Das Opfer

Nick

Mitglied
Hauptsturmführer Moritz von Stetten stieg aus dem Fond des Mercedes-Benz und sah sich auf dem Fabrikhof um. Ein paar dutzend Wehrmachtssoldaten wuchteten Kisten auf die Ladeflächen schlammbespritzter Lastwagen. Der wochenlange Regen hatte den Boden aufgeweicht. Die Männer mussten achtgeben, nicht auszurutschen. Sie beeilen sich, dachte von Stetten. Sie wollen so schnell wie möglich weg von hier. Der Befehl zur Räumung der Fabrik war gerade mal sechs Stunden her.

Von Stetten nahm seinen Lederkoffer von der Rückbank und bedeutete dem Fahrer, im Wagen zu bleiben. Zwei Soldaten eilten ihm entgegen. “Hauptsturmführer”, sagte einer der beiden, ein kleiner Mann mit pockenvernarbtem Gesicht und wässrigen Augen. “Der Direktor erwartet Sie.”
Von Stetten warf einen Blick auf seine Taschenuhr. 4.37 Uhr. “Das Urteil wird um 6 Uhr vollstreckt?”
Der Soldat nickte.
Der Hauptsturmführer zog ein Zigarettenetui aus der Innentasche seines Mantels, ließ den Verschluss aufschnappen und klemmte sich eine Zigarette zwischen die Lippen. “Geben wir dem Direktor noch ein paar Minuten, ehe wir ihn aus dem Bett holen.”
Der Pockennarbige gab ihm Feuer.
Von Stetten nahm einen langen Zug und stieß den Rauch durch die Nase aus. “Hat der Mann gestanden?”
“Das weiß ich nicht.”
“Was haben Sie denn gehört?”
“Der Direktor hat Sie gerufen, Hauptsturmführer. Er will wohl einen letzten Versuch machen, bevor Karl Adam hingerichtet wird.”
Von Stetten ließ seinen Blick über den dreckigen Hof schweifen. Die Soldaten wirkten ausgezehrt, ihre Augen waren müde, die Hände schmutzig und geschwollen. Am hinteren Ende des Hofes erkannte er die Silhouette eines Galgens, eilends aufgerichtet für die bevorstehende Hinrichtung. Darüber erhoben sich die dunklen Gipfel der Ostkarpaten. Nach einer Minute schnippte er die Zigarette ins Dunkel und griff nach dem Lederkoffer. “Gehen wir.”

Das Büro des Gefängnisdirektors befand sich im Erdgeschoss der besetzten Fabrik. Der Wachmann führte von Stetten durch lange Gänge, von deren Decken nackte Glühbirnen hingen. Ein paar Mal mussten sie Wehrmachtssoldaten Platz machen, die weitere Kisten in den Hof trugen. Sie erreichten eine schmutzigweiße Tür, auf der DIRECTIA stand. Der Wachmann klopfte und trat ein, ohne eine Reaktion abzuwarten. Von Stetten folgte ihm in ein großes Büro. Helle Flecken verrieten, wo bis vor Kurzem Möbel gestanden hatten. Jetzt war davon nicht viel übrig: In der Mitte des Raums stand ein Schreibtisch, dahinter eine Kommode und zwei schmale Tische. Hunderte Akten waren an einer Wand aufgestellt. Darüber hingen zwei Karten: eine zeigte das Reich in den Grenzen vom Frühjahr 1941, die andere die Ostkarpaten.
Ein blasser, untersetzter Mann kam ihnen entgegen. “Hauptsturmführer von Stetten. Ich bin Max Erdmann. Danke, dass Sie gekommen sind.”
Von Stetten nickte.
“Ich kann die Hinrichtung nicht mehr aufschieben”, erklärte Erdmann. “Aber wenn wir noch eine Chance haben, zu erfahren, was da oben wirklich vorgefallen ist ...” Er zögerte. “Wir haben hier mit den Partisanen mehr als genug zu tun. Das Letzte, was wir brauchen, sind Schauermärchen über durchgedrehte SS-Leute.”
“Lassen Sie uns keine Zeit verlieren”, sagte von Stetten. “Bringen Sie mich zu Adam.”
“Einen Augenblick …” Der Direktor beugte sich über den Schreibtisch und zog ein kleines, ledergebundenes Buch hervor. “Ich möchte, dass Sie das hier sehen, bevor Sie mit ihm sprechen.”
Der Hauptsturmführer betrachtete den schmalen Druck. Der lederne Einband war spröde und bleich. Haarfeine Risse zogen sich wie Adern über den Umschlag. An einigen Stellen saßen erbsengroße Verdickungen auf dem Einband; kleine Polypen, die von Stetten unwillkürlich an Muttermale denken ließen. Angewidert verzog er den Mund. “Was ist das?”
Der Direktor schüttelte den Kopf. “Das wissen wir nicht.”
Von Stetten schlug den Band auf. Die Seiten waren eng bedruckt. Winzige Buchstaben reihten sich in scheinbar endloser Folge aneinander. Er erkannte weder Leerstellen noch Interpunktion. Auf den ersten Blick wirkten die Buchstaben vertraut, aber bei näherem Hinsehen stellte er fest, dass sie keiner ihm bekannten Schrift angehörten. Er blätterte das Buch rasch durch und schlug es zu. “Der Gruppenführer hatte irgendein altes Buch dabei. Warum sollte mich das kümmern?”
Max Erdmann kratzte sich am Kopf. “Offenbar war Karl Adam im Begriff, es abzuschreiben, als unser Spähtrupp ihn entdeckte.”
Von Stetten zog die Augenbrauen hoch.
Der Gefängnisdirektor schluckte. “Was ich Ihnen jetzt sage, steht nicht in meinem Bericht. Es ... es klingt verrückt.” Er nahm das Buch wieder an sich und schlug die erste Seite auf. “Es sieht so aus, als habe der Gruppenführer versucht, diesen Text mit einem Skalpell in die Häute seiner Männer zu ritzen.”
Von Stetten blickte den Gefängnisdirektor skeptisch an. “Was sagen Sie da?”
“Ich weiß, es klingt wie ein Ammenmärchen ...”
Von Stetten schnaubte. “Karl Adam hat seine eigenen Männer gefoltert?”
“Nein, das nicht. Als er sie geschnitten hat, waren sie schon tot.”
Von Stetten musterte den Gefängnisdirektor. War Max Erdmann hier oben verrückt geworden? War es das, was die Karpaten mit Fremden machten?
“Geben Sie mir das Buch.” Er steckte den Band in die Außentasche seines Lederkoffers. “Bringen Sie mich zu ihm. Unterwegs schildern Sie mir, wie er aufgefunden wurde.”
Der Direktor bedeutete dem Wachmann, ihnen zu folgen. Sie verließen das Büro, durchquerten einen mit Munitionskisten vollgestellten Flur und stiegen über eine enge Treppe in den Keller hinab.

Erdmanns Bericht enthielt nichts, was von Stetten nicht bereits wusste. Gruppenführer Karl Adam und sechs seiner Männer waren kurz vor Neujahr in einem der abgelegenen Hochtäler verschollen. Man war davon ausgegangen, dass sie Partisanen in die Hände gefallen waren. Niemand hatte geglaubt, dass man sie lebendig wiederfinden würde. 'Bis zum gestrigen Morgen. Ein Spähtrupp hatte den Gruppenführer und seine Männer in den Ruinen einer verfallenen Kapelle entdeckt. Nur der Adam war am Leben. Ein Späher hatte zu Protokoll gegeben, dass er eine unverständliche Formel rezitiert habe. Ein anderer erklärte, er habe apathisch gewirkt.
“Wir haben die Späher stundenlang befragt”, schloss der Gefängnisdirektor. “Aber mehr haben wir nicht aus ihnen herausbekommen. Sie haben Schwierigkeiten, sich an Details zu erinnern, und widersprechen einander häufig.”
Sie durchquerten einen Vorraum. Zwei Wachmänner sprangen auf und hoben die Arme zum Gruß. Eine Stahltür führte in einen schmalen Gang, von dem zu beiden Seiten dutzende Türen abgingen. “Hier haben sie bis vor ein paar Wochen Chemikalien gelagert”, sagte Erdmann.
Ein weiterer Wachmann saß vor einer Tür am Ende des Ganges. Auch er sprang auf und grüßte.
“Herr Direktor!”
Erdmann nickte. “Wir ...”
Von Stetten trat vor und hielt den Direktor an der Schulter fest. “Warten Sie”, sagte er. “Ich möchte alleine mit ihm sprechen. Mich kennt er nicht.”
Der Direktor runzelte die Stirn. Dann zuckte er mit den Achseln. “Nur zu, Hauptsturmführer”, sagte er. “Karl Adam gehört Ihnen, bis 5.45 Uhr. Dann holen wir ihn ab. Um Punkt 6 Uhr wird er hingerichtet.“

Moritz von Stetten drückte die Türklinke herunter und trat über die niedrige Schwelle.
Die Kammer war drei mal drei Meter groß. Eine vergitterte Lampe spendete etwas Licht. Gruppenführer Karl Adam lag zusammengekrümmt in einer Ecke, das Gesicht zur Wand gedreht. Er trug eine schmutzige Uniformhose und ein dunkel verfärbtes Unterhemd. Seine Füße waren nackt, das Haar und der Vollbart verdreckt. Als der Hauptsturmführer in die Kammer trat, drehte sich der Gefangene um. Sein Gesicht war blutig und geschwollen. Nur seine Pupillen leuchteten hell.
“Karl Adam”, sagte von Stetten. “Können Sie mich hören?”
Der Gefangene stöhnte. Blutiger Schaum lief über sein Kinn.
Von Stetten ging in die Knie. “Ich bin Hauptsturmführer Michael von Stetten”, sagte er, jedes Wort einzeln betonend.
“… Stetten.”
Der Hauptsturmführer streifte seine Lederhandschuhe ab und steckte sie in die Manteltaschen. Er fuhr mit einem Zeigefinger vorsichtig über Adams Schläfe. “Die Soldaten haben Sie übel zugerichtet.”
Karl Adam stemmte seinen Oberkörper in die Höhe und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand.
Von Stetten öffnete den Lederkoffer und drehte ihn so, dass der Gefangene die Instrumente sehen konnte. “Erzählen Sie mir, was passiert ist”, sagte er.
“Moritz … von … Stetten.” Die abgebrochene Schneidezähne des Gruppenführers glänzten im Licht der Deckenlampe. Irritiert erkannte von Stetten, dass Karl Adam lächelte.

“Der … Schlächter von … Hezberg …”
Von Stetten hielt kurz inne. Schlächter. So hatte man ihn schon lange nicht mehr genannt. Unwillkürlich dachte er an das trockene Knattern von Maschinenpistolen, an Leichengruben und den Geruch von Benzin. “Machen Sie es sich nicht unnötig schwer”, sagte er und nahm einen chirurgischen Hammer und eine lange Nadel aus dem Koffer.
Ein schrilles Lachen ließ frisches Blut über das Kinn des Gruppenführers fließen.
Ohne zu zögern ließ von Stetten den Hammer auf das linke Ohr des Mannes fallen. Adam taumelte und stürzte zur Seite. Von Stetten presste ein Knie auf den Nacken des Gruppenführers. Dann schob er den Nadelkopf in Adams Ohr, bis er auf Widerstand traf - und schlug zu. Die Nadel drang tief in den Gehörgang ein.
Adam brüllte und krampfte, konnte sich aber nicht befreien.
“Was ist mit Ihrem Trupp passiert?”
Gruppenführer Karl Adam lachte. Lachte laut. Wie ein Mann, der einen Triumph auskostet.
Von Stetten schlug erneut zu. Die Nadel bohrte sich tiefer in das Ohr. Schwarzes Blut schoss hervor. Adam krächzte. Seine Zähne glänzten rot.
Erst nach ein paar Sekunden begriff von Stetten, dass der Gruppenführer Wörter artikulierte.
Nghath’l ftaal nghath’l ftlorh nghath’l ftgn …
“Was zum Teufel ...?”, murmelte von Stetten.
Der Gruppenführer riss seinen gebrochenen Kiefer auf und ein langer, violetter Stachel schoss hervor. Von Stetten sah ein Geflecht schwarzer Adern und eine kleine, glänzende Spitze. Während der Stachel sich weiter und weiter aus der Kehle des Gruppenführers hervor stülpte, öffnete sich seine Spitze wie eine Blüte. Von Stetten blickte in ein kreisrundes Maul. Dann schloss die Blüte sich erneut, die schwarzen Krallen verbanden sich zu einem langen, scharfen Dorn - und stießen tief in seine Brust.

Von Stettens Augen waren leer und blind, aber er sah. Seine Ohren waren taub, aber er hörte. Er roch und schmeckte und fühlte. Während Gruppenführer Karl Adam auf seiner Brust saß und das Bewusstsein aus seinem Körper saugte, kniete Moritz von Stetten am Tor der Welten, und über ihm, in einem Mahlstrom aus Augen und Stacheln und Licht, wirbelte der Hüter des Tors, der Körperlose. Als von Stetten den Formlosen sah, wollte er lachen, ein wildes, wahnsinniges Lachen. Dann hatte Adam ihn ausgesaugt, er war körperlos und fiel in die Dunkelheit.

Und kam zurück.

“Schlächter. Kannst du mich hören?”
Das Erste, was er spürte, war ein heftiger Druck auf seinen Augen. Er wollte zwinkern, aber seine Lider gehorchten ihm nicht. Ein pulsierender Schmerz füllte seinen Brustkorb. Er schmeckte eine bittere Flüssigkeit im Mund. Panisch spuckte er aus, würgte und spuckte erneut.
“Schlächter”, sagte die Stimme erneut. Sie klang seltsam vertraut. Zwei Hände griffen seine Schultern und richteten ihn auf.
“Schlächter!”
Von Stetten riss seine Augen auf. Im ersten Moment, geblendet vom Licht der Deckenlampe, sah er nur die Silhouette: ein schlanker Mann in Uniform. Dann gewöhnten sich seine Augen an das Licht und er erkannte den Mann, der sich über ihn beugte.
Er sah sich selbst.
“Wir haben dich”, sagte der Mann in von Stettens Körper.
“Waa …?”, machte von Stetten.
Der Mann in seinem Körper stand auf, klopfte Staub von der Uniform und zog das Zigarettenetui aus der Innentasche. Er nahm eine R6 und steckte sie zwischen die Zähne. Dann stutzte er.
“Schlächter, hast du … habe ich … Feuer ..?”, fragte er und tastete die Taschen der Uniformjacke ab, bis er das Feuerzeug in der Seitentasche entdeckte. “Ahh …!”, machte er, entzündete die Zigarette und nahm einen langen Zug.
Von Stetten starrte auf seine Beine, die schmutzige Uniformhose, das blutverklebte Unterhemd. Er hob eine Hand vor sein Gesicht: Sie war klein, die Finger feingliedrig, sämtliche Nägel ausgerissen. Sie hatte nichts gemein mit seinen eigenen groben Händen - Händen, die jetzt einem anderen gehorchten.
Der Mann in von Stettens Körper ging in die Hocke und hielt ihm die Innenklappe des versilberten Zigarrettenetuis vors Gesicht. Auf der zerkratzten Oberfläche erkannte von Stetten die Züge des Gruppenführers Karl Adam.
“Jetzt bist du der Verurteilte, Schlächter”, sagte der Mann in von Stettens Körper.
“Was hast du getan?”, stammelte er.
Der Mann in seinem Körper beugte sich vor. “Ich habe ein Opfer gebracht, Hauptsturmführer. Ich habe meinen Leib hingegeben.”
Von Stetten spuckte erneut dunkles Blut. “Du hast … die Augen … das Licht …”
Der Mann in von Stettens Körper lächelte. “Du hast ihn gesehen, ja? Den ohne Form? Den auf der Schwelle?” Er blies Rauch aus und strich von Stetten ein paar klebrige Strähnen aus der Stirn. “Die Alten hatten einen Namen für ihn ….” Er beugte sich weit vor, bis seine Lippen wenige Zentimeter neben von Stettens unversehrtem Ohr waren, und flüsterte ein einziges Wort.
Yog-Sothoth.
Von Stetten erstarrte. Obwohl er den Namen noch nie gehört hatte, schien der Körper, in dem er gefangen war, zu reagieren. Als steckte eine alte, instinktive Furcht in ihm. Er wollte weg, weg aus dieser Zelle, aus der Fabrik und den verfluchten Bergen mit ihren wahnsinnigen Bewohnern.
“Ihr hättet nie herkommen sollen”, sagte der Mann in seinem Körper. "Ihr wisst nicht, welche Macht in diesen Bergen wohnt."
Von Stetten stemmte sich hoch, aber erneut explodierte gleißender Schmerz in seiner Brust. Keuchend brach er zusammen. “Keine Sorge, Hauptsturmführer”, sagte der Mann in seinem Körper. “Deine Schmerzen werden nicht von Dauer sein.” Er zog von Stettens Taschenuhr aus der Uniformtasche. “In einer halben Stunde wird Karl Adam gehängt.”
In diesem Moment klopfte es an der Zellentür.

“Hauptsturmführer!” Die Stimme des Gefängnisdirektors klang schrill. “Hauptsturmführer!” Drei weitere Schläge.
Der Mann in von Stettens Körper sah zur Tür. “Was ist denn?”, rief er verärgert.
“Wir werden angegriffen! Kommen Sie raus da!”
Von Stetten sah zu, wie sein Körper zwei Schritte machte und die Tür aufriss. Max Erdmann sah noch kleiner und blasser aus als zuvor.
“Partisanen”, sagte der Gefängnisdirektor. Im Flur hinter ihm waren hektische Schritte zu hören.
Der Mann in von Stettens Körper griff den kleinen Mann am Kragen und zerrte ihn in den Raum. “Die Exekution findet statt!”, sagte er.
Der Direktor sah von einem Mann zum anderen. “Sie wollen ihn hängen?”, fragte er. “Während geschossen wird?”
Der Mann in von Stettens Körper nickte. “Karl Adam hat sich mit der Sache der Partisanen gemein gemacht. Er stirbt.”
Der Direktor schüttelte ungläubig den Kopf. “Das können Sie vergessen. Der Hof ist nicht sicher. Wir werden ...” Der Rest seines Satzes ging im Dröhnen einer Explosion an der Oberfläche unter. Die Lampe an der Decke flackerte.
Der Mann in von Stettens Körper beugte sich nah an das Gesicht des Gefängnisdirektors. “Karl Adam stirbt heute”, sagte er langsam. “Und wenn ich ihm selbst eine Kugel in den Kopf jage.”

Von Stetten dachte panisch nach. Er musste dem Gefängnisdirektor zu verstehen geben, dass er nicht Karl Adam war - er musste ihm zeigen, dass er über Wissen verfügte, das nur Moritz von Stetten hatte.
Das Buch!”, krächzte er. “Erdmann! Fragen Sie ihn, wo ich das Buch verwahre!”
Der Gefängnisdirektor blickte ihn verständnislos an. “Was soll …”
Der Stachel bohrte sich tief in die Kehle des Gefängnisdirektors. Max Erdmann verdrehte die Augen. Seine Arme zuckten unkontrolliert. Entsetzt beobachtete von Stetten, wie der Stachel mit ruckartigen Stößen in den Kopf des Gefängnisdirektors eindrang. Dunkles Blut floss aus den Mundwinkeln des kleinen Mannes, heftige Krämpfe fuhren durch seinen Körper. Mit einem saugenden Geräusch zog das Von-Stetten-Ding den Stachel heraus. Max Erdmann fiel zu Boden wie eine Marionette, deren Fäden abgeschnitten worden waren.
Das Ding in von Stettens Körper wandte sich ihm zu. Der Stachel stülpte sich immer weiter hervor, die Blüte öffnete und schloss sich gierig.
Dann stürzte die Decke ein und von Stettens Welt wurde schwarz.

Ein heftiger Hustenanfall riss von Stetten aus der Bewusstlosigkeit. Staub, Erdbrocken und zersplittertes Mauerwerk waren um ihn herum verstreut. Kupferrohre und Bodendielen ragten aus dem Loch in der Decke herab. Die Lampe flackerte. Das Von-Stetten-Ding bewegte sich nicht. Er stemmte sich zitternd auf seine Ellenbogen - und schrie laut auf. Brennender Schmerz bohrte sich in sein Brustbein. Er schluckte, um seinen Brechreiz zu unterdrücken. Das Ding bewegte sich immer noch nicht. Von Stetten arbeitete sich weiter hoch, erst auf die Knie, dann auf die Beine. Sein Körper - Karl Adams Körper - war mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Als er sich ganz aufgerichtet hatte, taumelte er zur Seite. Seine linke Kopfhälfte fühlte sich an, als würde sie in glühenden Kohlen gewälzt.
Die Nadel steckte immer noch in seinem Ohr.
Stöhnend zog er sie heraus. Warmes Blut rann über seine Wange. Dann machte er einen Schritt auf die Tür zu.

Das Von-Stetten-Ding würde nicht mehr aufstehen: Ein schwerer Mauerbrocken hatte seinen Kopf zertrümmert. Helle Hirnmasse vermischte sich mit Staub und Steinen. Einen Augenblick lang fragte von Stetten sich, ob der Stachel sich noch bewegte, ob er unter all dem Schutt noch zuckte.
Er machte einen großen Schritt, um über den toten Gefängnisdirektor zu steigen. Die Schmerzen in Brust und Ohr waren so stark, dass ihm zeitweise schwarz vor Augen wurde. Aber er musste gehen. Wenn er hier bliebe, würde er getötet.
Schwankend trat er auf den Gang. Eine einzige Lampe brannte noch. Aus der Ferne hörte er Geräusche - Schüsse, Schreie, das Röhren von Motoren. Stöhnend vor Schmerz schleppte er sich in den Wachraum. Die Kaffeetassen der Soldaten standen auf dem Tisch, als wären ihre Besitzer vor wenigen Sekunden aufgestanden. Von Stetten taumelte weiter, bis zur Treppe ins Erdgeschoss. Der Kampflärm wurde lauter. Er hörte einzelne Schüsse und Salven aus automatischen Waffen, außerdem die Knallgeräusche explodierender Granaten. Er stolperte durch den Flur mit den Munitionskisten. Kurz vor der Tür des Direktorenbüros blieb er stehen. Alles drehte sich. Keuchend lehnte er sich an die Wand, übergab sich. Er würgte und spuckte, bis die Krämpfe nachließen. Eine weitere Explosion erschütterte das Mauerwerk.

Vor dem Schreibtisch des Direktors lag ein Mann ohne Gesicht. Von Stetten versuchte, nicht hinzusehen, während er die Schreibtischschubladen herausriss. Papiere, Stempel, eine Tabakdose - keine Waffe. Er fluchte leise und schleppte sich weiter, durch die Flure zur Hoftür.

Jetzt bemerkte er, dass die Kampfgeräusche verstummt waren. Keine Schüsse, keine Detonationen, keine Motoren, keine Schreie - nichts. Oder fast nichts. Aus dem Innenhof der Fabrik drang ein Geräusch wie das Surren eines kleinen elektrischen Motors.

Einen Moment lang stand er zitternd da. Die Kämpfe hatten geendet. Aber die Stille auf der anderen Seite der Tür war entsetzlicher als jeder Kampf. Er drückte die Klinke hinunter.

Die Morgensonne tauchte den Hof in blutrotes Licht. Einige Lastwagen standen in Flammen, einer war auf die Seite gekippt. Von Stettens Mercedes lag auf dem Dach.

Dann sah er das Opfer.

Hunderte Soldaten wälzten sich im Schlamm hin und her, warfen ihre Köpfe nach oben, zuckten mit Armen und Beinen - und summten. Die Männer, die ihm noch vor einer Stunde müde, ausgezehrt und verzweifelt erschienen waren, lagen jetzt nackt im Dreck, intonierten eine bizarre Lautfolge und bewegten sich in fast perfekter Synchronizität. Ihre Gesichter - vor wenigen Minuten noch grau, erschöpft und ohne Hoffnung - waren zu ekstatischen Grimassen verzerrt. Sie waren wie ein Organismus, der einem einzigen Zweck diente: der Anbetung des Wesens in ihrer Mitte.

Das Ding war ohne Form und Körper. Es hatte Pupillen, aber keine Augen, Mäuler, aber keinen Leib, Klauen, aber keine Glieder. In einem Moment erschien es von Stetten wie eine Wolke aus Licht und Schatten. Dann war es ein reiner Ton, körperlos. Einen Augenblick später war es ein pulsierendes Geflecht aus Stacheln und Tentakeln.

Von Stetten lachte und heulte zugleich.

Er begriff, dass der Anblick des Formlosen ein Geschenk war, dessen er nicht würdig war. Ein Geschenk, das sein Leben wert war - das alle Leben aller Menschen in allen Zeiten wert war und noch viel mehr - und das er freudig und dankbar annehmen würde.

Während er sich die Kleider vom Leib riss, begann er zu summen.
 
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