Das Piratengirl (Teil 3)

marcm200

Mitglied
4.
Der Angriff
Juli 1640, im Atlantik vor der Südküste Englands


Es war noch dunkel am Morgen. Die Sanduhr war gerade das achte Mal umgedreht worden, da konnte Charlotte eine leichte Bewegung des Spähboots ausmachen. Um ganz sicher zu gehen, kniff sie die Augen zusammen, wandte den Blick ab, suchte das Objekt erneut, und die Wahrnehmung bestätigte sich. Charlotte beugte sich über den Mastkorb und signalisierte per Lichtzeichen mittels der kleinen Lampe nach unten. Kurz darauf kletterte ein junger Pirat in abenteuerlichemTempo die Seilmaschen hinauf.

„Der Späher nimmt Kurs auf die vier Schiffe am Horizont, die nun anfangen, ihre Linie auseinanderzuziehen. Zwei sind vor, zwei hinter uns. Die GLORIOUS DAYS ist nun fast in der Mitte der fremden Schiffskette.“

Der Mann nahm die Meldung entgegen, ließ sich an den Seilen hinabgleiten, ohne die Sprossen zu verwenden, und lief ins Steuerhaus. Er hatte sich wohl neue Anweisungen abgeholt, denn nur kurze Zeit später kam er wieder zum Vorschein und stieg durch die nächste Luke hinab ins Unterdeck. Charlotte wusste nicht, was dort nun vonstatten ging. Seit sie in das Krähennest hinaufgestiegen war, hatte sie keine Informationen darüber erhalten, was Kapitän Rogers plante.

Weiter schaute sie auf das dunkle Meer hinaus. Das Späherboot war nur gelegentlich auszumachen, wenn die aufgezogenen dichten Wolken an einer Stelle aufklarten und das Sternenlicht den Ozean ein wenig aufhellte. Sie verfolgte das Boot mit dem Fernrohr, bis es schließlich zu klein geworden war.

Der Angriff wird gleich beginnen, dachte sie, und ihre Anspannung wuchs. Warum war Rogers in der Nacht den Angreifern nicht einfach davongesegelt? War er zu stolz für diese Art des Überlebens? War die GLORIOUS DAYS nicht schnell genug? Charlotte kannte sich mit Schiffen nicht sonderlich aus, und so fand sie keine Antworten auf ihre Fragen.

Plötzlich erwachte das Piratenschiff zum Leben, zumindest von Charlottes Warte aus der Luft. Luken öffneten sich, und das schwache Licht der Lampen stieg senkrecht in den Himmel. Gestalten schlichen gebückt über das Deck und nahmen ihre Plätze ein. Die Taue der Masten wurden besetzt, um sofort volle Segel setzen zu können, wenn der entsprechende Befehl gegeben wurde. Ein Pirat schlich zu dem drehbaren Geschütz im Bug, das Steine und Schrot verschießen konnte. Für Charlotte sah es aus wie eine Minikanone, war aber, wie sie im Laufe der Tage erfahren hatte, nur für den Nahkampf geeignet. Andere Piraten brachten sechs Metallpfannen hinauf und stellten sie in Längsrichtung verteilt in die Mitte des Schiffs auf Vorder- und Achterdeck.

Was sich wohl darin befindet?, fragte sich Charlotte, die nun abwechselnd in die Ferne blickte und neugierig dem Treiben auf dem Schiff zusah. Zu ihrer Anspannung gesellte sich Faszination. Die Mannschaft schien genau zu wissen, was zu tun war. Irgendwie gab dies Charlotte ein Gefühl der Sicherheit vor dem bevorstehenden Kampf, der doch überhaupt nicht der ihre war. Der Gedanke an Flucht lebte weiter in ihr, aber sie wusste nicht, wer da kam und wie man sie dort behandeln würde. Vielleicht würde man sie für eine Spionin halten und gleich erschießen, sollte sie in den Wirren eines Seekampfes schwimmend zu einem der fremden Schiffe gelangen

Nein, entschied sie, es war besser, auf der GLORIOUS DAYS zu bleiben.

Einer der Männer hob den Deckel einer Pfanne etwas an, und da sah Charlotte ein schwaches Glühen.

Eine Kohlepfanne, wusste sie im selben Moment.

Als nächstes legte jemand ein paar Köcher mit Pfeilen sowie Bögen daneben, und Charlotte wurde klar, dass es Zubehör zum Abschießen von Brandpfeilen war. Auch die Kanonen unter Deck, war sie sich nun sicher, würden bereits mit Schwarzpulver und Kugeln beladen sein. Ein ansegelndes Schiff würde dies aber nicht sehen können, da die Stückpforten noch geschlossen waren. Das Piratenschiff machte nach außen hin weiter ganz den Eindruck, als würde seine Besatzung noch untätig in den Kojen liegen.

Wieder schaute Charlotte auf den Horizont.

Es wurde ernst. Die Schiffe hatten den Kurs gewechselt und segelten nun auf die GLORIOUS DAYS zu. Aufgeregt winkte sie nach unten, wo der Bote immer noch zwischen den kauernden, aufs Höchste gespannte Piraten saß, und nach oben zum Mastkorb blickte. Als er Charlottes Signal gewahrte, kletterte er wieder hinauf, nahm die geflüsterte Nachricht entgegen und rutschte erneut die Seile hinab. Wieder rannte er zum Steuerhaus, und kurz darauf kamen Rogers und die Offiziere heraus. Ihre Gesichter waren hart und entschlossen.

Die Angreifer pflügten mit vollen Segeln in einer weitgezogenen Kette auf die GLORIOUS DAYS zu. Es dauerte nicht mehr lange, dann konnte Charlotte die Schiffe auch ohne Hilfsmittel erkennen. Eine Flagge hatten sie nicht gehisst. Aber selbst wenn, wer sagte ihr, dass es nicht eine Finte gewesen wäre?

Die Morgendämmerung hatte begonnen.

Die Deckel der Kohlepfannen wurden entfernt. Rasend schnell zogen die Piraten an den Seilen, und die Segel wurden förmlich nach oben gerissen. Das Schiff wendete hart nach steuerbord. Es machte volle Fahrt und raste auf die breite Lücke zwischen den zwei inneren Angreifern der Linie zu. Die beiden äußersten fremden Schiffe, die weit entfernt waren, schickten sich an, um die GLORIOUS DAYS herumsegeln zu wollen. Das würde ihnen auch gelingen, aber es würde noch einige Zeit in Anspruch nehmen, bis sie eine Breitseite abfeuern konnten.

Die GLORIOUS DAYS aber raste weiter und war schließlich fast zwischen den beiden Zweimastern angekommen.

„Kaskadisches Kanonenfeuer, Zweierblöcke, Steuerbord und Backboard. - Jetzt!“, schrie Rogers, der erhöht auf dem Oberdeck im Heck stand und einen perfekten Überblick über das Kampfgeschehen hatte.

Wenig später hörte Charlotte den Donner der Geschütze. Etwas sirrte durch die Luft. Nicht wenige der Schüsse gingen daneben, die Kugeln klatschten weit von den Angreifern entfernt ins Meer. Doch zwei Kugeln trafen den steuerbordseitigen Angreifer. Ein großes Loch im Bug zeugte von einem Einschlag. Die zweite Kugel knallte auf dem Deck auf. Charlotte sah vom Mastkorb aus, wie ein Stück des fremden Oberdecks und der Reling weggerissen wurde.

Mit beiden Händen krallte sich Charlotte in den Korb der Plattform. Der Fahrtwind war mörderisch in dieser Höhe, und sie glaubte sogar ein Schwingen des Mastes zu spüren.

Die beiden Angreifer erwiderten nun das Feuer. Ihre Kanonen brüllten. Die Kraft des explodierenden Schwarzpulvers trieb dunkle, todbringende Kugeln an. Graue Rauchschwaden schossen aus den Stückpforten. Die Gegner feuerten aus allen Rohren, obwohl sich die Schiffe noch nicht Breitseite an Breitseite gegenüber standen. Ein Teil der Kugeln pfiff über die GLORIOUS DAYS hinweg, manche schlugen weit vor dem Bug ins Wasser, und nur ein paar wenige landeten auf dem Deck und schlugen hindurch. Noch war die Zielgenauigkeit gering, da die Schiffe reichliche 500 Fuß voneinander entfernt waren.

Rogers brüllte ein weiteres Kommando, und seine Männer schossen die ersten Brandpfeile ab. Die Spitzen der Pfeile waren mit in Rum getränkten Tüchern umwickelt. Sie wurden an den glühenden Kohlen entzündet und schossen heulend in großem Bogen in den Himmel. Die erste Salve richtete noch keinen Schaden an, da sie deutlich vor dem Schiff im Meer versank. Aber sie brachte einen kleinen Zeitgewinn, denn die fremden Schiffe änderten ein wenig den Kurs, um nicht noch näher zu kommen. Charlotte hatte den Eindruck, dass die Manöver überhastet erfolgten. Auf Feindesseite hatte man offensichtlich nicht mit so rascher und konzertierter Gegenwehr gerechnet.

„Alle Segel einholen!“, schrie Rogers, und sofort wurden die viereckigen Rahsegel vollständig gerefft. Die GLORIOUS DAYS machte nur noch Restfahrt, die aber vom Widerstand des Meeres rasch aufgezehrt werden würde. Das Piratenschiff lag nun genau zwischen den zwei fremden Zweimastern, und feuerte auf beiden Seiten mit je einer Hälfte der Kanonen. Wenn die Kugeln ihr Ziel gefunden hatten oder im Meer versunken waren, feuerte die andere Hälfte, während die erste bereits wieder beladen wurde. Rogers deckte die Feindschiffe regelrecht mit Achtpfünderkugeln ein.

Plötzlich sah Charlotte, wie zwei Beiboote der GLORIOUS DAYS hinter dem Heck hervorschossen und auf die Angreifer zuruderten. Charlotte hatte überhaupt nicht bemerkt, dass diese bemannt worden waren. Die Beiboote gaben nur kleine Ziele ab, und die abgefeuerten Kanonenkugeln verfehlten sie sämtlich, denn die Angreifer konnten die Menge an Schwarzpulver gar nicht so schnell variieren, wie die Boote sich ihnen näherten. Aber der Kugelhagel wühlte die See auf, und Rogers' Männer mussten hart kämpfen, nicht zu kentern.

Aber ihnen gelang, was ihre Hauptaufgabe war: bis auf sichere Pfeilschussweite an die fremden Schiffe heranzukommen. Unzählige Brandpfeile flogen los - und diese trafen. Auf den angreifenden Schiffen brach Panik aus. Männer rannten über Deck, um die Brandherde zu löschen.

Die zweite Pfeilsalve zielte höher und hatte die Segel im Visier, die sofort großflächig Feuer fingen. Die Piraten johlten, drehten nun aber, da ihre Aufgabe erledigt war, sofort ab.

Auch die Angreifer besaßen Bogenschützen - und vor allem ein drehbares Buggeschütz, mit dem sie die Ruderboote aufs Korn nahmen. Dutzende Pfeile flogen auf die Piraten zu, und die Kanonen donnerten weiter. Doch die Zweimaster hatten ihre Fahrt nicht so abrupt gedrosselt, sodass sie rasch an der GLORIOUS DAYS und den Ruderbooten vorbeischossen. Sie feuerten eine weitere Breitseite ab - und trafen. Es knirschte und knarrte gefährlich auf dem Piratenschiff. Ein Großteil des Steuerhauses wurde von drei Kugeln zerfetzt. Zwei Piraten schrien, als Kanonenkugeln sie hinwegfegten. Ein Zufallstreffer, aber er besiegelte das Ende der beiden Männer.

„Volle Fahrt!“, brüllte Rogers den nächsten Befehl, und sofort wurden die Segel wieder gehisst.

Noch einmal feuerten die Kanonen auf allen Seiten, und grellgelbe Brandpfeile erhellten den grauen Himmel, dann war der erste Kampf beendet.

Die GLORIOUS DAYS war noch einmal glimpflich davongekommen. Die Brände waren rasch gelöscht. Und nur ein Segel war zerfetzt. Auf den beiden Zweimastern dagegen sah es deutlich schlimmer aus. Sie brannten weiter überall, und die Kanonentreffer hatten weitaus schlimmere Schäden angerichtet.

„Achtung!“, brüllte Charlotte in diesem Moment. Sie hatte sich einmal um die eigene Achse gedreht, um die nähere Umgebung des Schiffes zu überwachen, und sah, wie hinter dem vorbeischießenden Angreifer ein Ruderboot auftauchte und Fahrt auf das Piratenschiff zu machte. Es war schon gefährlich nahe. „Backbord achtern! feindliches Kommando!“ Die Angreifer versuchten also denselben Trick wie die Piraten.

Sofort rannte ein halbes Dutzend Seeleute zur angegebenen Stelle. Sie zogen eine Kohlepfanne mit, luden ihre Bögen und feuerten. Auch mit den Donnerbüchsen wurde geschossen. Aber das feindliche Boot besaß einen Holzschild im Bug, sodass Pfeile und Steine abprallten. Die Pfeile derFeinde wiederum fanden ihr Ziel - die viel größere GLORIOUS DAYS.

Charlotte stieg aus ihrem Mastkorb hinab, griff sich einen Bogen und einen Köcher, und kletterte in höchstem Tempo wieder hinauf. Von ihrer Position aus konnte sie bei der geringen Entfernung der beiden Schiffe hinter den Schutzschild schauen. Das Heck des Ruderbootes lag klar vor ihr. Sie schoss einen Pfeil nach dem anderen auf die Feinde ab.

Da! Einen hatte sie getroffen. Mitten ins Herz. Ächzend sank der Mann zu Boden. Charlotte wunderte sich über sich selbst, dass sie so ruhig war, und ihre Hand nicht zitterte. Zwar landete sie keinen weiteren Treffer mehr, aber die Angreifer hatten sich in Deckung begeben und ihre eigene Schussfrequenz reduzieren müssen.

Die Piraten aber feuerten weiter. Zwar prallten viele Pfeile vom Schutzschild ab, rutschten ins Meer und verloschen zischend, aber ein geringer Teil blieb stecken. Nach und nach fing der Schild an mehreren Stellen Feuer. Die Angreifer kippten den brennenden Holzschild schließlich zur Seite und stießen ihn ins Meer. Einer der Fremden schwang einen schweren Enterhaken und wollte ihn hinauf auf die GLORIOUS DAYS werfen, da traf ihn ein Brandpfeil in die Brust. Aufschreiend stürzte er ins Meer.

Nun konnten die Piraten ihren Vorteil der erhöhten Position ausspielen, und nur wenig später hatten sie die Oberhand gewonnen. Die restlichen sechs Angreifer wurden schnell besiegt. Brennend und ohne Besatzung trieb das Boot danach im Meer. Die Verteidiger johlten wieder.

Charlotte verstand nicht viel von Kriegsführung, aber wäre die GLORIOUS DAYS von den Schiffen überrascht worden, hätte dieses Manöver wahrscheinlich Erfolg gezeigt. So aber hatten die Piraten die vordringlichen Arbeiten bereits erledigt gehabt, und Männer waren frei gewesen, auf diesen Kleinangriff zu reagieren.

Das Überraschungsmoment der Verteidigungsbereitschaft war nun jedoch ausgespielt. Die ersten Angreifer hatten ihre Beute schlicht unterschätzt. Doch nun kamen die restlichen beiden Schiffe, welche um die GLORIOUS DAYS herumgesegelt waren, in Kampfentfernung. Sie waren noch völlig unbeschädigt, im Gegensatz zu Rogers' Schiff.

Die zweite Runde begann. Sie würde härter werden.

„Mischbestückung! Vollkugeln auf den Rumpf! Kettenkugeln in die Takelage zielen!“, ordnete Rogers an.

***

In den nächsten vier Angriffswellen konnte die GLORIOUS DAYS die drei fremden Zweimaster vernichtend beschädigen. Zwei waren bereits gesunken, der dritte kurz davor. Nur der Dreimaster leistete noch erbitterte Gegenwehr.

Aber das Piratenschiff zahlte einen hohen Preis. Inferno herrschte auf den Decks, und es brannte an unzähligen Stellen. Die Mannschaft versuchte alles, um Herr der Lage zu werden. Zahlreiche Kugeln waren eingeschlagen und hatten riesige Löcher in die Aufbauten gerissen. Doch schlimmer waren die Treffer im Rumpf auf Höhe der Meeresoberfläche. In einige Lecks strömte Wasser ein. Zimmerleute waren dabei, die Löcher notdürftig zu flicken. Andere Piraten nutzten in einem verzweifelten Wettlauf gegen die Zeit tragbare Pumpen und sogar simple Eimer, um Wasser wieder hinauszubefördern.

Die GLORIOUS DAYS kämpfte ums Überleben. Ob sie als Siegerin daraus hervorgehen würde, stand in den Sternen.

Der Zimmermann hatte im Raum mit dem größten Leck ein Loch in die Decke geschlagen und reichte einen Eimer voll Wasser hinauf, den Charlotte, auf den Knien kauernd, entgegennahm und aus dem geöffneten Bullauge des darüberliegenden Raumes ins Meer kippte. Den leeren Eimer reichte sie wieder nach unten. So ging es eine ganze Weile weiter, während andere Männer das Leck vernagelten. Dann war es geschafft. Wenigstens dieser Schaden war erst einmal behoben.

Charlotte keuchte vor Anstrengung, doch Zeit zur Erholung gab es keine. Hier war alles getan, und so lief sie auf das Oberdeck hinaus, um irgendwo anders zu helfen. Schreie drangen an ihr Ohr, Befehle wurden gebrüllt, und wieder schlug eine Kugel aus einer der Kanonen des Dreimasters ein. Es knirschte und knarrte, aber nur ein Stück der Reling irgendwo auf der Backbordseite war in Mitleidenschaft gezogen worden. Etwa die Hälfte der Segel hing in Fetzen an den Rahen.

Rauchschwaden waberten durch die Luft. Charlottes Augen begannen zu tränen, und sie musste husten. Aber sie kämpfte sich weiter über das Schiff.

Die ganze Zeit schon war eine Idee in ihrem Kopf herumgegeistert. Ihre Mutter hätte sie für verrückt erklärt, aber der Gedanke ließ Charlotte einfach nicht mehr los. Es war Zeit zum Handeln, nicht zum Reagieren oder Geschehenlassen.

Aber was würde der Preis dafür sein?

Ich muss es tun, dachte sie entschlossen. So geht es nicht weiter. Der Dreimaster schießt uns ins Verderben.

Vielleicht gelang auch gar nicht, was sie vorhatte. Dann war ohnehin alles egal.

Charlotte lief zum Achterdeck, stieg die Luke hinab und rannte an Piraten, denen sie keine Beachtung schenkte, vorbei zum Kartenraum. Er war leer. Charlotte nahm eine der kleineren Seekarten und ein Fässchen mit Tinte sowie eine der Federn und lief zurück ins Freie.

„Deckung!“, schrie jemand, und für einen Moment stoppte die hektische Betriebssamkeit an Bord der GLORIOUS DAYS, als die Männer angespannt warteten, was die nächste Breitseite des Angreifers anrichten würde. Der Dreimaster schien über unbegrenzte Munition zu verfügen. Dieser Umstand drohte, dem Piratenschiff den Garaus zu machen.

Charlotte lief, als der Kugelhagel endete, weiter zum Bug, wo sie sich notdürftig hinter einem aufgerollten Tau versteckte. Sie hob den Kopf und konnte den Namen PRIDE AND HONOR am Rumpf des Angreifers gut erkennen. Dann legte sie die Seekarte, die mehrere Regionen des Meeres im Süden Englands zeigte, auf die Planken.

Auf einer Seite, am oberen Rand, war ein handtellergroßes Stück, auf das nichts gezeichnet worden war. Diese Stelle würde sie nutzen.

Charlotte öffnete das Tintenfass, tauchte die Feder hinein und begann zu zeichnen. Die PRIDE AND HONOR lag etwa 300 Fuß entfernt. Gerade herrschte Feuerpause, die Kanoniere luden wohl nach. Charlotte sah, wie unzählige Männer an Deck des Angreifers hin und her rannten. Auch auf der PRIDE AND HONOR brannte es, und die Schäden des Kampfes waren unübersehbar. Doch das interessierte Charlotte nicht.

Sie zeichnete den Fuß des Hauptmastes, die Umrisse des nur wenig zerstörten Steuerhauses und die Öffnungen für die Kanonen unter Deck. Kratzend huschte die Feder über das alte, harte Papier. Immer wieder tauchte Charlotte sie in das Tintenfass ein, schüttelte das Schreibgerät ein wenig aus, um keine Flecke auf ihre Zeichnung zu bringen, welche den Erfolg beeinträchtigen konnten, und zeichnete auffällige Einzelheiten des Schiffsrumpfes.

Den Kampf - das Bellen der Kanonen, die Schreie Verwundeter, das Sirren der wenigen Pfeile oder den beißenden Geruch der Brände - nahm Charlotte nur noch am Rand ihrer Aufmerksamkeit wahr. Sie konzentrierte sich auf ihr Werk. Jeder Pirat hatte seine spezifische Aufgabe, und in diesem Moment fühlte sich Charlotte, als gehörte sie zur Mannschaft.

Nach einigen Minuten war eine feine, detailreiche Zeichnung des Schiffes erreicht. Die Besatzung oder andere bewegliche Aufbauten hatte sie ausgespart. Charlotte signierte das Bild und riss das gezeichnete Schiff vom Mastfuß bis zur Wasserlinie schräg von oben nach unten durch. Die Seekarte zerfiel in zwei ungleich große Teile. Gespannt blickte Charlotte auf die PRIDE AND HONOR, während das Blut wie erwartet begann zu tropfen.

Zuerst war nichts Ungewöhnliches zu sehen, dann aber senkte sich der Hauptmast zur Seite. Seeleute schrien, und die Männer auf der PRIDE AND HONOR rannten wild durcheinander. Schließlich klaffte ein riesiger, nur leicht gezackter Riss quer durch den Rumpf.

Ein unglaublich schmerzhafter Stich fuhr durch Charlottes Geist, doch sie schüttelte sich nur kurz. Aus dem Tropfen des Blutes aus ihrer Nase war ein steter Strom geworden.

Und dann brach die PRIDE AND HONOR auseinander. Sofort verloren die Schiffshälften ihre Schwimmfähigkeit und richteten sich natürlicherweise so aus, dass das schwerere Ende tiefer ins Wasser eintauchte. Ein Teil der Unterdecks war zu tödlichen Fallen geworden. Wer sich dort aufhielt, musste sich gegen einströmendes Wasser nach oben kämpfen. Hände krallten sich verzweifelt an die Bruchkanten - das, was vorher der Decksboden gewesen war.

Charlotte stöhnte und hielt sich den Oberschenkel. War sie von einem Pfeil getroffen worden, dessen Annäherung sie weder gehört noch gespürt hatte? Wieder verzog sie schmerzgepeinigt das Gesicht. Der Oberschenkel fühlte sich an, als wollte er platzen.

Da verschwamm ihre Sicht. Es war, als blickte sie durch dichten Nebel. Nur mehr undeutlich nahm sie Schemen und das Flackern der Flammen wahr. Charlotte hielt sich an der Reling fest, denn sie verlor plötzlich auch das Gleichgewicht, obwohl sie weiter auf den Knien kauerte. Alles schien sich zu drehen. Sie würgte, presste die Lippen aufeinander und schmeckte etwas Warmes, Zähes. Panikerfüllt öffnete sie den Mund, und ein Schwall Blut schoss heraus. Doch das nahm sie kaum noch wahr. Die Kartenhälften rutschten ihr aus der Hand, dann fiel Charlotte kraftlos zur Seite. Eine solch starke Reaktion ihres Körpers auf das, was doch eigentlich der Befriedigung des Dämons diente, hatte sie noch nie verspürt.

Sterbe ich nun doch? War alles umsonst?, waren ihre letzten Gedanken, bevor das Nichts nach ihr griff.



5.
Die Entscheidung
Juli 1640, im Atlantik vor der Küste Englands


Die Piraten brüllten und jubelten lautstark. Sie wussten, dass sie gewonnen hatten.

Auf der PRIDE AND HONOR herrschte blankes Chaos. Die Besatzung auf der hinteren Hälfte versuchte verzweifelt, die Rettungsboote zu Wasser zu lassen, was ihnen irgendwie auch gelang. Männer vom anderen Teil des auseinandergebrochenen Dreimasters sprangen in die See und schwammen zu den kleinen Booten, die nur Minuten später Kurs auf die Küste nahmen.

„Wir machen sie fertig!“, schrie Clive wie im Siegestaumel und rannte zum letzten noch nicht im Wasser befindlichen Beiboot des Piratenschiffes.

Doch ein Befehl von Rogers stoppte ihn. „Lass sie! Wir fahren zum Schiff und nehmen uns, was wir gebrauchen können!“

Rogers' Gesicht wirkte ausgezehrt, und er hielt sich den schmerzenden Oberschenkel. Die Spitze eines Brandpfeiles, die ihn getroffen hatte, steckte noch. Die Kleidung war um die Eintrittsstelle schwarz verfärbt. Sie hatte gebrannt, aber Rogers hatte sie mit dem heraufgeschleppten eingedrungenen Wasser löschen können. Um die Wunde würde sich nachher der Feldscher kümmern müssen, nun aber gab der Kapitän zuerst weitere Befehle. Wenig später war ein Prisenkommando auf dem Weg.

Die restlichen Piraten kümmerten sich um das halb zerstörte eigene Schiff. Die zuvor herrschende panische Hektik wich nun einer kontrollierten Betriebsamkeit. Bald waren die Brände gelöscht, und nur noch kleine Rauchschwaden stiegen in die Luft empor. Nun konnte man dazu übergehen, erste Schäden nicht nur notdürftig zu flicken, sondern sie dauerhaft und sorgfältig zu reparieren. Lecks wurden zugezimmert und mit Pech abgedichtet.

John und Henry inspizierten die Decks und Kajüten und teilten die Arbeiten je nach Priorität ein.

Schließlich kamen sie zum Bug und fanden Charlotte.

„Die hat's ganz schön erwischt“, meinte Henry und beugte sich herunter. Er legte seine Finger an den Hals der bleichen Frau. „Sie lebt noch.“

„Bring sie zu Jeremy. Er soll sich um sie kümmern“, ordnete John an.

Henry stand auf. Seine Haltung drückte Gleichgültigkeit aus. „Warum zum Feldscher? Wir wären sie gut los, wenn wir sie einfach über Bord werfen. Niemand wird sie vermissen.“

Johns Augen verengten sich. „Henry, ich müsste dich eigentlich melden. Francis' Order, sie nicht anzurühren, gilt immer noch. Außerdem hat sie die vier Schiffe schon in der Nacht bemerkt, sodass wir Vorbereitungen treffen konnten.“

„Pff! Das hätten wir auch ohne sie geschafft. Ferris hätte es auch früh genug bemerkt.“ Doch er gehorchte dem direkten Befehl, lud sich die blutverschmierte Frau auf die Schulter und stapfte los.

John wollte sich schon abwenden, da fiel sein Blick auf die Fetzen einer Seekarte, die in der großen Blutlache lagen. Er betrachtete sie sich genauer. Es war eine alte Karte, die schon oft für Planungen ihrer Coups Verwendung gefunden hatte. John zog die Stücke aus der Pfütze, schüttelte sie etwas aus und schob sie unter den Gürtel. Er würde sie nachher ins Kartenhaus zurückbringen.

***

Drei Tage später waren die gröbsten Schäden auf der GLORIOUS DAYS behoben. Man hatte viel Holz von den Resten des Dreimasters herrübergebracht und verwendet. Das fremde Schiff war direkt im Bereich der Pulverkammern auseinandergebrochen, und die Piraten hatten Säcke mit Kanonenkugeln und einige Fässer mit Schwarzpulver an sich bringen können. Ein großer Teil dessen, was sie im Verlauf des Gefechts selbst verschossen hatten, war nun wieder aufgefüllt. Auch die Lebensmittelkammer war noch intakt gewesen. Fleisch, Wein und Rum befanden sich nun ebenfalls auf dem Piratenschiff.

Der Kapitän saß in seiner Kajüte und blickte aus dem Fenster auf die ruhige See an diesem blauen Sommertag. Er dachte nach und drehte dabei immer wieder die beiden Kartenstücke in seinen Händen herum. Sie waren so weit wie möglich gesäubert worden, sodass man sie wieder verwenden konnte.

Was Francis jedoch weitaus mehr interessierte, war die seltsame Zeichnung in einer der Ecken. Setzte man die beiden Stücke zusammen, ergab sich ein Teil der PRIDE AND HONOR. Francis fragte sich zum wiederholten Male, wer dieses Bild gezeichnet hatte, und vor allem, warum. Das Bild zeigte ein Einschussloch im Angreifer, es musste also während des Kampfes angefertigt worden sein. Keiner seiner Männer kam dafür infrage, das hatte eine entsprechende Befragung ergeben. Rogers glaubte den Antworten, denn die wenigsten konnten überhaupt richtig lesen. Und für Zeichnungen interessierten sie sich nur, wenn es die Wappen der Schiffe waren, welche die Crew zu überfallen gedachte. Rogers hatte Männer im Kampf verloren. Aber er konnte sich auch bei diesen nicht vorstellen, dass sie eine geheime Zeichenleidenschaft pflegten.

Blieb also nur die junge Frau, die ihn seit ihrer Ankunft auf seinem Schiff faszinierte. Sie war eine einfache Magd, das bewiesen die Schwielen an ihren Händen. Aber von ihr ging etwas Geheimnisvolles aus. Sie war mehr, als es den Anschein hatte.

John hatte die Zeichnung unter ihrem zusammengeklappten Körper gefunden.

Francis war ein logischer Denker, das bewiesen die zahlreichen erfolgreichen Kaperfahrten, die unter seinem Kommando stattgefunden hatten. Auch hier gab es für ihn nur einen Schluss, der sich förmlich aufdrängte: Charlotte von Gent hatte diese Zeichnung während des Kampfes angefertigt, und das zu einem Zeitpunkt, als es nicht gut für die GLORIOUS DAYS stand.

Warum?, fragte sich Rogers. Hatte das Inferno sie verrückt werden lassen?

Als es an der Tür klopfte, wurde er in seinen Überlegungen unterbrochen. „Herein“, rief er, ohne seinen Blick von der Karte abzuwenden.

„Sir, die Frau ist wieder aufgewacht, und diesmal spricht sie. Sie fragt nach Euch.“

Rogers sprang auf. Das war die Nachricht, auf die er gewartet hatte. Nun würde er Antworten bekommen. Der Kapitän lief sofort zu Charlottes Kabine. „Lasst mich alleine“, schickte er die anderen Piraten hinaus, setzte sich auf die Kante des Betts und nahm den kleinen Holzbecher, der eine warme, schleimige Masse enthielt, von welcher Jeremy behauptete, sie würde helfen, schneller zu Kräften zu kommen. Francis schob eine Hand unter Charlottes Nacken und hob ihren Kopf vorsichtig ein wenig an. Dann setzte er den Becher an ihre bleichen, strichdünnen Lippen.

„Trink! Es wird deine Genesung unterstützen.“

Charlotte hauchte ein kaum hörbares „Wie?“, doch zu mehr war sie nicht in der Lage. Nur kurz hatte sie die Augen einen Spalt weit geöffnet, doch die Lider fielen schwer wie Blei wieder herunter. Charlotte versuchte, in winzig kleinen Portionen etwas zu sich zu nehmen. Der unnatürlich spitz und weit nach oben ragende Adamsapfel bewegte sich nur langsam, denn das Schlucken strengte sie unglaublich an. Davon abgesehen lag sie reglos und wie tot in dem breiten Bett unter der dicken Decke. Ihre Haut war porzellanweiß und zeigte nichts mehr von der Bräune, die sie zuvor aufgrund der Arbeit im Freien bei Lord Spencer oder hier auf dem Piratenschiff angenommen hatte. Ihr Atem ging stoßweise, pfeifend und röchelnd, und stoppte nicht selten für Sekunden.

Rogers Gesicht überzog sich mit Sorge, als er die Frau in diesem Zustand sah. Doch als er den Puls an ihrem Hals ertastete, stellte er zu seiner Überraschung fest, dass dieser viel stärker pochte, als er erwartet hatte.

Es dauerte über eine Stunde, bis Charlotte das Gefäß leergetrunken hatte. Der Feldscher schien Recht zu behalten, denn die starre, unnatürliche Reglosigkeit war in kleine, kaum erkennbare Bewegungen übergegangen. Charlotte legte mal den Kopf ein wenig mehr zur einen, dann zur anderen Seite, und krümmte einzelne Finger ansatzweise, als wollte sie ihren Körper aufwecken und wieder an Aktivität gewöhnen.

Schließlich schlug sie die Augen auf. Die Lider flackerten und verharrten dann halbgeschlossen. Charlottes Blick war klar, und sie fokussierte den Kapitän. War der Körper auch noch mehr als nur geschwächt, ihr Geist war deutlich wacher, wenn auch sehr langsam im Fluss der Gedanken.

„Was ist geschehen?“, fragte sie leise. Die Stimme klang kratzig, außer Übung. und die Worte kamen langgezogen. Charlotte musste nach dieser kurzen Äußerung husten. Schweiß brach ihr aus, und Rogers betupfte ihre Stirn mit einem Tuch, das er in der kleinen Wasserschüssel neben dem Bett anfeuchtete.

„Der Kampf vor vier Tagen hat uns an den Rand der Niederlage gebracht. Wir hatten keine Hoffnung mehr, als plötzlich das Wunder geschah. Die PRIDE AND HONOR brach unvermittelt auseinander. Niemand wusste, was der Grund dafür war. Aber die Angreifer verfielen in Panik, und das rettete uns. Heute ist die GLORIOUS DAYS wieder in einem halbwegs segeltüchtigen Zustand, aber es wird noch Wochen dauern, bis alle Schäden beseitigt sind. Wir ankern aktuell in einer versteckten Bucht nördlich von Newquay.“

„Dann ist doch alles gut ausgegangen“, erwiderte Charlotte mit einem erleichterten Seufzen. Ihr Einsatz war also nicht umsonst gewesen. Sie spürte die tiefe Schwäche ihres Körpers, der Preis, den sie für die starke Nutzung des Dämons hatte zahlen müssen. Doch es fühlte sich nicht nach dem nahen Tod an, es stellte nur einen vorübergehenden Zustand dar. Sie würde wieder genesen.

Aber was dann?

Es raschelte, und Charlotte, deren Blick während des Berichts ohne Fokus zur Decke gewandert war, schaute nun zu Francis, der zwei Stücke einer Seekarte in den Händen hielt. Charlotte erschrak unvermittelt, und ihre Pupillen weiteten sich.

Hatte man sie beim Zeichnen beobachtet, damals im brüllenden Chaos der Schlacht, die so unendlich fern schien? Charlotte sagte nichts, sondern wartete. Vielleicht wollte Francis sie einfach nur fragen, ob sie etwas über diese Karte wusste.

Doch Rogers' Worte zerstörten diese Hoffnung jäh.

„Charlotte von Gent, wer bist du wirklich?“, fragte der Kapitän eindringlich. Sein Blick war fest in ihre Augen gerichtet. „Warum hast du diese Zeichnung angefertigt und zerrissen? Und das während um dich herum der Tod einschlug.“

Charlotte wandte die Augen ab. Sie suchte fieberhaft nach einer glaubwürdigen Erklärung, fand aber keine. Sie kannte den Kapitän mittlerweile zumindest so gut, dass sie wusste, er würde sich nicht mit einem „Ich hatte Angst“ oder einer anderen lahmen Ausrede zufriedengeben.

Also traf sie eine Entscheidung.

Sie hatte ihre Gabe ein Leben lang geheimgehalten, ihren Eltern zuliebe. Jetzt, auf dem Schiff der Piraten, nach diesem Kraftakt, hatte sie schlicht keine Kraft mehr, diese Lüge weiter aufrechtzuerhalten. Sie wollte sich jemandem anvertrauen, mit jemandem darüber sprechen. Waren Rogers und seine Getreuen nicht Ausgestoßene der Gesellschaft? Irgendwie, so fand Charlotte, war es mit ihr doch fast das Gleiche. Drüben auf dem Land würde man sie ausstoßen, vielleicht als Hexe jagen, wenn man wüsste, zu was sie fähig war.

Aber hier? Musste man sie hier nicht verstehen?

Der Gedanke, dass auch die hartgesottenen Piraten Angst vor ihr und dem hatten, was die Männer nicht begreifen und kontrollieren konnten, kam ihr in diesem Moment nicht.

So sagte sie schlicht die Wahrheit.

„Ich habe die PRIDE AND HONOR gezeichnet, das Bild zerrissen - und in der Realität geschah das Gleiche. Ich habe eine spezielle Gabe. Was ich zeichne, kann ich manipulieren.“

Nach vier Tagen der fast durchgängigen Bewusstlosigkeit hatte sie diese kleine Rede völlig erschöpft, und so schloss sie die Augen. Ermattet lag sie da und lauschte auf ihren eigenen Atem.

Es tat gut, endlich einmal ausgesprochen zu haben, dass sie etwas Besonderes war.

Und mit einem Mal wurde ihr alles klar.

Dieses Etwas war kein Dämon, der sie besessen hatte. Es war etwas Gutes. Nichts an ihrer Gabe war verwerflich. Manche Menschen waren von Natur aus stark und gewannen jeden Zweikampf. Andere wie Rogers waren geniale Strategen im Krieg. Wieder andere wurden als von Gott gewollte Könige geboren.

Und ihr hatte der Allmächtige diese Gabe anvertraut.

Ja, sie fühlte sich gut und im Reinen mit sich selbst. Das erste Mal in ihrem Leben, wenn sie ehrlich zu sich war.

Da spürte sie eine Berührung an den Händen, die Rogers mit sanftem Druck so hielt, als wollte er sie zu einem Tanz auffordern.

„Ich dachte es mir. Zwar habe ich noch nie von jemandem mit einer solchen Fähigkeit gehört, aber die Welt ist voll von Wundern.“

„Fürchtest du mich denn nicht?“, fragte Charlotte und bemerkte erstaunt, dass sie der Antwort auf der einen Seite geradezu entgegenfieberte und doch gleichzeitig Angst vor ihr hatte. Sie realisierte nicht, dass sie unbewusst nun ebenfalls in das vertrautere Du übergewechselt war, mit dem der Kapitän sie schon ansprach, seit sie aufgewacht war.

Francis Rogers hob ihre Hand zum Mund und hauchte ihr einen zarten Kuss darauf. „Lass mich erst eine Gegenfrage stellen, ja?“

Charlotte nickte angedeutet. Hatte sie Francis ihre Hände zuerst nur passiv überlassen, so drückte auch sie nun leicht zu. Es tat gut, eine solche Zärtlichkeit zu spüren, egal was sie auch immer bedeuten mochte.

„Wenn du so mächtig bist, wäre es für dich ein Leichtes gewesen, von hier zu entkommen. Warum hast du nicht mich und die Crew gezeichnet und uns so getötet? Danach wäre das Schiff dein gewesen.“

Ungläubig blickte Charlotte den Mann an. Dieser Gedanke erschreckte sie zutiefst, und ihre Blässe wurde sogar noch eine Nuance intensiver. Für einen Augenblick verkrampften ihre Hände, und sie wollte diese zurückziehen. Doch Rogers ließ sie nicht los. Diese Geste gab ihr auf seltsame Art Kraft. Der Kapitän schien sie nicht als Monster anzusehen, sonst würde er anders reagieren.

„Ich kann doch nicht einfach Menschen - zerreißen!“ Ihre Stimme war laut, fast schrie sie diese Worte.

„Und weil du dies nicht getan hast, fürchte ich dich nicht.“

Für ein paar Minuten herrschte Stille.

Schließlich sagte Rogers: „Wenn du wieder bei Kräften bist, bringen wir dich an Land, wenn du möchtest. Deine Ersparnisse erhältst du zurück, ebenso deinen Anteil an der Beute, wenn es auch nicht viel ist. Du bist frei.“

Charlotte, die wieder mit geschlossenen Augen im Bett lag, spürte, dass der Kapitän noch etwas anfügen wollte. Sie wartete wortlos.

Rogers holte tief Luft. „Ich mache dir jedoch einen anderen Vorschlag: Bleibe hier auf der GLORIOUS DAYS. Du wirst vollwertiges Mitglied der Mannschaft. Ich mache dich zur Offizierin zur besonderen Verwendung. Du wirst mit Henry auf einer Stufe stehen.“

Wieder küsste er Charlottes Hand. „Und du würdest mir einen persönlichen Gefallen tun, Charlotte. Abgesehen von deiner nützlichen Gabe bist du eine bemerkenswerte und ganz wunderbare Dame. Werde meine...“

Er stockte, und Charlotte kicherte leise. „Du wolltest jetzt aber nicht sagen: ‚Werde meine Frau!‘, oder? Wir kennen uns kaum. Ich würde heute ‚Nein‘ sagen.“

Rogers räusperte sich. „Bleib bitte hier. Wir können zusammen die Meere besegeln, Abenteuer erleben. Du würdest mich glücklich machen. Und du wärst absolut frei, dafür garantiere ich. Du könntest jederzeit das Schiff verlassen. Und müsstest keine niederen Arbeiten wie die einer Magd mehr erledigen.“

Charlotte dachte nach. Was erwartete sie an Land? Sie würde ein neues Leben beginnen müssen, ganz alleine. Hier aber hatte sie schon eines. Und sie glaubte Rogers' Worten, dass sie frei war.

Die Entscheidung fiel ihr nicht schwer. Das Angebot war gut, und sie mochte Rogers irgendwie. Zwar war es keine Liebe, die sie aktuell ihm gegenüber empfand, aber sie wusste auch, dass der Mann sie beeindruckte.

„Ich bleibe.“ Und dann wurde aus ihrem leichten Lächeln ein breites Grinsen. „Wie wird mein Titel lauten? Offizierin 2B? Zweiter zweiter Offizier?“ Sie zog leicht an Rogers Händen, und der Mann beugte sich nach vorne herunter. Charlotte hauchte ihm einen angedeuteten Kuss auf die Lippen und sagte: „Lernen wir uns erst einmal besser kennen. Ich möchte ein richtiges Dinner, wenn ich wieder auf dem Damm bin. Und ein schönes Kleid.“

Fortsetzung folgt.

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