisernen Löffel auf den gebrannten Tontellern war zu hören. Es war der Hunger und die heiße Suppe, welche die Aufmerksamkeit der Familie beanspruchten, so sehr, dass selbst Farah nicht gleich bemerkte, wie Aylene regungslos in ihren Teller starrte. Doch dann war sie die Erste, die innehielt. Mit einem Schlag wurde es völlig still, und jetzt konnte jeder das leise Schluchzen hören.
„Was ist denn?“, fragte Farah vorsichtig.
Verschämt verbarg Aylene ihr Gesicht in den Händen und krümmte sich weiter zusammen, doch es dauerte nicht lange, bis die Tränen zwischen den Fingern hindurchliefen und in die dampfende Suppe tropften.
„Was hat sie denn?“, fragte Farah erneut und sah Keron an. Doch ihr Vater reagierte nicht, er starrte nur Aylene an. Verunsichert sah sie zu Hilde hinüber, die ihr mit einem leichten Lächeln beruhigend zunickte.
„Keine Sorge, mein Kind. Aylene freut sich nur.“
„Sie freut sich? Aber sie weint doch, das verstehe ich nicht.“
„Es ist aber so“, meinte Hilde und legte eine Hand auf Aylenes Schultern. Wie bei einem Kind fuhr sie sanft über ihren Rücken, doch anstatt sich zu beruhigen, fing Aylene an, nun hemmungslos zu schluchzen.
Es dauerte einige Minuten, bis Aylene sich wieder beruhigt hatte. Mit einer entschuldigenden Geste half Hilde ihr zum Spülbecken, um sich mit dem kalten Wasser zu erfrischen. Als sie zurückkamen, wich Keron immer noch ihrem Blick aus, doch statt Zorn spiegelte sich nun Nachdenklichkeit in seinem Gesicht.
Nach dem Essen lehnte Ragar sich in seinem Stuhl zurück und ließ den Blick über alle streifen.
„Es gibt gute Nachrichten“, fing er an. „Die Preise für Strauchwolle sind in diesem Jahr ungewöhnlich hoch, so konnte ich für unsere Ernte genügend bekommen, um nicht nur das Holz für die Scheune bezahlen zu können, sondern wir werden damit auch gut über die Runden kommen.“
„Wir müssen also nichts verkaufen?“, fragte Hilde.
„Nein“, antwortete Ragar und streichelte die Hand seiner Frau, wobei er mit ihrem Ring spielte. „Es waren schwere Zeiten, doch ich habe immer an uns geglaubt.“
Aylene summte eine einfache Melodie, als sie aus dem Feld hervortrat und zu dem am Wegesrand liegenden Sack ging. Sie ließ ihren Sammelbeutel von der Schulter gleiten und fing an, die Strauchwolle fest in den Sack zu stopfen, als ein Rascheln der Sträucher sie zurückblicken ließ. Es war Farah, die ihr, ihren Sammelbeutel nachlässig hinter sich herschleifend, folgte.
„Schön, dass du mir hilfst“, rief Aylene ihr zu.
„Es macht mir Spaß“, meinte das Mädchen und ließ den Beutel los. Ihr braungebranntes Gesicht glänzte in der bereits tiefstehenden Sonne, doch von Müdigkeit war keine Spur zu entdecken. „Und du hast mehr Zeit.“
Aylene lächelte. „Das stimmt natürlich. Willst du klettern oder schwimmen?“
„Beides!“ Sie deutete auf ihren prall gefüllten Beutel. „Ich habe mich extra angestrengt, damit wir gleich los können. Das reicht doch, oder?“
„Mehr, als ich den ganzen Tag lang geschafft hätte“, lachte Aylene und strich ihr anerkennend über den Kopf, dann füllte sie auch deren Ernte in den großen Sack um. Als sie anfing, einige Strauchwollfasern auf Farahs Haar zu zupfen wurde diese unruhig und tauchte schließlich unter der suchenden Hand weg.
„Ich kann das alleine“, knurrte das Mädchen und rannte los. „Komm lieber!“, rief sie über ihre Schulter und lief quer über den Weg zu einigen dort stehenden Bäumen.
Aylene seufzte belustigt auf, stopfte hastig die restliche Ernte in den Sack und verschnürte ihn mit einem Hanfseil.
Aylene ging mit schwenkenden Armen, sie waren durch das stundenlange Pflücken etwas steif geworden, zu den Bäumen und sah sich suchend um.
„Wo steckst du denn?“, rief sie.
„Hier oben!“
Sie blickte hoch und entdeckte das Mädchen auf einem riesigen Birnbaum, wie sie sich auf einem dicken Ast entlang balancierte. Trotz der beachtlichen Höhe hielt Farah sich dabei nur gelegentlich mit einer Hand an einem Zweig fest, bis sie ihr Ziel erreichte und nach dem Obst griff.
„Irgendwann fällst du noch runter“, mahnte Aylene, doch in ihrer Stimme lag keine Schärfe.
„Glaube ich nicht“, kam es frech zurück.
Farah zog an der Frucht, und als sie sich löste, fing sie das Schaukeln der Äste so geschickt mit den Beinen ab, dass ihr Oberkörper ruhig blieb.
„Die Birnen sind endlich reif“, rief sie fröhlich hinunter. „Ich mag sie lieber als Äpfel. Hier, fang!“
Aylene fing die Birne auf. Sie war ungewöhnlich groß, etwa wie die Faust eines Mannes, von grünlichem Gelb und mit braunen Punkten übersät.
„Vorsicht!“, rief Farah herab, dann sprang sie auch schon. Mit wirbelnden Armen fiel sie herab und rollte sich überschlagend am Boden ab.
„Aua!“, rief sie und blieb mit weit abgespreizten Gliedern auf dem Rücken liegen.
„Wieso ‚Aua’? Wegen des Hopsers?“, neckte Aylene das Mädchen und biss betont gleichgültig in ihre Birne.
Farah funkelte sie leicht enttäuscht an. „Alte Spielverderberin!“ Ohne aufzustehen, winkelte sie ihren Arm an. In der Hand hielt sie eine zweite Birne, die alles unbeschadet überstanden hatte, und biss hinein. Sie sah dabei einer ziehenden Wolke zu, bis sie mit vollem Mund fragte: „Aylene, du erzählst immer von den Sternen. Was findest du an ihnen so besonders? Für mich sind das nur irgendwelche Lichtpunkte.“
„Sie haben mich schon immer fasziniert“, meinte Aylene und legte sich neben Farah auf den Boden. Sie hob eine Hand und deutete in den Himmel. „Diese Lichter müssen sehr groß und sehr weit entfernt sein.“
„Manchmal redest du so seltsam. Was bedeutet ‚fasziniert’?“
„Ach, das ist nur so ein Wort, das ich gelernt habe. Es bezeichnet einen fesselnden Anblick.“
„‚Fesselnder Anblick’, wie komisch das klingt. Nein, ‚faszinierend’ klingt schöner ... ‚faszinierend’ ... ja, das gefällt mir.“
Als Aylene nichts sagte, drehte Farah ihren Kopf und sah sie seitlich an. „Ist etwas?“, fragte sie.
„Nein ...“, kam es schleppend zurück, „Nein ... Die Sterne, sie sind überall gleich. Egal, wo ich bin, hier oder Zuhause, sie sind immer gleich ...“ Sie sah jetzt Farah an. „Verstehst du das?“
„Nein“, antwortete Farah vorsichtig, „aber ich wollte dich nicht traurig machen.“
„Natürlich nicht.“ Aylene wischte sich über das Gesicht, straffte sich und stand auf. „Komm, lass uns jetzt zum See gehen. Dort kannst du die Felswand raufklettern und danach schwimmen wir noch.“
Sie reichte Farah die Hand und zog sie mit einem kräftigen Ruck hoch.
„Willst du nicht auch klettern?“, fragte das Mädchen. „Wir könnten um die Wette machen, dann springen wir von oben in den See und ...“
„Du springst nicht vom Felsen aus!“, fuhr Aylene ihr dazwischen. „Ich habe dir schon hundert Mal gesagt, das Wasser ist dort viel zu flach dafür.“
„Och, nur einmal.“
„Nein!“
„Das ist gemein!“, meinte Farah, doch ihre Stimme klang nicht beleidigt. „Aber wir klettern zusammen?“
„Na schön“, seufzte Aylene. „Eigentlich wollte ich mich etwas ausruhen.“
Aylene sah, wie Farah plötzlich an ihr vorbeiblickte. Sie drehte sich um, doch bereits während der Bewegung klang Hildes Stimme auf:
„Habe ich mir doch gedacht, dass du hier bist.“
Die Bäuerin trat bis auf zwei Schritte heran und sah Farah, die sich hinter Aylene zu verstecken schien, streng an.
„Komm gefälligst hervor, damit ich dich richtig ansehen kann!“
Farah schlich seitlich hervor. Hilde sah das Kind mit strengem Blick an, bis es schuldbewusst den Kopf senkte.
„Darfst du hier sein?“, fragte sie scharf.
„...nein....“, antwortete Farah kleinlaut.
Hilde wartete, bis ihre Enkeltochter anfing, verlegen von einem Fuß auf den anderen zu treten. Dann streckte sie ihren Arm aus und deutete in einem weiten Bogen in Richtung zum Hof. „Ab nach Hause! Wir reden später weiter.“
Aylene berührte Farah am Arm.
„Hab keine Angst“, flüsterte sie ihr leise zu und gab ihr einen unmerklichen Schubs.
Das Kind ging langsam zum Weg, dabei wich sie Hilde aus, deren Blick sie verfolgte. Am Weg blieb sie noch einmal stehen.
„Bitte tue ihr nichts, Großmutter“, bat sie.
„Nein“, antwortete Hilde, „sie hat doch nichts getan. Und jetzt geh!“
Aylene konnte Farah noch aufmunternd zunicken, dann drehte sich das Kind endgültig um und stapfte schwermütig den Weg fort.
Als Farah außer fort war, wandte sie sich Aylene zu, doch ohne sie wirklich anzusehen.
„Angelogen hat sie mich!“, klagte sie und der Zorn war ihr anzusehen. „Mich einfach angelogen. Warum nur?“ Sie ging ohne sie zu beachten an Aylene vorbei zu einem Baumstumpf und setzte sich. „Warum nur?“, wiederholte sie, und statt Zorn lag nun Nachdenklichkeit in ihrer Stimme. „Warum nur?“ Schwer legte sie ihr Gesicht in ihre Hände und verstummte.
„Herrin...“, fragte Aylene vorsichtig.
„Bitte nenne mich nicht immer so“, murmelte Hilde in ihre Hände und sah auf. „Wie soll dieses ungezogene Mädchen je einen Mann finden? Keron verwöhnt sie nur. Ich versuche sie zu erziehen, doch nun misstraut sie mir, ihrer eigenen Großmutter“, sagte sie mit bitterer Stimme.
„Nein. Entschuldigt, dass ich widerspreche, doch Farah ist nur ein Kind. Ihr habt ihr etwas verboten, das sie nicht einsieht. Da blieb ihr nichts anderes übrig als zu lügen, aber sie meint es nicht böse und sie misstraut Euch nicht. Sie liebt Euch.“
„Das sagst du doch nur, um mir zu schmeicheln.“
Aylene schüttelte ihren Kopf. „Ich kenne Farah jetzt seit drei Wochen, und sie hat nie etwas Schlechtes über Euch gesagt. Im Gegenteil, sie lobte Euch.“
„Wie meinst du das?“
„Nun ... Zum Beispiel hat sie mir erzählt, dass Ihr einen Kirschkuchen gebacken habt. Darüber hat sie sich sehr gefreut, denn es sei ihr Lieblingskuchen.“
„Das war nur ein Kuchen.“
„Farah hat sehr sohl begriffen, dass der Kuchen für sie war, und darüber hat sie sich gefreut.“
„Wirklich?“
„Ja!“
Hilde saß einige Minuten lang nachdenklich da, dann stand sie auf. „Ich muss mich jetzt um Farah kümmern“, meinte sie.
„Bitte bestraft sie nicht zu streng.“
„Was soll ich machen? Sie hat immer noch gelogen.“
„Sie tat es nicht für sich, sondern um mich zu schützen.“
„Um dich zu schützen?“, fragte Hilde.
„Bei unserer ersten Begegnung habe ich sie erschreckt, wodurch sie stolperte und sich am Arm verletzte. Sie wollte nicht, dass man mir die Schuld dafür gibt, deshalb fing sie an zu lügen.“
„Ach, deshalb tat sie so damals geheimnisvoll.“ Hilde kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe herum, dann nickte sie. „Keine Sorge, ich bin kein Unmensch.“
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Am nächsten Morgen zupfte Aylene lustlos an den Sträuchern. Zum ersten Mal kam ihr die Stille des Feldes wie eine Last vor, die sich wie kalter Nebel um ihr Gemüt legte. Als sie dann Hilde ihren Namen rufen hörte, war sie fast dankbar für die Angst, die ihre trüben Gedanken vertrieb. Sie schloss ihre Augen und holte tief Luft, dann ging sie mit müden Schritten aus dem Feld heraus auf den Weg, wo Hilde auf sie wartete.
„Ragar und Keron sind einverstanden, dass du mir in den nächsten Tagen im Haus hilfst“, rief die Bäuerin ihr gut gelaunt zu. Sie wartete ungeduldig, bis Aylene sie erreichte, um sie dann mit einer Geste zum Mitkommen aufzufordern.
„Keron war gestern Abend sehr wütend über Farah“, erzählte sie dabei. „Er verbat ihr, dich wieder zu treffen, worüber sie völlig verzweifelt war.“
„Armes Kind“, meinte Aylene.
„Keron ging es auch nicht besser. Die Erkenntnis, dass seine Tochter wochenlang in deiner Nähe war, hatte ihn zunächst kopflos werden lassen. Er forderte sogar deine Abschiebung an die Soldaten, obwohl er inzwischen weiß, was das für dich bedeuten würde.“ Hilde warf ihr einen Blick zu. „Auch, wenn er es nie begreifen wird.“
Sie schwieg einige Schritte, dann sprach sie weiter: „Nach einigem Zureden wurde er endlich vernünftig und stimmte zu, dich auf den Hof zu holen. Dort kann er meinetwegen aufpassen, wenn Farah sich mit dir trifft.“
„Oh...Wie kann ich Euch dafür danken?“
Hilde blieb stehen und ein versonnenes Lächeln huschte zaghaft über ihr Gesicht. „Mir wurde schon gedankt.“ Ihr Blick kehrte zurück und sah Aylene ernst an. „Bitte enttäusche uns nicht.“
„Das werde ich nicht“, versprach Aylene fest. „Doch warum habt Ihr das für mich getan, obwohl ich eure Scheune anzündete und Farah verletzte?“, fragte sie.
„Ich tat es nicht für dich“, kam es etwas schroff von Hilde zurück und sie setzte den Weg fort. Nach einigen Schritten meinte sie versöhnlicher: „Gestern habe ich euch Beiden eine Weile zugesehen. Farah ist manchmal ungezogen, doch sie hat auch ein feines Gespür. Sie mag dich.“ Sie nickte bekräftigend mit dem Kopf. „Eigentlich war ich mir immer sicher, dass du kein böser Mensch bist. Das mit der Scheune war eine große Dummheit von dir. Mache es wieder gut, und wir werden dir verzeihen.“
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Als Hilde und Aylene den Hof betraten, sahen Ragar und Keron sahen nur kurz von ihrer Arbeit an der großen Scheune auf. Farah dagegen ließ ihr Holzstück, an dem sie schnitzte, fallen und rannte freudenstrahlend auf Aylene zu. Es sah abenteuerlich aus, wie sie im Laufen mit ihrem großen Messer herumfuchtelte, doch ehe jemand reagieren erreichte sie Aylene und umarmte sie.
Ragar zog nur die Augenbraunen hoch, dann sägte er scheinbar unberührt an einem Brett weiter. Keron, der seiner Tochter hinterhergelaufen war, blieb auf halber Strecke stehen und sah verwundert dem Treiben zu. Er konnte nicht verstehen, was die Beiden sich sagten, nur sehen, wie Farah einmal zu Aylene hoch sah, die ihr daraufhin kopfschüttelnd eine Haarsträhne aus dem Gesicht schob.
Schließlich löste sich Farah aus Aylenes Armen.
„Komm, ich zeig dir, was ich mache“, sagte sie und zog sie am Arm näher zur Scheune.
Deren Wand erstreckte sich über acht Schritte in die Länge und zweieinhalb Mann in die Höhe, wo sie in das weiter aufstrebende Lattengerüst des Daches überging. Die Holzkonstruktion ruhte auf einem knapp kniehohen Steinsockel, und die bereits fertig gestellte Wandung bestand an der Außenseite aus senkrechten Planken. Stumpf aneinandergefügt ergaben sie eine ebenmäßige Fläche, die nur von drei kleinen Fenstern und einer Tür unterbrochen wurde. Außerdem wurde sie von drei Lattenreihen wie von Gürteln umlaufen, eine am Sockel, eine an der Dachkante und eine, auffällig breitere Reihe, in der Mitte.
Farah deutete auf die mittlere umlaufende Lattenreihe. Aylene konnte jetzt aus der Nähe erkennen, dass sie aus zahlreichen Segmenten bestand, von denen einige mit eingeschnitzten Motiven verziert waren. Sie schienen ausnahmslos Pflanzen und Tiere darzustellen, auch wenn Aylene nicht alle davon erkannte.
„Die habe ich gemacht. Gefallen sie dir?“
„Donnerwetter!“, entfuhr es Aylene, „Sind die aber schön. Sind die wirklich alle von dir?“
„Natürlich. Ich zeichne sie erst vor, dann ritze ich sie ein. Manche hat auch Keron gezeichnet, aber die meisten habe ich ganz alleine gemacht.“
Aylene betrachtete nachdenklich ein auffallend großes und detailreiches Tierbild.
„Das hier ist besonders schön. Was für ein Tier ist das?“
„Ein Gesko.“
„Ein Gesko? Davon habe ich noch nie etwas gehört.“
„Das musst du Keron fragen. Er hat es gezeichnet.“
Aylene zögerte, dann drehte sie sich um. Keron stand etwa zwei Schritte entfernt und sah sie mit undurchdringlicher Miene an.
„Geskos leben in den nördlichen Wäldern“, sagte er knapp.
„Bei den Druidenvölkern und Waldläufern?“, fragte sie weiter.
„Ja. Du solltest jetzt zu Hilde gehen, sie wartet schon auf dich“, erwiderte er und deutete auf das Haus. „Sie ist bestimmt in der Küche, die ist gleich rechts im Haus.“
Aylene nickte langsam, dann sah sie zu Farah, die etwas bedrückt wirkte. „Ich muss arbeiten. Bestimmt kannst du mir später alle Bilder zeigen.“
Sie sah, wie Farahs Gesicht sich etwas aufhellte, dann drehte sie sich um und ging zum Haus.
Hilde befand sich tatsächlich in ihrer Küche. Sie hatte angefangen, einen Hefeteig zu kneten, doch als Aylene eintrat stand sie reglos am Arbeitstisch und sah mit einem feinen Lächeln durch das offene Fenster hinaus auf den Hof. Ohne fortzusehen, winkte sie Aylene zu sich.
„Schau nur, aber gehe nicht zu nahe an das Fenster“, flüsterte sie verschwörerisch.
Draußen standen Farah und Keron noch immer vor der Scheune. Beide schienen aufgeregt miteinander zu diskutieren. Aylene konnte nichts verstehen, denn Ragar sägte weiterhin Bretter, doch es war gut zu erkennen, wie Farah manchmal aufgeregt auf ihren Vater zeigte und der dann beschwichtigend seine Hände anhob.
„Die Beiden streiten sich über dich“, meinte Hilde. „Natürlich wird sich Farah durchsetzen.“ Sie lachte leise. „Sonst ärgere ich mich darüber, aber dieses Mal ist es gut so.“
„Was macht Euch so sicher?“
„Vielleicht mein Alter?“, meinte Hilde knapp und wandte sich wieder dem Teig zu. Der Tisch knarrte leicht unter ihren Anstrengungen. „Das wird ein Apfelkuchen. Keron mag ihn am liebsten mit diesem festen Teig.“ Sie sah auf. „Er hat es noch am schwersten.“
„Warum tut Ihr das für mich?“
„Hass hat noch nie genutzt, er wird nur genutzt.“ Ihr Gesicht verfinsterte sich. „Das haben wir selbst erlebt...“ Fahrig wischte sie sich über das Gesicht, um die dunklen Erinnerungen zu verscheuchen. „Das verstehst du nicht. Lass es uns einfach versuchen.“ Übergangslos lächelte sie wieder und deutete auf eine Schüssel. „Du kannst die Äpfel schälen und schneiden.“
*
Gegen Mittag versammelte sich die gesamte Familie in der Küche zum Essen. Als Erste traf Farah ein. Sie lief sofort zu dem großen Tisch, der groß und wuchtig die linke Raumhälfte einnahm, und kletterte auf die Sitzbank. Aylene, die den Unmut in Hildes Gesicht erkannte, ging zu Farah und flüsterte etwas in ihr Ohr, die daraufhin weniger begeistert zum Spülbecken ging und sich die Hände wusch.
Kaum war Farah wieder zurück zur Bank gelaufen, da betrat Keron den Raum. Er wirkte verschlossen, als er sich ohne umzusehen neben seine Tochter setzte. Kurz darauf folgte Ragar. Auch er verlor kein Wort und wirkte ungewöhnlich ernst, als er zu seinem angestammten Platz ging, dem Stuhl am dem Hausinneren zugewandten Stirnende des Tisches, doch im Gegensatz zu seinem Sohn wirkte er nicht angespannt.
Farah beobachtete mit wachen Augen Aylenes Hände, während sie die Teller und Löffel auf dem Tisch verteilten. Unruhig trommelten dabei ihre Fersen gegen die hölzerne Bank, bis Keron sie anstieß. Sie hielt inne, doch dann erklang wieder das dumpfe Klopfen. Ragar, der bisher völlig ruhig geblieben war, warf ihr, ohne den Kopf zu bewegen, einen mahnenden Blick zu. Mit einem unschuldigen Lächeln hielt sie erneut inne, doch die Anstrengung und innere Unruhe waren ihr deutlich anzusehen.
Als Hilde die Suppe zum Tisch trug, wollte Aylene die Küche verlassen, um in der kleinen Scheune etwas von ihrem aufgesparten Brot zu essen, doch die Bäuerin hielt sie mit einem Zuruf zurück:
„Aylene, wohin willst du?“ Sie stellte den Topf auf den Tisch, er war aus schwerem Gusseisen und gut gefüllt, und sah Farah fragend an.
„Ich habe nichts gesagt“, reagierte das Mädchen auf die unausgesprochene Frage. „Das hatte ich doch versprochen.“
„Ich wollte abwarten, bis es alle hören können“, mischte sich Ragar ein und winkte Aylene herbei. Er sah sie betont ernst an. „Ab heute sollst du zusammen mit uns essen.“
„Was?...Ich...“, stammelte Aylene überrascht. Über Ragars Gesicht huschte ein verschmitztes Lächeln, dann wurde er wieder ernst und wandte sich ab.
„Du hast doch gehört“, meinte Hilde burschikos und stellte demonstrativ einen zweiten Stuhl an den Tisch. „Setz dich nur, ich bringe dir noch einen Teller.“
Völlig überrumpelt nahm Aylene Platz. Hilflos blickte sie in die Runde. Zuerst sah sie die gegenübersitzende Farah an, sie schien sich zu freuen und strahlte Aylene gerade zu an. Dann glitten ihre Augen weiter zu Keron. Der bemerkte ihren Blick nicht, weil er seit Ragars Worten sichtlich verärgert auf den Tisch starrte. Schließlich sah sie zu Ragar, der scheinbar gleichgültig längs über den Tisch blickte.
„Warum?...“
„Weil ich es so will“, antwortete Ragar knapp und griff ohne eine weitere Erklärung zu der Suppenkelle.
Nachdem Ragar sich bedient hatte, übernahm Keron die Suppenkelle und schöpfte erst seiner Tochter, dann sich selbst auf. Während er mit unbewegtem Gesicht in seiner Suppe rührte, blies Farah kräftig in sie, bis Hilde ihr einen strengen Blick zuwarf. Das Mädchen fing nun ebenfalls an zu rühren, wenn auch sichtlich ungeduldiger als ihr Vater.
Hilde, die es gewohnt war, immer als Letzte zu nehmen, zögerte einen Moment, dann bediente sie sich. Auffordernd schob sie danach den Kellengriff zu der links neben ihr sitzenden Aylene, doch die zögerte auch jetzt noch. Kurzerhand griff Hilde erneut zu und schöpfte ihr zwei Kellen voll auf den Teller.
Es war still während des Essens, lediglich das Klappern und Schaben der eisernen Löffel auf den gebrannten Tontellern war zu hören. Es war der Hunger und die heiße Suppe, welche die Aufmerksamkeit der Familie beanspruchten, so sehr, dass selbst Farah nicht gleich bemerkte, wie Aylene regungslos in ihren Teller starrte. Doch dann war sie die Erste, die innehielt. Mit einem Schlag wurde es völlig still, und jetzt konnte jeder das leise Schluchzen hören.
„Was ist denn?“, fragte Farah vorsichtig.
Verschämt verbarg Aylene ihr Gesicht in den Händen und krümmte sich weiter zusammen, doch es dauerte nicht lange, bis die Tränen zwischen den Fingern hindurchliefen und in die dampfende Suppe tropften.
„Was hat sie denn?“, fragte Farah erneut und sah Keron an. Doch ihr Vater reagierte nicht, er starrte nur Aylene an. Verunsichert sah sie zu Hilde hinüber, die ihr mit einem leichten Lächeln beruhigend zunickte.
„Keine Sorge, mein Kind. Aylene freut sich nur.“
„Sie freut sich? Aber sie weint doch, das verstehe ich nicht.“
„Es ist aber so“, meinte Hilde und legte eine Hand auf Aylenes Schultern. Wie bei einem Kind fuhr sie sanft über ihren Rücken, doch anstatt sich zu beruhigen, fing Aylene an, nun hemmungslos zu schluchzen.
Es dauerte einige Minuten, bis Aylene sich wieder beruhigt hatte. Mit einer entschuldigenden Geste half Hilde ihr zum Spülbecken, um sich mit dem kalten Wasser zu erfrischen. Als sie zurückkamen, wich Keron immer noch ihrem Blick aus, doch statt Zorn spiegelte sich nun Nachdenklichkeit in seinem Gesicht.
Nach dem Essen lehnte Ragar sich in seinem Stuhl zurück und ließ den Blick über alle streifen.
„Es gibt gute Nachrichten“, fing er an. „Die Preise für Strauchwolle sind in diesem Jahr ungewöhnlich hoch, so konnte ich für unsere Ernte genügend bekommen, um nicht nur das Holz für die Scheune bezahlen zu können, sondern wir werden damit auch gut über die Runden kommen.“
„Wir müssen also nichts verkaufen?“, fragte Hilde.
„Nein“, antwortete Ragar und streichelte die Hand seiner Frau, wobei er mit ihrem Ring spielte. „Es waren schwere Zeiten, doch ich habe immer an uns geglaubt.“