Das Piratengirl (Teil 2)

marcm200

Mitglied
2.
Gefangen auf der GLORIOUS DAYS
Juni 1640, im Atlantik vor der Südküste Englands


Henry Buckingham gab dem Jungen ein paar Pence und eine versiegelte Schriftrolle. „Beim nächsten Schlag der Kirchenglocke bringst du dies zu Lord Spencers Residenz. Falls du mich betrügst, werde ich dich finden.“

Der schmutzige Junge nahm die Geldstücke mit gierigem Blick entgegen, nickte heftig und rannte durch die Gassen von Falmouth davon zum Stadthaus des Adligen.

Der Pirat folgte ihm langsam. Weit vor dem prächtigen Anwesen blieb er im Schatten eines Baumes hinter dem Stamm gut versteckt stehen und beobachtete geduldig. Der Junge lief vor dem breiten Portal auf und ab und blickte immer wieder zum Kirchturm der White Chapel, der nicht weit entfernt in die Höhe ragte. Schließlich schlug die Glocke, und sofort nutzte der Bote den Türklopfer. Es dauerte nicht lange, bis geöffnet wurde. Henry konnte nicht hören, was gesprochen wurde, aber die Schriftrolle wechselte den Besitzer, und das war alles, was er wissen wollte. In einigen Stunden, wenn die Sonne sich dem Horizont näherte und den Abend einläutete, würde die Lösegeldübergabe stattfinden, wie es in den Anweisungen auf der Rolle stand.

Henry machte sich auf den Weg zum Übergabeort. Das weite, dunkle Gewand, wie es Mönche bevorzugten, verbarg seine Identität als Seefahrer. Immer wieder murmelte er einen Gruß, wenn ihm ein Einwohner der Stadt entgegenkam, und gab ganz den in Gedanken versunkenen Ordensmann. Niemand beachtete ihn oder schöpfte Verdacht. Mehrmals blieb Henry stehen, faltete die Hände und blickte sich, scheinbar im Gebet versunken, aufmerksam um. Aber niemand schlich ihm nach.

Am Rand der Stadt angekommen, schlug er den Pfad zu den Klippen ein. Bald war er der Einzige auf dem festgetrampelten Weg durch den Wald, der sich hier immer stärker ausdünnte. Nur noch vereinzelt wuchsen die mächtigen Stämme in die Höhe. Schließlich erreichte er den Platz der Lösegeldübergabe: eine grüne Wiese, die bis an den Rand der vorspringenden Landzunge reichte. Nach links und rechts reichte der Blick weit über die flache Ebene. Es konnte sich weder jemand unbemerkt anschleichen noch verstecken. Henry tätschelte den Hals des Pferdes, das ihn hierhergebracht hatte, und das nun friedlich wartete. Der Pirat trat bis an den Klippenrand und blickte hinab in die an diesem Tag raue See. Einen Strand gab es nicht, das Meer hatte eine Tiefe von einigen Dutzend Metern an dieser Stelle, ein Umstand, der wichtig für den Plan war.

Henrys zwei Kumpane warteten unsichtbar mit dem Ruderboot unter dem Felsen verborgen. Sie würden die Truhe, in der das Lösegeld übergeben werden musste, herausfischen, nachdem Henry diese ins Meer geworfen hatte und selbst nachgesprungen war.

Aber bis dahin war noch viel Zeit.

Die Stunden vergingen nur langsam, und alles blieb ruhig, niemand tauchte auf. Nur ein paar kreischende Möwen flatterten über den Ozean.

Doch schließlich war es soweit. Die Sonne war schon vor einiger Zeit hinter den Bäumen verschwunden, und die Abenddämmerung setzte ein. Henrys Körperhaltung spannte sich, und er blickte aufmerksam in den Wald hinein. Die Blunderbuss war mit kleinen Steinchen geladen und schussbereit. Ihre Streuung war groß, und Henry hoffte, damit eventuelle Gegner für Sekunden in Deckung zwingen zu können. Der Sprung ins Meer würde in jedem Fall sein Fluchtweg sein, die Angabe auf der Forderung, dass Spencer einen Reiter treffen würde und ein Pferd zum Transport der Truhe bereitstellen musste, nur eine Finte.

Henry wartete und wurde immer ungeduldiger, doch niemand kam. Der Zeitpunkt der Übergabe war weit überschritten.

Henry fluchte lautstark. „Was ist schief gelaufen?“, brummte er wütend.

Da ertönte ein lautes Rufen aus dem Wald. „Sir, ich bin's, der Bote vom Mittag. Ich habe eine Nachricht für Euch.“

Henry blieb wachsam, aber er konnte nur den kleinen Jungen sehen, der sich ihm mit einem Schriftstück näherte.

„Von Lord Spencer.“

Henry gab dem Jungen eine Münze zum Lohn, und der Bote rannte freudestrahlend davon. Es war ein einträglicher Tag für ihn gewesen, denn der Lord hatte ihn sicherlich ebenfalls für seine Dienste vergütet.

Henry las die Botschaft. Mit jedem Wort wurde seine Wut größer.

Wen wollt Ihr mit Eurer lächerlichen Forderung erpressen?
Meine Tochter ist in Sicherheit. Ihr habt eine Dienstmagd gekidnappt. Macht mit ihr, was Ihr wollt. Sie ist keine 20.000 Pfund wert.
Aber seid gewarnt: Unternehmt keinen zweiten Versuch, Lady Isabella zu entführen. Es würde Eure letzte Tat auf Gottes Erden sein.

gez. Albert Spencer


Dann folgte das Siegel des Lords.





Dann folgte das Siegel des Lords.

Henry stopfte die Botschaft unter seine Kutte, nahm ein paar Schritte Anlauf und sprang über die Klippe in die dunkle See hinab.

***

Wieder fand ein Wachwechsel in Charlottes Kajüte auf dem Piratenschiff GLORIOUS DAYS statt. Der Pirat, der eintrat, flößte ihr sofort Angst ein. Ein gefährliches Blitzen lag in seinen zusammengekniffenen Augen. Er hielt einen halbvollen Holzkrug mit Rum in der Hand und setzte ihn zu einem großen Schluck an die Lippen. Dann wischte er sich mit dem Hemdsärmel den Mund ab und rülpste. Sein Gesicht und seine Unterarme waren mit Narben von den vielen Kämpfen übersät, die er überstanden haben musste.

Der Mann, der sie bis dahin bewacht hatte, stieß sich von der Wand ab und drehte sich zur Tür.

Charlotte hatte sich die Gesichter ihrer Bewacher nicht eingeprägt, seit sie vor drei Tagen auf dieses Schiff verschleppt worden war. Es mussten bestimmt schon über zwanzig gewesen sein.

Die Tage waren in quälender Eintönigkeit vergangen. Immerhin hatte man ihr gestattet, mehrmals am Tag ein wenig über das Deck zu spazieren, wenn auch immer mit einem bewaffneten Bewacher in direkter Nähe. Aber sie hätte ohnehin nicht fliehen können, denn die Küste Englands war nur ein schmaler Strich in weiter Ferne, und die Beiboote konnte sie nicht schnell genug zu Wasser lassen, als dass es unbemerkt geblieben wäre. Außerdem musste sie dazu zuerst einmal ihren Bewacher loswerden. Doch für dieses Problem hatte sie noch nicht einmal den Ansatz einer Lösung gefunden.

So verbrachte sie die meiste Zeit auf dem Bett und las, denn zu ihrer Überraschung war Rogers ein gebildeter Mann. Er hatte ihr ein paar alte Bücher zur Verfügung gestellt. Auch litt sie keine körperliche Not. Das Essen war reichlich, und man behandelte sie, abgesehen davon, dass sie eine Gefangene war, ohne Brutalität.

Es hatte ihr niemand geglaubt, dass sie nicht Isabella Spencer war, und Charlotte hatte auch keinen zweiten Vorstoß einer Erklärung unternommen. Im Nachhinein war sie sogar froh darüber. Es war töricht von ihr gewesen, auf Rogers' Anrede so überhastet zu reagieren.

Charlotte fürchtete sich jedoch vor dem Moment, wenn die Lösegeldforderung nicht erfüllt wurde. Denn Lord Spencer würde keine 20.000 Pfund für eine einfache Magd zahlen.

Schon gar nicht, da er sie mit voller Absicht in diese Lage gebracht hatte.

Nachdem sich der Schreck über ihre Gefangennahme ein wenig gelegt hatte, war Charlotte zu der Überzeugung gelangt, dass der seltsame Befehl des Lords, sie sollte in den Gemächern seiner Tochter wohnen, genau das zum Ziel gehabt haben musste, was dann auch eingetreten war: Man sollte sie mit Isabella verwechseln und entführen. Das bedeutete unzweifelhaft, dass der Lord geahnt haben musste, dass ein unmittelbarer Anschlag auf seine Tochter bevorstand. Das konnte nur die am Abend eingetroffene Botschaft gewesen sein, welche den überstürzten Aufbruch zur Folge gehabt hatte.

Wahrscheinlich hatte Lord Spencer auf diese Weise Zeit gewinnen wollen, um seine Tochter dauerhaft in Sicherheit bringen zu können.

Charlottes Leben war ihm dabei offensichtlich völlig egal gewesen.

Wieder grübelte Charlotte über eine Flucht nach. Obwohl sie die letzten Tage unzählige Male darüber nachgedacht hatte, war ihr kein rettender Einfall gekommen, wie sie auf die Enthüllung ihrer wahren Identität reagieren sollte. Der beste Plan - und dieser war immer noch absolut schlecht - war, nach Möglichkeit an Deck zu weilen, wenn dieser gefürchtete Moment eintrat, und dann die erste Enttäuschung der Piraten auszunutzen und einfach ins Wasser zu springen und zu hoffen, dass man sie in Ruhe ließ und nicht erschoss. Hoffen musste sie auch darauf, dass ein Wunder geschah, und sie die Küste trotz der Entfernung irgendwie erreichen konnte.

„Tanz!“, sagte der Narbengesichtige in ihre Gedanken hinein und nahm einen weiteren Schluck Rum.

Sein Kumpan, der gerade die Kajüte verlassen wollte, verhielt im Schritt und raunte ihm zu: „Was soll das, Hugh? Du kennst Rogers' Befehl. Lass sie in Ruhe.“

Hugh stieß ihm die Faust in die Seite, schubste ihn von sich und trat nach dem Mann, der aber ausweichen konnte, wenn er auch nach außen stolperte. Hugh zog die Tür zu und sagte erneut: „Tanz!“

Charlotte rutschte auf dem Bett so weit von dem Piraten weg, wie es nur ging. „Wie? Was?“, fragte sie, obwohl sie genau verstanden hatte, was er von ihr wollte.

„Ich sagte, du sollst tanzen! Mach schon! Ich will meinen Spaß haben, wenn ich schon meine Stunden hier vergeuden muss. Aufpassen auf eine Frau!“ Er spie die letzten Worte wie eine Beleidigung aus und spuckte auf den Boden. Das Blitzen in seinen Augen wurde heftiger und unstet. Charlotte verzog angewidert das Gesicht, wandte den Blick aber nicht von dem Mann ab. Sie vermutete, dass er schon deutlich mehr als nur den halben Krug in seiner Hand getrunken hatte.

Hugh stieß sich von der Tür ab und kam auf Charlotte zu, die sofort vom Bett aufsprang und sich an die ferne Wand presste. Angsterfüllt starrte sie auf den Pirat, der viel größer und stärker als sie war. Sollte sie seinem obszönen Wunsch besser nachgeben? Er würde doch nicht so verrückt sein, sie trotz des Befehls des Kapitäns körperlich anzugehen. Oder etwa doch?

Hugh hatte sie fast erreicht, als die Tür aufgerissen wurde. Der Kapitän sprang in die Kajüte und riss Hugh zurück. Über die Schulter in den Gang gewandt, rief er: „Clive!“

Der Profos betrat ebenfalls die Kabine und nahm Hugh in Empfang, der weiter von seinem Rum trank. Rogers erteilte dem Offizier zur Aufrechterhaltung der Disziplin die knappe Anweisung: „Zwanzig! Aber warte, bis ich oben bin.“

„Aye, Sir“, bestätigte der Profos und verließ mit Hugh die Kabine. Die Schritte verhallten im Korridor. Der Betrunkene rief etwas und wollte sich losreißen, hatte aber nicht mehr die volle Kontrolle über seinen Körper. Clive schleppte ihn weiter.

Francis Rogers näherte sich Charlotte. „Entschuldigt, Mylady. Kommt! Ihr werdet Genugtuung erfahren.“ Rogers streckte die Hand aus, und Charlotte ergriff sie reflexhaft.

Mit der anderen strich sie ihr Kleid ein wenig glatt, das nach drei Tagen und einem turbulenten Pferderitt sehr mitgenommen aussah. Sie wusste nicht, was nun geschehen sollte. Ihre Angst hatte nachgelassen, denn der Kapitän schien seine Worte, ihr kein Leid antun zu wollen, ernst zu meinen. Außerdem hatte er sie in den letzten Tagen mehrfach besucht. Sie hatten sich ein wenig über die Bücher und über die Seefahrt unterhalten.

Die beiden stiegen die steile Leiter hinauf auf das Oberdeck. Dunkle Wolken verdüsterten den Himmel am Abend. Hugh stand mit über dem Kopf gefesselten Händen vor der Rah am Hauptmast. Sein Oberkörper war entblößt, das Hemd lag auf den Schiffsplanken zu seinen Füßen. Eine Meute Piraten umstand ihn im Halbkreis. Die meisten grinsten.

Da pfiff die Peitsche des Profoses singend durch die Luft und knallte auf Hughs Rücken. Der Mann gab jedoch keinen Ton von sich. Charlotte aber erschrak fürchterlich und wandte sich sofort ab. Der Kapitän, die Offiziere und die Mannschaft aber schauten der Disziplinierung zu. Charlotte hielt sich die Ohren zu, denn sie wollte das Surren der Peitsche nicht hören. Doch die Hände dämpften nicht vollständig, und sie ertappte sich dabei, wie sie doch angespannt auf den nächsten Schlag wartete, ganz so als wäre sie diejenige, welche dort gezüchtigt wurde.

Dann schien es vorbei zu sein. Aber Charlotte spürte plötzlich, wie Rogers ihr den umwickelten Griff der Peitsche in die Handfläche drückte. Charlottes Hand schloss sich automatisch darum.

„Bestraft ihn! Zwei Schläge stehen noch aus“, sagte der Kapitän und deutete auf den Piraten, der nun, schweißüberströmt, mehr am Segelbalken hing, als dass er aufrecht und stolz stand.

Charlotte blickte den Piratenkapitän mit riesigen Augen an. Hatte er das wirklich gesagt?

Angewidert trat sie einen Schritt zur Seite und ließ die Peitsche achtlos fallen. Heftig schüttelte sie den Kopf. „Das kann ich nicht. Und ich will es auch nicht tun.“ In diesem Moment dachte sie nicht darüber nach, ob ihr diese Weigerung eventuell Unannehmlichkeiten bereiten konnte. Es war einfach zu unvorstellbar, so etwas Grausames zu tun.

Francis Rogers nickte, als habe er diese Antwort erwartet, bückte sich, um die Peitsche aufzuheben, und warf sie dem Profos mit einer kraftvollen Bewegung zu, der sie gekonnt auffing. Die letzten beiden Peitschenhiebe folgten so schnell hintereinander, dass sich Charlotte noch nicht einmal wieder die Ohren zuhalten konnte. Dann war die Disziplinierung abgeschlossen.

„Hugh“, sagte der Kapitän laut und deutlich, sodass jeder ihn verstehen konnte, „das war deine letzte Warnung. Bei der nächsten Disziplinlosigkeit gehst du über Bord. - Und jetzt ab zum Feldscher. Jeremy soll dich zusammenflicken.“ Er wandte sich an den Ersten Offizier. „John, teile ihn danach neu ein. Er soll bis auf Weiteres die übelsten Arbeiten übernehmen.“

Rogers hob die Stimme noch einmal an. Mit Nachdruck fügte er hinzu: „Ich wiederhole mich nicht gerne. Ich tue es auch nur dieses eine Mal. Lady Isabella wird nicht angerührt, nicht beleidigt, nicht belästigt. Sie ist 20.000 Pfund wert. Lord Spencer wird ohnehin Jagd auf uns machen. Es wäre töricht, ihn noch dadurch zu reizen, dass seiner Tochter ein Leid zugefügt worden ist. Ich hoffe, das hat nun den Weg auch in den dümmsten Schädel hier gefunden. - Geht an eure Arbeit zurück!“

Rogers trat wieder zu Charlotte, und der Ausdruck auf seinem Gesicht, seine Stimme, seine Haltung - alles änderte sich von einem Augenblick auf den anderen. Er war sanfter geworden.

Charlotte wunderte sich über diesen Mann, der so schnell sein Auftreten wandeln konnte.

„Darf ich noch an Deck bleiben, bitte?“, fragte sie. Wäre Hugh nicht zudringlich geworden, hätte sie, wie bei fast jeder Wachablösung, nun den fast schon routinemäßigen Spaziergang unter freiem Himmel absolviert.

„Gewiss“, erlaubte der Kapitän und winkte einen Piraten herbei, den Charlotte noch nicht kannte. „Pass auf sie auf.“

„Ich muss leider Eure Gesellschaft verlassen“, sagte Rogers zu Charlotte.

Diese bekam den Eindruck, dass der Kapitän es wirklich so meinte, wie er es sagte. Diese Ehrlichkeit steigerte noch ihre Verwunderung. Dann aber konzentrierte sie sich auf das kleine Stück Freiheit, das sie genießen konnte. Tief sog sie die würzige Seeluft ein. Ein leichter Wind blies von Land her. Aber es war auch am Abend immer noch warm, und das, obwohl der Sommer noch nicht einmal richtig begonnen hatte.

Langsam schritt Charlotte über die Planken. Die Mannschaft hatte nur wenig zu tun, da die GLORIOUS DAYS vor der Küste im schwachen Wind kreuzte und nur darum bemüht war, die Position in etwa zu halten. Überall lagen Seeleute faul auf den Tauen, in den Rettungsbooten oder an die Wand der Kuhl, dem tiefsten Bereich des Oberdecks, gelehnt. Manche warfen Würfel zum Zeitvertreib, andere tranken, viele taten einfach nichts.

Es begann zu dämmern, die Nacht war nicht mehr weit. Stumm starrte Charlotte auf die See hinaus, während ihr Bewacher sich einen halben Meter hinter ihr hielt, das gefährliche, spitze Messer in der Hand.

Als Charlotte auf die Küste blickte, gewahrte sie eine ganz kleine Bewegung. Sofort fing ihr Herz an zu rasen. Sollte es nun so weit sein? Kam dieser Buckingham, der Anführer der Männer, welche sie entführt hatten, nun von der Lösegeldübergabe zurück?

Es dauerte noch über eine Minute, bis der Mann auf dem Ausguck eine Meldung nach unten schrie: „Backbord, Ruderboot in Sicht.“

„Vier Mann zu den Kanonen!“, schrie der Kapitän. Noch war nicht zu erkennen, wer da kam. Aber Charlotte hatte schon bemerkt, dass Francis Rogers trotz seines Mutes ein überaus vorsichtiger Mann war.

Sofort sprangen die Seeleute auf und rannten durcheinander. Aber es sah nur aus wie Chaos. Jeder wusste genau, wo sein Platz war. Ein paar Minuten später sah Charlotte, wie ein schwaches Licht mehrfach aufblitzte und sich wieder verdunkelte. Derjenige, der sich hier näherte, sendete ein Erkennungssignal.

Rogers gab Entwarnung. „Henry kommt zurück.“ Er lachte laut auf. „Mit 20.000 Pfund.“

Charlotte brach der Angstschweiß aus. Aber sie machte sich bereit. Konzentriert beobachtete sie das Boot, das nun rasch größer wurde. Sie drehte sich ein wenig zur Seite und stellte sich in Schrittstellung, das linke Bein vorne, das rechte etwas nach hinten versetzt. Auf diese Art konnte sie sich am schnellsten über die Reling rollen und ins Wasser fallen lassen, denn das Vorbereiten eines Sprunges würde zu viel Zeit in Anspruch nehmen und sicherlich auffallen. Noch hatte ihr Bewacher nichts von ihren kleinen Bewegungen gemerkt, oder sie als unverdächtig eingestuft.

Da knallte das Ruderboot gegen den Rumpf des Schiffes. Ein Fallreep, wie bei ihrer Ankunft auch, wurde heruntergelassen.

„Zuerst das Geld!“, rief Rogers und schob seinen Kopf über die Reling.

Charlottes Bewacher blickte starr auf die andere Seite des Schiffes und war offenbar gespannt auf das Lösegeld. Unwillkürlich machte er einen Schritt nach vorne und damit von Charlotte weg.

Das war die Chance, auf die sie gehofft hatte.

Charlotte schwang das rechte Bein über die Reling und rollte sich bäuchlings darüber. Im Fallen hörte sie noch Henrys Stimme: „Er zahlt nicht. Sie ist nicht Isabella Spencer. Sie ist eine Magd.“ Dann klatschte Charlotte im leicht aufgewühlten Wasser auf und tauchte für einen Moment unter. Dicht an der Schiffswand schwimmend versuchte sie, die andere Seite zu erreichen, um Kurs auf die Küste zu nehmen.

Aber sie hatte einen Umstand nicht bedacht.

Der Stoff des Kleides sog sich unaufhaltsam mit Wasser voll und wurde unglaublich schwer. Außerdem schwangen die Rockfalten träge im leichten Wellengang umher. All das machte ihre Bemühungen, zügig eine definierte Richtung zu halten, noch fruchtloser, und sie musste immer stärker einfach nur darum kämpfen, nicht unterzugehen. Panik stieg in Charlotte auf. Auch glaubte sie den Sog der Ebbe zu spüren, der sie hinaus in die tödliche Weite des Ozeans ziehen wollte, wenn ihr auch ein Seemann hätte erklären können, dass der Sog in dieser Entfernung zur Küste überhaupt nicht wahrnehmbar war. Charlottes Schwimmbewegungen wurden hektischer und verloren noch mehr von ihrer Wirkung.

An Bord des Dreimasters sah sie einige Öllampen, die von Seeleuten in die Höhe gehalten wurden. Eine Stimme brüllte Befehle, aber das Rauschen der Wellen und des Windes machte sie unverständlich.

Charlotte konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Verbissen vollführte sie Schwimmbewegungen, aber außer der Tatsache, dass ihre Kraft nachließ und sie das Untergehen noch verhindern konnte, erzielte sie keinen Erfolg. Sie begann trotz der Anstrengung zu frieren.

Plötzlich hörte sie das Schlagen von Rudern und sah, wie ein kleines Boot mit vier Insassen auf sie zuglitt und neben ihr stoppte. Rogers und ein anderer Mann streckten ihr die Hände hin. Der Kapitän sagte: „Lasst mich Euch helfen. Ertrinken ist kein schöner Tod.“

Charlotte gab auf.

Sie streckte ihre Arme aus und ließ sich ins Boot ziehen, das wendete und kurz darauf an der GLORIOUS DAYS festmachte. Minuten später stand Charlotte wie ein Häufchen Elend an Deck. Das Wasser lief nur so an ihr herunter, die Haare waren zerzaust, das Kleid schwer wie Blei.

Ihre verzweifelte Flucht war misslungen.

Wie es nun mit ihr weiterging, lag nicht mehr in ihrer Hand.



Charlotte traute sich nicht, als Erste das Wort zu ergreifen. Mit gesenktem Kopf stand sie da und machte auch keine Anstalten, sich irgendwie des Wassers schneller zu entledigen. Sie zitterte.

„Wie ist Euer richtiger Name?“, fragte Rogers schließlich, als er sie lange gemustert hatte. Der Ärger über das verpasste Geld war ihm äußerlich nicht anzumerken. Er hatte sich gut in der Gewalt.

„Charlotte von Gent, Kapitän“, erwiderte sie und versuchte, ihrer Stimme einen festen Klang zu verleihen. Es misslang jedoch kläglich. Das Zittern und die Angst, was nun geschehen würde, waren ihren Worten deutlich anzuhören.

„Nun, Charlotte von Gent, was soll ich mit Euch anfangen?“

Bevor Charlotte etwas erwidern konnte, rief einer der Matrosen: „Wir segeln hinaus und werfen sie ins Meer.“

„Dummkopf!“, grummelte ein anderer. „Da hätten wir sie auch eben einfach ersaufen lassen können.“

„Wir könnten sie an eins der Sklavenschiffe verkaufen, die bald in die Neue Welt aufbrechen“, schlug Henry vor.

Charlottes Zittern verstärkte sich. Alles, nur nicht das!

„Bitte“, sagte sie und griff unter ihr Kleid. Sie holte den Lederbeutel mit ihren gesamten Ersparnissen hervor. „Bringt mich an Land. Ich kann dafür bezahlen.“ Ihre Augen waren ein einziges Flehen, als sie Rogers den Beutel hinhielt.

Der Kapitän nahm ihn, öffnete die Schnürung und warf einen flüchtigen Blick hinein. „Wieviel ist es?“, fragte er dann.

„Etwas über 270 Pfund“, erwiderte Charlotte leise. Sie realisierte erst in diesem Moment, dass der Betrag ein Nichts im Vergleich zu dem angepeilten Lösegeld war.

„Wenn wir sie an eins der Freudenhäuser verkaufen, kriegen wir locker das Dreifache. Das wäre immerhin etwas. Vielleicht kann man eine Kurtisane aus ihr machen“, kam der nächste Vorschlag, der Charlotte nicht minder entsetzte.

Sie sank auf die Knie und nahm Rogers Hand. „Bitte!“, flehte sie leidenschaftlich. Nur mühsam konnte sie verhindern, dass sie in Tränen ausbrach. „Ich kann auch arbeiten. Ihr wisst, dass ich eine Dienstmagd bin. Ich bin harte Arbeit gewohnt. Ich habe geschickte Hände und bin fleißig. Nur - bitte schenkt mir meine Freiheit wieder.“

Der Kapitän entzog ihr die Hand, griff sie sanft an den Schultern und zog sie hoch. „Steht auf! Es geziemt sich nicht für eine Dame, wie Ihr es seid, sich so zu erniedrigen.“ Laut wandte er sich an seine Mannschaft. „Sie bleibt vorerst an Bord. Niemand rührt sie an. - John“, er drehte sich zur Seite und sprach direkt den Ersten Offizier an, „du teilst ihr die Arbeiten zu. Gib ihr einen Schlafplatz im Unterdeck. Wenn wir den nächsten Hafen anlaufen, sehen wir weiter.“





3.
Die Zukunft in der Schwebe
Juni/Juli 1640, im Atlantik vor der Südküste Englands



Pepe, der Koch, krümmte sich nach vorne und stieß ein Stöhnen aus. Sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerzen, und seine Stirn begann, vor Schweiß zu glänzen. Er wankte zur Tür der Kombüse. „Mach das Essen fertig“, befahl er Charlotte, hielt sich die Hand vor den Mund und war kurz darauf mit eiligen Schritten verschwunden.

„Verstanden“, antwortete Charlotte, doch es war unklar, ob Pepe es noch gehört hatte. Sie rührte den riesigen Kessel, in dem die Fleischbrühe seit einiger Zeit schon vor sich hinköchelte, ein paar Mal um. Dann öffnete sie die kleine Truhe, die unter dem Bullauge stand, und welche die kostbaren Gewürzbeutel enthielt, die Pepe wie einen Schatz hütete. Sie schmeckte die Suppe ab, nahm dann Kardamom und Thymian und gab ein wenig in die Flüssigkeit.

„Schon besser. Aber eins fehlt noch.“

Mit dem scharfen Messer schabte sie ein wenig von der Schale einer Zitrone ab und war schließlich zufrieden mit dem Geschmack. Für einen Moment dachte sie an die Erzählungen ihrer Großeltern zurück, als diese vor vielen Jahren voller Erstaunen das erste Mal diese saure Frucht probiert hatten. Für Charlotte war sie im Haushalt der Spencers allgegenwärtig gewesen.

Charlotte füllte zwei Holzschälchen mit Suppe und trug sie in die Große Kabine im Heck der GLORIOUS DAYS, wo die höheren Offiziere gewöhnlich ihre Mahlzeiten einnahmen. Kapitän Rogers stand mit seinem Stellvertreter John vor dem breiten Kartentisch und diskutierte. Immer wieder deutete er auf die Karte und murmelte etwas von „Kurs“, „Wetterunbilden“ und „Gegnern“. Als Charlotte den Raum betrat, sahen die beiden Männer auf.

Rogers lächelte freundlich und trat sofort zu ihr, um ihr die Schalen abzunehmen und sie neben der Karte abzustellen.

„Pepe meinte“, erklärte Charlotte, „da wir nahe an der Küste segelten und in den nächsten Tagen ohnehin Verpflegung aufnehmen würden, könnte er das Essen ein wenig variieren und eine Vorsuppe zubereiten, wie sie die Oberschicht zu sich nimmt.“

John lachte schallend. „Das wird wieder ein dünnes Spülwasser sein, was er gewöhnlich als Nahrung bezeichnet.“

„Schick Henry und Clive rein“, befahl Rogers.

Charlotte nickte und machte sich sofort auf die Suche. Den zweiten Offizier Henry hatte sie schnell gefunden und ihm die Anordnung des Kapitäns übermittelt. Clive sah sie zuerst nicht, hörte dann aber seine brüllende Stimme, der sie folgen konnte. Langsam näherte sie sich dem Mann, der schnell zu Disziplinierungsmaßnahmen griff, wenn sie in seine Zuständigkeit fielen. Charlotte hatte nicht wenig Angst vor dem Profos und ging ihm aus dem Weg, so gut es ihr möglich war. Bis jetzt war sie seiner Peitsche entkommen, hatte sie doch alle ihr aufgetragenen Arbeiten sofort und ohne Murren ausgeführt. Vielleicht aber galt auch für ihn Rogers' Anordnung, sie nicht anzurühren.

„Profos, entschuldigt bitte. Der Kapitän wünscht Euch in der Großen Kabine zu sehen.“

Wütend funkelnde Augen huschten zu ihr herüber, und Charlotte wich unwillkürlich einen kleinen Schritt zurück. Clive stapfte ohne Erwiderung los, und sie drückte sich so eng an die Außenwand des Steuerhauses wie sie konnte. Dennoch rempelte Clive sie unsanft an, und Charlotte stürzte. Doch der Profos ging kommentarlos weiter.

„Bloody...“, entfuhr es Charlotte, die ihren Fluch aber sofort abbrach. Nur nicht reizen, dachte sie.

Clive schien nichts gehört zu haben, denn er setzte seinen Weg unbeirrt fort und verschwand wenig später unter Deck. Charlotte ging zurück zur Kombüse, aber von Pepe war weiterhin nichts zu sehen. So füllte sie vier große Schüsseln mit Suppe, die danach so schwer waren, dass sie diese kaum tragen konnte. Aber irgendwie schaffte sie es doch, alles auf das Hauptdeck zu bringen, wo die Piraten sich, so sie ihre Arbeiten unterbrechen konnten, sofort gierig darüber hermachten. Anschließend gab es gesalzenes Schweinefleisch mit Bohnen.

„Heh, Pepe, dein Fraß...“, schrie ein Pirat mit schwarzer Augenklappe, der mit vier anderen Männern zusammensaß, dem Koch zu, als dieser über das Deck wankte.

„Beschwer dich bei der Lady“, gab der Koch schrill zurück,

Der erste Pirat lachte. „Lass sie immer kochen. Das hier“, er zeigte auf den Suppentopf, „lässt sich wenigstens essen, im Gegensatz zu deinem sonstigen Zeugs.“ Die ganze Gruppe lachte.

In der Kombüse räumte Charlotte auf. Pepe kam herein und brummte nur: „Du bist ja doch zu was nütze.“

Charlotte seufzte in sich hinein. Der Koch war ganz umgänglich, wenn auch sehr wortkarg. Diese Äußerung von ihm konnte sie fast schon als Kompliment auffassen. Charlotte freute sich, denn sie hatte gezeigt, dass sie etwas wusste, etwas konnte, das hier an Bord fehlte. Zwar nur eine winzige Kleinigkeit, die auch nicht wichtig war und keinerlei Auswirkungen auf irgendwelche Kämpfe hatte. Vielleicht aber hatte sie damit ihren Stand als unwillkommener Eindringling ein ganz klein wenig verbessert. Denn das war das einzige, das sie tun konnte: zeigen, dass man sie zu etwas gebrauchen konnte, wenn sie schon kein riesiges Lösegeld einbrachte.

Und die Arbeit an Bord war nicht wirklich anders als das, was sie bei Lord Spencer getan hatte. Dennoch fieberte sie dem Moment entgegen, wenn das Schiff endlich in einen Hafen einlief. Sie war fest entschlossen, sollte Rogers sie nicht von sich aus gehen lassen, erneut einen Fluchtversuch zu unternehmen. Im Gewusel eines Hafens konnte sie den Piraten, wenn sie ein wenig Vorsprung hatte, sicherlich entkommen. Es kam nur auf das Timing an.

Der Tag neigte sich seinem Ende zu, und Charlotte suchte erschöpft ihren Schlafplatz auf, eine Ecke in einem der Mannschaftsquartiere. Sie hatte sich ein Laken zusammengerollt und schlief auf dem harten Holzboden unter der Hängematte eines Piraten.

***

Bereits früh am nächsten Morgen wurde Charlotte vom Ersten Offizier hinausgeschickt, das Deck im Bug zu schrubben. Der Schlaf war nur wenig erholsam gewesen, und ihr taten die Knochen weh. Aber sie beklagte sich nicht. Die Arbeit war sehr anstrengend, und Charlotte kam bald außer Atem. Verbissen machte sie weiter, obwohl ihr bereits nach kurzer Zeit Knie und Arme noch mehr wehtaten als zuvor ohnehin schon. Dunst waberte über dem Meer, und die Strahlen der Sonne fanden kaum einen Weg hindurch. Aber die kühle, feuchte Luft erfrischte immerhin ein wenig.

Unvermittelt fiel ein Tropfen Blut von ihrer Nase herunter.

Es war wieder soweit.

Doch sie durfte ihre Arbeit nicht vernachlässigen. Ein Verlassen des Bugs, bevor das Deck glänzte, war schlicht nicht möglich, denn das konnte den Kapitän gegen sie aufbringen. Also blieb nur, der Gabe hier und jetzt ihren freien Lauf zu lassen. Charlotte wrang den Putzlappen mehrmals, und so fest sie nur konnte, aus, um ihn halbwegs trocken zu bekommen. Dann breitetesie das kleine Stoffstück auf den Planken vor dem Eimer aus und hielt sich eine Hand unter ihre Nase, in der sie das Blut auffing.

Der Eimer besaß einen Eisenring auf halber Höhe, und Charlotte begann nun, mit ihrem eigenen Blut das komplizierte Muster, das den Ring verzierte, auf das Stofftuch zu zeichnen. Die Fingerlinien fransten aus, als das Blut sich im Stoff ausbreitete. Aber der Effekt war, gerade im Vergleich zur Dicke einer Linie, sehr gering. Der Blutstrom wurde stärker, die Tropfen kamen in schnellerer Folge. Dennoch behielt Charlotte die Ruhe. Mit einem Teil ihrer Aufmerksamkeit achtete sie auf die Umgebung. Doch was sie tun sollte, wenn jemand kam, wusste sie nicht.

Schließlich, nach drei Minuten, war das Fingerbild fertig, und sie signierte es. Danach drückte sie mit beiden Handflächen auf die Zeichnung - und der Eimer entfernte sich, wurde wie von Geisterhand ein Stück über die Planken geschoben. Holz schabte leise auf Holz. Charlotte hob die Hände und drückte erneut auf das Bild. Wieder schob sich der Eimer ein Stück von ihr weg. Er stand nun nahe der Reling. Charlotte wiederholte ein drittes Mal, und schließlich hörte das Bluten der Nase auf. Der Dämon war befriedigt.

Charlotte war die vergangene Minute so auf ihre Gabe konzentriert gewesen, dass sie erst jetzt bemerkte, dass sich nun weitere Seeleute auf dem Deck befanden. Lautes Stimmengewirr schallte zu ihr herüber, und Charlottes Puls schoss in die Höhe. Aber es war glücklicherweise niemand in ihrer Nähe, der sie beobachtet haben könnte.

Charlotte seufzte erleichtert auf, krabbelte zu dem Eimer und setzte die Reinigung des Decks fort. Als sie zwei Stunden später mit ihrer Arbeit endlich fertig war, kippte sie den Eimer über die Reling aus, nahm die gesamten Utensilien und machte sich auf den Weg zum Einstieg ins Unterdeck. Eine große Traube von Piraten stand in einem Halbkreis um zwei Männer, die mit Fäusten gegeneinander kämpften. Die Treppe nach unten war blockiert. Charlotte blieb stehen, unschlüssig, was sie tun sollte. Da sah sie John, der sich ebenfalls unter den Zuschauern befand. Auch er bemerkte sie, machte aber keine Anstalten, ihr einen weiteren Befehl erteilen zu wollen. So beschloss Charlotte zu warten, bis die Auseinandersetzung beendet war. Eine kleine Pause würde ihr guttun.

Faustschläge flogen hin und her, Stöhnen folgte auf kraftvolle Treffer, und schließlich warf einer der Männer seinen Kontrahenten um. Dieser prallte auf die Schulter - und es knackte laut. Ein Schmerzensschrei folgte.

John lachte, „Der Sieger steht wohl fest. Clive, zahl die Wetten aus.“ An Charlotte gewandt, fügte er hinzu: „Bring Titus zum Feldscher. Er soll ihn wieder auf die Beine bringen.“

Die Meute zerstreute sich nach dieser Abwechslung der Routine, und die Männer gingen wieder an ihre Arbeit zurück. Charlotte wartete, bis sie mit Titus alleine war, dann half sie ihm auf und begleitete ihn hinunter zur Kammer des Schiffsarztes, die auch als Untersuchungszimmer, Operationssaal und Lazarett genutzt wurde.

Der Arzt lag auf seinem Bett - und schlief einen gewaltigen Rausch aus. Charlotte rüttelte immer stärker an seiner Schulter, aber er wachte nicht auf. Titus stand neben der Tür und biss sich auf die Zähne. Sein blutleeres Gesicht sprach Bände.

Charlotte hatte eine Idee. Sie lief wieder aufs Oberdeck und suchte John.

„Der Feldscher ist nicht aufzuwecken“, erklärte sie die Lage.

Doch der Erste Offizier winkte nur ab. „Dann muss Titus eben warten. Er lebt ja noch.“

„Ich kenne mich ein wenig mit Wundheilung aus. Meine Mutter war darin sehr bewandert. Darf ich Titus untersuchen? Vielleicht kann ich ihm schneller helfen. Ich brauche dazu nur Rum zur Betäubung.“

John schaute skeptisch, nickte dann aber mit einem gleichgültigen Achselzucken. Er wandte sich ab und ging in Richtung Kapitänskabine. Charlotte aber rannte zur Kombüse und nahm sich einen der Krüge, mit dem sie zum Vorratsraum lief und sich Rum aus dem Fass abzapfte. Dann machte sie sich rasch auf den Rückweg. In der Kammer des Feldschers gab sie den Krug an Titus weiter, der ihn nur zu gerne entgegennahm und gleich mehrere große Schlucke Rum trank.

„Ich werde dich untersuchen. John ist damit einverstanden“, sagte sie und betastete, ohne auf eine Erwiderung zu warten, die eckig aussehnde Schulter des Verletzten. Rasch hatte sie festgestellt, dass kein Bruch vorlag. Das Schultergelenk fühlte sich nicht als Einheit an, sondern wie zwei Körper, die sich gegeneinander verkantet hatten. Das hatte Charlotte schon vom Anblick her vermutet. Beim Aufprall auf das Deck hatte Titus sich schlicht die Schulter ausgekugelt.

Dagegen aber konnte sie etwas tun.

Charlotte wartete, bis Titus so viel vom Rum getrunken hatte, dass seine Augen schon glasig wurden, dann drückte sie ihn auf den Boden und half ihm, sich auf den Rücken zu legen und Arme und Beine auszustrecken. Charlotte nahm den Arm der ausgekugelten Schulter und streckte ihn durch. Sie stellte einen Fuß auf Titus' linken Oberschenkel und zog den verletzten linken Arm in einer schnellen Bewegung hoch, rotierte ihn dabei blitzschnell ein wenig und schob ihn kraftvoll nach unten zurück.

Trotz der Betäubung, die der Alkohol in Titus hervorgerufen hatte, brüllte der Verletzte auf, so schmerzhaft war die Repositionierung. „Du verdammte Hure!“, brabbelte er eine Beleidigung, doch dann fiel sein Kopf zur Seite, die Augen drehten nach oben, und sein Körper wurde schlaff.

Charlotte wartete geduldig, bis er nach ein paar Minuten wieder die Augen aufschlug, als er aus der kurzen Ohnmacht erwachte.

Wütend blickte Titus sie an. „Ich schlag dich windelweich, du Dreckstück, wenn du meinen Arm ramponiert hast. Dann schützt dich auch Rogers nicht mehr.“ Mühsam richtete er den Oberkörper auf, drückte sich mit dem rechten Arm vom Boden ab und stand schließlich.

Charlotte stellte sich an die am weitesten entfernte Wand. Angst hatte sie diesmal nicht. Sie wusste, dass ihr Manöver Erfolg gehabt hatte. Es galt nun, Titus davon zu überzeugen. „Bewege den Arm einmal langsam. Den verletzten!“

Titus' Arme baumelten schlaff an seinem Körper herunter, doch er schien auch in seinem Rausch zu bemerken, dass sich etwas verändert hatte. Ganz langsam, wie in Zeitlupe, hob er den linken Arm ein wenig an. Ein Zischen entfuhr ihm, aber er stoppte die Bewegung nicht. Dann winkelte er den Arm an, und seine Probebewegungen wurden schneller. Als er schließlich den Arm kreisen lassen wollte, rief Charlotte laut: „Stopp! Das ist zuviel für das verletzte Gelenk. Schone den Arm ein wenig. Dein Fleisch muss sich erst regenerieren.“

Titus griff nach dem Rumkrug auf dem Tisch, trank einen riesigen Schluck und reichte das Holzgefäß an Charlotte. Auch diese nahm einen Schluck, denn sie hatte längst erkannt, dass das gemeinsame Trinken eine Art Freundschaftsritual unter den rauen Piraten war, wenn auch bei Weitem nicht jeder jeden mochte. Aber es schweißte sie irgendwie zusammen.

Charlotte lächelte angedeutet. Sie war mit sich zufrieden. Ein weiterer kleiner Schritt, ihre Position an Bord bis zur Ankunft im Hafen zu festigen. Der Feldscher hätte wohl die gleiche Behandlung durchgeführt, aber die Crew wusste nun, dass sie, Charlotte, den Schiffsarzt in diesem Punkt vertreten konnte. Und vielleicht auch in weiteren. Man würde sie nun hoffentlich mit anderen Augen sehen.

***

Drei Tage später schritt Charlotte mit Francis Rogers über das Oberdeck und blickte in die Nacht hinaus. Es war fast Neumond. Die hauchdünne silberne Sichel verbreitete kaum Licht. Eine leichte Brise wehte. Charlotte genoss die relative Freiheit, die sie seit ihrer temporären Aufnahme in die Mannschaft besaß. Niemand stand mehr mit einem Messer hinter ihr und verfolgte sie wachsam. In gewissem Sinne konnte sie tun, was sie wollte, sofern sie die Aufgaben, die man ihr zuwies, sauber erledigte. Und sie hatte sogar den Eindruck, dass, seit sie den Schiffsarzt gezwungenermaßen vertreten hatte, man ihr zumindest ein klein wenig Respekt entgegenbrachte. Respekt, der nicht durch Rogers' Befehl erzwungen wurde.

„Habt Ihr Euch schon entschieden, was mit mir geschehen soll?“, fragte sie den Kapitän.

„Wir werden sehen“, war alles, was Francis antwortete.

Charlotte spürte Ärger in sich aufsteigen ob dieser nichtssagenden Äußerung. Es erschien ihr fast, als wollte der Kapitän eine Entscheidung bewusst verzögern. Das passte eigentlich nicht zu diesem so charismatischen und mutigen Mann, ging ihr durch den Kopf.

Der Wind frischte auf, und Charlotte fröstelte. Da das edle Kleid für die Arbeiten einfach nur hinderlich gewesen war, trug sie nun dieselbe Kleidung wie die anderen Piraten: Hemd, Kniehose und Stiefel. Nichts passte wirklich, und sie vermisste sogar ihr einfaches graues Kleid.

Francis Rogers bemerkte das leichte Zittern - und legte ihr seinen Mantel um die Schultern. Charlottes Augen weiteten sich vor Erstaunen, und sie legte den Kopf in den Nacken, um den Mann, der gut einen Kopf größer war als sie, direkt anzublicken. Nach einer Sekunde sagte sie verlegen: „Danke.“

Eine galante Geste von jemandem, der sie, wenn auch unbeabsichtigt, hatte entführen lassen. Was hatte das nun wieder zu bedeuten?

Charlotte löste den stummen Blickkontakt und starrte auf die dunkle See hinaus. Für eine Weile herrschte Schweigen. Charlotte spürte auf einmal die körperliche Nähe des Mannes, der nun deutlich dichter neben ihr stand. Seine Präsenz war ihr noch nie so eindringlich bewusst geworden wie in diesem Augenblick.

In der Ferne, sehr weit vom Schiff entfernt am kaum erkennbaren Horizont, schob sich ein hauchdünner Schatten an den Sternen vorbei.

„Wo der wohl hinsegelt? Auf diesem Schiff wäre ich vermutlich eine Freie“, murmelte Charlotte.

„Was meint Ihr?“, fragte Francis, und Charlotte wurde erst jetzt bewusst, dass sie ihre Gedanken laut ausgesprochen hatte.

Sie wies mit der Hand schräg nach vorne. „Ich frage mich nur, wohin die vier Schiffe da hinten wohl segeln.“

Francis Rogers presste die Augen zusammen und blickte in die angezeigte Richtung. Doch er schien nichts erkennen zu können. Er löste den Körperkontakt zu Charlotte und drehte sich zum Ausguck hoch. „Ferris, pennst du? Steuerbord voraus vier Schiffe. Ich erwarte Meldung!“

Auch Charlotte hatte sich umgedreht und schaute hinauf zum Krähennest hoch oben am Hauptmast. Mit dem schwachen Licht, das die Öllampe am Eingang zum Steuerhaus nach oben sandte, konnte sie die dunkle Gestalt des Piraten auf der hohen Plattform erkennen. Der Mann hielt das Fernrohr vor ein Auge und starrte mit angespannter Haltung hindurch. Nach einer halben Minute rief er nach unten: „Kapitän, nichts zu sehen. Die See ist frei.“

Charlotte war jedoch von ihrer Beobachtung überzeugt. Wieder blickte sie in die Richtung, in der sie die Schiffe gesehen hatte. Ja, sie waren weiter dort zu erkennen, wenn auch nur sehr schwach. Vier Segler. Sie sah die Silhouetten zumindest eines der Masten ganz deutlich.

„Es sind vier Schiffe. Eins davon mit mindestens drei Masten. Es hat den Anschein, als ob sie sich nicht entfernten“, erweiterte sie ihre Aussage. Sie sprach mit solcher Überzeugung, dass Rogers nicht weiter nachfragte.

„Charlotte, würdet Ihr mir den Wunsch erfüllen und hinauf in den Ausguck steigen? Nehmt das Fernrohr, und beschreibt genau, was Ihr seht.“

Als Charlotte nickte, brüllte Francis nach oben: „Ferris, beweg deinen nutzlosen Arsch herunter!“

Behände kletterte der Pirat an den Seilsprossen herab. Als er auf dem Deck angekommen war, begann Charlotte mit dem Aufstieg. Es war schwieriger, als sie gedacht hatte, denn die Seile wackelten gewaltig hin und her. Sie kam nur in kleinen Schritten hinauf und musste, im Gegensatz zu Ferris, jede Sprosse benutzen. Schließlich aber war sie an der Plattform angekommen und kroch auf den Ausguck. Mit einer Hand hielt sie sich am Mast fest, mit der anderen nahm sie das Spektiv und blickte hindurch. Sie justierte den Abstand zu ihrem rechten Auge, bis sie nach etwas Suchen eines der Schiffe deutlich ausmachen konnte.

„Ein Dreimaster, ich sehe ein paar schwache Lichter von Lampen unterhalb der Mastfußhöhe. Besatzungsmitglieder sehe ich keine. Die Segel sind nur teilweise gesetzt.“ Dann schwenkte sie das Fernrohr ein Stück nach links. „Ein zweiter Segler, zweimastig, weniger hoch aufragend als der erste.“ Auch die Schiffe Drei und Vier entsprachen diesem kleineren Typ.

Charlotte suchte mit dem Spektiv den Horizont sorgfältig ab, konnte aber keine weiteren Schiffe entdecken. Mäandernd ließ sie das Fernrohr über den Ozean gleiten und näherte sich immer mehr der GLORIOUS DAYS an.

Da! Ganz dunkel, fast nicht auszumachen, ein Ding, das noch schwärzer als die nächtliche See war. Was konnte das sein? Und wie weit war es entfernt? Charlotte setzte das Fernrohr ab und blickte direkt auf die verdächtige Stelle. Aber mit bloßem Auge sah sie nichts. Die Region war schlicht zu lichtarm. Die vier Schiffe hatte sie nur erkennen können, da diese die Sterne nahe am Horizont beim Vorbeisegeln verdunkelten, und zwar deutlich anders als es das Vorbeiziehen von Wolken hervorrief.

Charlotte behielt das Fernrohr in der linken Hand und machte sich an den Abstieg. Dieser gestaltete sich sogar schwieriger als das Hinaufklettern, da sie immer erst mit den Füßen tasten musste, wo sich die nächste Sprosse befand. So dauerte es eine geraume Weile, bis sie sich dem Deck näherte.

Doch da rutschte ihr Fuß ab. Charlotte, die schon begonnen hatte, ihr Körpergewicht nach rechts zu verlagern, schrie überrascht auf, als ihr Fuß durch die Maschen des Seilnetzes hindurch ins Nichts glitt. Sie verlor das Fernrohr, das polternd auf den Planken aufschlug. Verzweifelt versuchte sie, das Bein zu befreien. Sie zog sich mit den Armen hoch, doch die zu weite Hose verhedderte sich irgendwie zwischen den Seilen.

Da spürte sie eine Bewegung an den Tauen, und Sekunden später hing Rogers neben ihr. Er lächelte, sagte aber nichts, sondern begann, ihr Bein aus den Seilen zu befreien. Danach sprang er aus vier Metern Höhe auf das Deck hinunter und federte kontrolliert ab. Charlotte kletterte langsam wieder nach unten. Sie überprüfte nun lieber zweimal, bevor sie ihr Gewicht auf einen Fuß schob. Als sich ihre Füße nur noch einen Meter über dem Boden befanden, verspürte Charlotte plötzlich zwei Hände an ihrer Hüfte. Sofort ließ sie die Seile los, und Kapitän Rogers hob sie mühelos von den Tauen und ließ sie zu Boden herab.

Charlotte schoss die Röte ins Gesicht. Sie war froh, dass es fast stockdunkel war, und es wohl niemand sehen konnte. Wieder sagte sie verlegen nur: „Danke.“ Dann räusperte sie sich, und der Kapitän ließ ihre Hüfte los.

Sie erzählte von dem kleinen, dunklen Etwas. Die Meldung schien Rogers zu alarmieren. Er ging sofort zum Steuerhaus. Charlotte folgte ihm einfach, wohingegen Ferris wieder auf seine Plattform hinaufstieg.

„John“, sagte Francis, als er die Kommandozentrale betrat. „Vier Segler am Horizont, die man in der Dunkelheit eigentlich nicht sehen kann, und die dieselbe Fahrt und Richtung wie wir beibehalten. Dazu ein dunkles Ding deutlich näher bei uns. Deine Einschätzung?“

Die Antwort kam ohne Zögern. „Da plant jemand einen Überfall im Morgengrauen. Das kleine Boot in der Nähe ist der Kundschafter, der den vier entfernten Schiffen signalisiert, wenn wir den Kurs ändern oder Fahrt aufnehmen. Wahrscheinlich ist er auch bewaffnet.“

Der Kapitän nickte grimmig. „Ganz meine Meinung. Wir hätten sie zwar kommen sehen, wären aber unvorbereitet gewesen.“ Er wandte sich Charlotte zu. „Steigt wieder hinauf in den Mastkorb und haltet Ausschau. Meldet, wenn sich die Position eines der fünf Schiffe ändert. Schickt Ferris herunter.“ Dann achtete er nicht weiter auf sie. So galant er zuvor gewesen war, nun war er nur noch der harte Piratenkapitän, der sein Schiff zur Verteidigung rüstete.

Charlotte gehorchte und nahm den ihr zugewiesenen Platz ein.

Rogers ging mit den drei Führungsoffizieren in das Steuerhaus zur Beratung.

„Vorschläge?“, fragte er.

„Wenn wir scharf wenden und Fahrt aufnehmen, können wir ihnen vermutlich jetzt entkommen. Bis sie auf unsere Kursänderungen reagieren können, legen wir an Vorsprung zu“, kam es vom Ersten Offizier.

„Wir wissen nun, was geschehen wird, sobald die Sonne den neuen Tag einläutet. Wir treffen heimliche Vorbereitungen. Dann ist das Überraschungsmoment auf unserer Seite, wenn wir sofort mit einer Breitseite antworten“, schlug Henry vor.

„Alles Quatsch“, grummelte der Profos. „Wir steuern scharf Steuerbord und halten auf sie zu. Wir überrumpeln sie und greifen unsererseits schon in der Nacht an.“

Danach sagte keiner der Offiziere mehr etwas. Alle warteten auf die Entscheidung des Kapitäns.

„Wir machen Folgendes: John, wir ändern den Kurs in den nächsten Stunden immer wieder ein wenig. Täuscht vor, dass wir Probleme mit den Segeln haben. Holt eines ein, zieht ein anderes hoch. Das hält sie auf Trab, und sie müssen die ganze Nacht über wachsam bleiben. - Henry, belade alle Kanonen. Auf beiden Seiten. Sorge für genügend Nachschub, sodass wir sie eindecken können. - Clive, sorge für die Täuschung nach Johns Angaben. Nimm aber nur so wenige Männer wie nötig und schicke die anderen in die Kojen, damit sie ausgeschlafen sind. Dann haben wir neben dem Überraschungsmoment des unerwartet schnellen Gegenschlags auch die Frische der Mannschaft auf unserer Seite.“



(Fortsetzung folgt)

Das Piratengirl (Teil 1)
 



 
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