Das Muster

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nding

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"Was für ein hässliches Muster", dachte ich mir, als ich auf den Zugsitz vor mir starrte. Obwohl ich die wirre Mischung aus gelben und orangenen Elementen auf blauem Hintergrund meinte, hätte man diesen Satz auch auf meinen erdrückenden Alltag beziehen können.
Es war kurz nach sieben am Abend. Wolkenformationen schoben sich zäh vor die Abendsonne. Der Himmel hatte rötliche Streifen wie bei gereizter Haut. Ich mache mich mit dem Zug auf den Weg nach Hause mit wie immer einem Kopfhörer im rechten Ohr und den Kopf nach links an die Fensterscheibe gelehnt. Durch den dünnen Schmutzfilm wirkte die Welt ein wenig blasser als sonst. Es war alles wie immer, auch als ein sonderbarer Mann einstieg. Er war etwas älter als ich und wurde von einer Alkoholfahne umwabert, die wie eine abstoßende Aura sämtliche Fahrgäste zurückweichen ließ. Im Stoff seiner Jackentasche konnte ich die Silhouette eines Flachmanns erspähen. Dieser Mann war stets betrunken und immer aggressiv.
Er taumelte in Richtung eines Sitzplatzes in meiner Nähe auf dem ein älterer Herr saß. Ich kannte diesen Mann. Es war Herr Beck, er arbeitet für die Tafel in meiner Stadt und ist eher gebrechlich. Er brauchte einen Sitzplatz.
"Hör mal gut zu Kollege. Du stehst jetzt auf. Na wirds bald?", lallte der Trinker durch das ganze Zugabteil. Ich sah mich um. Überall versenkten die Leute ihre Blicke tief in ihre Smartphones oder Zeitungen, nur Herr Beck starrte den Trinker sprachlos und schockiert an. Der Zug fuhr so abrupt los, dass alle stehenden Gäste ins schwanken gerieten. Der Trinker fiel und rappelte sich nur mühsam wieder auf. Seine Miene verfinsterte sich vor Zorn und er wandte sich wieder dem älteren Herren zu.
"Steh schon auf, du Platzverschwendung. Ohne Leute wie dich hätte ich mich nicht auf's Maul gelegt.", blaffte er ihn an. Immer noch schockiert stammelte Herr Beck eine Antwort.
"Ich bin untröstlich, ich bitte vielmals um Verzeihung. Sie können den Sitzplatz haben.". Er war sichtlich blass vor Angst. Blasser als die Hochhausfassaden durch die Fensterscheibe. Der Zug wurde schneller.
"Wir sind hier noch nicht fertig. Leuten wie dir muss man eine Lektion erteilen.", schnaufte der Trinker vor sich hin bevor er zum Schlag ausholte. Er schwang die Faust ziellos in Richtung Gesicht seines Gegenübers. Der Zug fing an zu ruckeln und meine Gedanken rasten so schnell dass sie ihn problemlos einholen könnten. Ich kniff die Augen zusammen und fing an nervös auf meiner Zunge zu kauen. Ich hörte das Knacken einer Nase, Schreie und Hilferufe. Doch sie kamen nirgends an. Die Musik meiner Kopfhörer wirkte schlichtweg fehl am Platz. Wie betäubt saßen die anderen Fahrgäste da. Würde ich etwa eingreifen müssen? Ich schaltete den Kopfhörer aus. Niemals hätte ich eine Chance gegen diesen Typen. Bei erneutem Aufblicken sah ich Blut in Herr Becks Gesicht. Er kauerte sich voller Schmerz an die schmutzige Zugwand neben den Sitzen. Er suchte mit seinen glasigen Augen um Hilfe und hielt sich eine Hand an die verformte Nase. Rotweinfarbenes Blut rieselte auf den Boden. Ein wirres, hässliches Muster.
Der Zug wurde langsamer und meine Haltestelle kam näher. Ich hatte etwa 20 Sekunden Zeit. So wenig Zeit die schwierigste Entscheidung meines Lebens zu treffen. Zivilcourage nannte sich das doch. Ich musste etwas tun. Aber was? Dem Typen eine reinhauen? Feuer mit Feuer bekämpfen? Der Zug hielt unbequem an. Türen gehen zischend auf. Das war meine Station. Ich zog die Kapuze über und ging wortlos an den beiden vorbei. Ein letzter Hilfeschrei von Herr Beck brach die ohrenbetäubenden Stille. Ich zögerte kurz, doch ging weiter. Ich konnte nichts tun. Der Trinker trat auf Herr Beck ein, ich trat aus dem Zug aus.
"Was zur Hölle glauben sie was sie da gerade tun?". Ich warf einen Blick zurück und sah wie ein relativ großer Mann, etwa Ende zwanzig den Trinker davon abhielt ein weiteres Mal auf Herr Beck einzuprügeln. Es entstand ein Wortgefecht dass ich nur halb mitbekam. Die Zugtüren schlossen sich und schnitten beiden das Wort ab. Ich stand alleine am Bahnhof.
Die Sonne ist untergegangen wie meine Laune. Ich zitterte aufgrund von äußerer und innerer Kälte. Ich habe nichts unternommen. Ich hätte das früher beenden können. Wer nicht hilft, ist Täter. Ich zog die Kapuze ab und mein Blick folgte dem abgefahrenen Zug in der diese abgefahrene Sache passiert ist. Das ist nicht das erste mal, aber garantiert das letzte mal. Ab morgen wird alles anders.
Ich werde das hässliche Muster unterbrechen.
 

Ji Rina

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Hallo Nding,

Herr Beck hat mir richtig leid getan. Ich könnte sowas nicht. Könnte mich nicht mehr im Spiegel ansehen.
Ein Text der zum Nachdenken bringt.
Vielleicht noch ein bisschen kürzen und gramm. aufbessern?
Mit Gruss, Ji
 

Baskerville

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Ich frage mich immer warum man nicht einfach andere Fahrgäste direkt anspricht und gemeinsam gegen solche Typen vorgeht, aber in dem Moment rasen wohl unzählige Gedanken kreuz und quer. Das Dumme bei mir ist, dass ich bei solchen Situationen einfach den Mund nicht halten kann, sowas hat mir schon in meiner Kindheit genug Ärger eingebracht, sowohl bei meinem Vater, als auch bei Schulschlägern. Ich kann nur hoffen, dass ich nie in diese Situation gerate sonst würde ich wohl mindestens ein paar gebrochene Rippen davongetragen....
'Rotweinfarbenes Blut rieselte auf den Boden'.....Ich finde Blut rieselt nicht, es tropft wohl eher....
und ja hier und da könnte man noch an Ausdruck und Grammatik herumfeilen, sonst aber eine wirklich gute Geschichte weil sie einen von Anfang an packt und man sich sehr leicht in die Lage des Zuggastes versetzen kann, selbst wenn man vielleicht ab einem bestimmten Punkt anders gehandelt hätte. Aber wer weiß das letztlich schon, oft zählen dabei nur Sekundenbruchteile....
 



 
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