Das Narrativ

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Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Über das Narrativ, oder: Wie das Märchen Karriere machte, Version 1.1

Als das Wünschen noch geholfen hat, entstand ein Wort. Und das Wort war: Narrativ.

Narrativ – das klingt gelehrt, nach PowerPoint-Folie mit Zitat von Foucault, nach Talkshow-Mikrofon mit Ton von Edison, das Theremin, das auch mal Philosophie spielt. Früher nannte man das Narrativ einfach „Geschichte“ oder „Erzählung“. Heute ist es ein Instrument. Ein Instrument, das klingt, wie das Summen einer Spule. Das Narrativ ist nicht mehr bloß eine Geschichte – es ist die Art, wie man Geschichte denkt, dreht, rahmt, verwaltet.

Narrativ ist das strategisch platzierte Gerücht mit Abschluss in Politologie.
Es trägt Sakko, wirkt überzeugend und sagt: „Ich bin kein Märchen. Ich bin strukturierte Wahrheit mit Zielgruppe. Ich bin der Kreis in der Umgebung aus Quadraten.“

Der Mensch ist ein erzählendes Tier, sagten die einen.
Der Mensch ist ein narrativer Algorithmus, sagen die anderen.
Das Ich, der Staat, die Nation, das Produkt – wir alle brauchen das Narrativ, um zu existieren. Wer keins hat, ist verdächtig. Wer ein falsches hat, wird korrigiert oder abgekanzelt.

Früher wurde gelogen, heute nicht mehr. Heute wird narratiert.
Narrativ ist keine Unwahrheit – es ist die Rahmung der möglichen Wahrheiten, der Ton, das Licht, der Soundtrack. Die Geschichte bleibt gleich, aber das Narrativ verändert, wer darin gut, wer böse, wer Opfer und wer Held ist. Das Narrativ passt ihn an.

In postfaktischen Zeiten ist das Narrativ das Faktische.
Und das Faktische? Es ist zu langsam, zu leise, zu kompliziert, noch schlimmer als das Kontrafaktische.
Narrativ ist schneller, hübscher, schneidet besser und steigert die Quote.

Es heißt: „Wir brauchen ein neues Narrativ!“
Nie aber heißt es: „Wir brauchen mehr Wahrheit.“
Wahrheit ist langweilig. Märchen sind effizient.

Tropische Algebra für Fortgeschrittene im Märchenland
Das Narrativ zum Narrativ ist die tropische Multiplikation:
Narrativ × Narrativ = Narrativ² = 2 × Narrativ
Da 2 × Narrativ = Narrativ + Narrativ, ergibt sich durch tropische Addition:
Narrativ + Narrativ = Narrativ.
Das bedeutet: So sehr man es auch vermehrt oder vermärt – es bleibt Narrativ.


Anmerkung des Herausgebers: Ich habe das Narrativ gut verfolgt und passe es nun an, wie es sich für ein gutes Narrativ gehört. Nichts stört so sehr wie die Meinung von gestern. Und ein Narrativ muss bekanntlich immer falsch und populistisch vereinfacht sein.




edit:
aus es wird ihn: Das Narrativ passt ihn an.
Zusatz: Das Narrativ zum Narrativ ist die tropische Multiplikation ff.
 
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Gut analysiert und hübsch attackiert.

Allerdings ist der heutige Gebrauch von "Erzählung" auch nicht immer so ganz harmlos. Ich erinnere mich, vor einiger Zeit mal eine wütende Zeitungskolumne darüber gelesen zu haben mit dem Titel "Erzähl mir nichts von der Erzählung!". Mit dem Wort Erzählung wird neuerdings auf zwei verschiedene Arten Schindluder getrieben. Einmal bedeutet es dann so viel wie Lügengeschichte zur Durchsetzung konkreter Interessen übler Art. Zum anderen gibt es sich wertfrei und meint etwas Technisches: die erfolgversprechende Konstruktion eines Sinnzusammenhangs, mit dem man die Öffentlichkeit beeinflussen kann. Beide Fälle haben nichts mit dem herkömmlichen Gattungsbegriff zu tun, sondern tendieren auch schon zu Narrativ.
 

wirena

Mitglied
...ja vielen herzlichen Dank Bernd für das Mitteilen Deiner Erfahrung, Deiner Gedanken. Ich habe mich schon lange gefragt, was eigentlich mit dem Begriff "Narrativ" gemeint ist - nun habe ich eine Grundlage, einen fundierten Ansatz für weiteres Reifen -

LG wirena
 
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Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo, danke sehr. Die wörtliche Übersetzung von Narrativ ist Erzählung, allerdings ist Erzählung ein falscher Freund, denke ich - oder halt eben ein Anglizismus, wenn es als "Narrativ" verwendet wird.

Wenn man etwas nachschaut, ist Narrativ eine vereinfachte Darstellung, die Dinge begreiflich machen soll.

[verbindende] sinnstiftende Erzählung
Es ist also nicht eine Definition oder eine Erklärung, sondern eher eine Änderung der Sprache (sinnstiftende Erzählung), oft im Sinne von 1984. Das wird aber regelmäßig angeführt und ebenso regelmäßig scharf bestritten.
Es ist eine Art Zugehörigkeitsanforderung und Bekenntnis.

Insofern ist Zuschreibung eines Narrativs gleichzeitig ein Narrativ, es ist also autolog, es gehört zu den Dingen, die sich selbst beschreiben.

Und es dient dem Gruppenzusammenhalt. Man darf es nicht ungestraft ändern, bis es geändert wird, dann gilt das neue.
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Allerdings ist der heutige Gebrauch von "Erzählung" auch nicht immer so ganz harmlos. Ich erinnere mich, vor einiger Zeit mal eine wütende Zeitungskolumne darüber gelesen zu haben mit dem Titel "Erzähl mir nichts von der Erzählung!".
Hier wird es sehr wahrscheinlich in der Kolumne im Sinne von "Narrativ" verwendet.
Es besteht sogar die Tendenz, dass die literarische Berdeutung von Erzählung als eine Form von erfundener Geschichte verschwindet.


mündliche oder schriftliche, in einen logischen Handlungsablauf gebrachte Schilderung eines tatsächlichen oder erdachten Geschehens, Ereignisses; Erzählung
Es wird heute eher zu einem (temporären) Glaubensgrundsatz in pseudoreligiösem Sinn.
 

James Blond

Mitglied
Ja, gut recherchiert und nett beschrieben. Allerdings macht das noch keine Satire. Du beginnst zunächst sehr schön satirisch-ironisch, (z.B. hier: "Narrativ ist das strategisch platzierte Gerücht mit Abschluss in Politologie.") gleitest dann aber Absatz für Absatz tiefer ins Moralische und damit in den Tod jeder Satire (und jedes Humors).

Für den Schluss fehlt dir noch die passende Pointe, stattdessen folgt eine Belehrung mit dem Holzhammer. Ich würde das streichen:

In postfaktischen Zeiten ist das Narrativ das Faktische.
Und das Faktische? Es ist zu langsam, zu leise, zu kompliziert, noch schlimmer als das Kontrafaktische.
Narrativ ist schneller, hübscher, schneidet besser und steigert die Quote.

Es heißt: „Wir brauchen ein neues Narrativ!“
Nie aber heißt es: „Wir brauchen mehr Wahrheit.“
Wahrheit ist langweilig. Märchen sind effizient.

Das Ich, der Staat, die Nation, das Produkt – wir alle brauchen das Narrativ, um zu existieren. Wer keins hat, ist verdächtig. Wer ein falsches hat, wird korrigiert oder abgekanzelt.
  • Ich würde das "wir" streichen.
  • Das passt nicht gut zusammen: Existenzverlust nur durch Verdacht oder Korrektur?
Die Geschichte bleibt gleich, aber das Narrativ verändert, wer darin gut, wer böse, wer Opfer und wer Held ist. Das Narrativ passt sich an.
Besser: Das Narrativ passt ihn an.

Ich finde, dein Text hat noch einiges Verbesserungspotenzial. Was du z. B. gar nicht ansprichst, ist das Narrativ zum Narrativ. Daraus ließe sich auch eine Schlusspointe erstellen.

Grüße
JB
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Danke, James, ich werde zwei Sachen übernehmen:

Die Geschichte bleibt gleich, aber das Narrativ verändert, wer darin gut, wer böse, wer Opfer und wer Held ist. Das Narrativ passt sich an.
Besser: Das Narrativ passt ihn an.

Ich finde, dein Text hat noch einiges Verbesserungspotenzial. Was du z. B. gar nicht ansprichst, ist das Narrativ zum Narrativ. Daraus ließe sich auch eine Schlusspointe erstellen.
Ich mache das im Text.

PS: "Gut recherchiert" ist Narrativ.
 
Zuletzt bearbeitet:

petrasmiles

Mitglied
Narrativ ist das strategisch platzierte Gerücht mit Abschluss in Politologie.
Es trägt Sakko, wirkt überzeugend und sagt: „Ich bin kein Märchen. Ich bin strukturierte Wahrheit mit Zielgruppe. Ich bin der Kreis in der Umgebung aus Quadraten.“
Ein wunderbarer Satz, der alles erklärt.
Vielleicht schon zu 'wahr', um 'satirisch' zu sein?
Egal!

Liebe Grüße
Petra
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Danke sehr.
Es gibt ein altes Motto: "Es ist schwer, keine Satire zu schreiben."
 



 
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