Beispiele für politische Gedichte (Texte)
Kurt Tucholsky: Kleine Begebenheit
(der Text iss'n "Gedicht"!)
Der Strumpfwirker und der Bauerssohn waren in der Nacht von einem Ackergraben in den anderen geklettert. Warum sie es getan hatten, wussten sie nicht. Man hatte ihnen gesagt, sie sollten es tun. Herren, die lesen und schreiben konnten, hatten es ihnen gesagt. Im anderen Ackergraben hatte man sie gleich angehalten, in derselben Nacht noch, und weil sie fremdgefärbte Kleider anhatten, sie sehr geschlagen und in ein Haus gesperrt.
Nachher sass ein Advokat hinter einem Tisch - er war so froh, hinter diesem Tisch sitzen zu dürfen! - und schrieb auf, was der Strumpfwirker und der junge Bauer zu sagen wussten. Da war noch ein Gastwirt, der schlug sie, wenn sie nicht genug sagten.
Ein Besucher kam zu ihnen und sagt, man würde sie töten - und zwei Leute, ein Steinklopfer und ein junger Mensch, der noch keinen Beruf hatte und bei den Eltern wohnte, bewachte sie von Stund an.
Vierundzwanzig Menschen wurden benötigt, um die beiden totzuschießen. Es meldeten sich, freiwillig, achtzig. Achtzig - darunter waren Verheiratete und Ledige, Stille und Freche, Kräftige und Schlappe - sonst brave Leute, die keinem etwas zuleide taten, und die nur so gern einmal dabei sein wollten, um zu sehen, wie das wäre, wenn einer totgeschossen würde. Mehr: die ihn selber totschießen wollten. Denn das war erlaubt ... Befehligt wurden sie von einem Kohlenhändler.
Am Morgen dieses Tages erschien der traurige Zug auf dem ungeheuren Schneefeld südlich des Dorfes. Voran der Bauer und der Strumpfwirker, zwischen zwei Leuten von denen, die man aus den achtzig ausgesucht hatte; ein Arzt aus einer großen Stadt, der dergleichen noch nicht gesehen hatte und gleichfalls begierig war, es zu sehen; und der Kohlenhändler mit seinen Leuten. Die beiden in dünnen Jacken zitterten vor Kälte und Todesfurcht. Der Zug machte hinter den Scheinen halt. Der Advokat, der mitgegangen war, zeigte den beiden ein Papier, aber sie froren und konnten auch nicht lesen.
Man stellte sie an kleine schwarze Pfähle. Der Kohlenhändler sagte zu sein Leuten, sie sollten ihre Gewehre laden. Er sagte es sehr laut, obgleich er nahe bei ihnen stand.
Er hätte gewünscht, dass ihn seine Frau so sähe, wie er, der sonst Kohlen verkaufte, hier zwei Leute totschießen durfte.
Schüsse knallten. Die beiden fielen um wie leere Säcke. Der Arzt aus der großen Stadt ging hin und sah sich genau ihre Wunden an. Dann verscharrte man sie.
Ich habe vergessen zu erzählen, dass alle verkleidet waren: die Gerichteten als amerikanische, die Henker als irakische Soldaten.
(1921 veröffentlichte Kurt Tucholsky diesen Text; er schrieb damals statt "amerikanische" "serbische" und statt "irakische" "deutsche Soldaten". K.T. Schriften und Brief. 5, 79f.; es könnte aber auch umgekehrt sein. - Von Tuchos Verleger S. Jacobson ist überliefert, dass er im Tucho-Text auch für den Druck die Nationalitätsangaben veränderte, um nicht nur "den Deutschen was aufzubürden". - Heute könnte man statt des "Ackergrabens" "Stellungen im Wüstensand" einfügen.)
aus "spankys little world"
(
http://spanky.blogya.de/Spanky/53797/ )
15.8.2006 - Ein politisches Gedicht
Rasier'n sich Männer den Kopf fein glatt,
findet morgen wieder ne Nazidemo statt.
Liegt auf der A 61 ein überfahrender Igel im Sterben,
wird Greenpeace gleich für ein allgemeines Fahrverbot werben.
Schreit sich der Iran-Präsi wieder den Kopf hochrot,
schießt Israel wieder ein paar Mullas tot.
-wird fortgesetzt-
Der "göttliche" Heine:
Michel nach dem März
Michel nach dem März
Solang ich den deutschen Michel gekannt,
War er ein Bärenhäuter;
Ich dachte im März, er hat sich ermannt
Und handelt fürder gescheuter.
Wie stolz erhob er das blonde Haupt
Vor seinen Landesvätern!
Wie sprach er - was doch unerlaubt -
Von hohen Landesverrätern.
Das klang so süß zu meinem Ohr
Wie märchenhafte Sagen,
Ich fühlte, wie ein junger Tor,
Das Herz mir wieder schlagen.
Doch als die schwarz-rot-goldne Fahn,
Der altgermanische Plunder,
Aufs neu erschien, da schwand mein Wahn
Und die süßen Märchenwunder.
Ich kannte die Farben in diesem Panier
Und ihre Vorbedeutung:
Von deutscher Freiheit brachten sie mir
Die schlimmste Hiobszeitung.
Schon sah ich den Arndt, den Vater Jahn -
Die Helden aus andern Zeiten
Aus ihren Gräbern wieder nahn
Und für den Kaiser streiten.
Die Burschenschaftler allesamt
Aus meinen Jünglingsjahren,
Die für den Kaiser sich entflammt,
Wenn sie betrunken waren.
Ich sah das sündenergraute Geschlecht
Der Diplomaten und Pfaffen,
Die alten Knappen vom römischen Recht,
Am Einheitstempel schaffen -
Derweil der Michel geduldig und gut
Begann zu schlafen und schnarchen,
Und wieder erwachte unter der Hut
Von vierunddreißig Monarchen.
(man könnte heute auch formulieren "Michel nach der Fussball-WM und dem Reformstau", und von "Wieder/Vereinigung der dtsch.Kleinstaaterei ("Föderalismusreform" heute) ist auch schon damals die Rede)
Erinnerung aus Krähwinkels Schreckenstagen
Wir Bürgermeister und Senat,
Wir haben folgendes Mandat
Stadtväterlichst an alle Klassen
Der treuen Bürgerschaft erlassen.
Ausländer, Fremde, sind es meist,
Die unter uns gesät den Geist
Der Rebellion. Dergleichen Sünder,
Gottlob! sind selten Landeskinder.
Auch Gottesleugner sind es meist;
Wer sich von seinem Gotte reißt,
Wird endlich auch abtrünnig werden
Von seinen irdischen Behörden.
Der Obrigkeit gehorchen, ist
Die erste Pflicht für Jud und Christ.
Es schließe jeder seine Bude
Sobald es dunkelt, Christ und Jude.
Wo ihrer drei beisammen stehn,
Da soll man auseinander gehn.
Des Nachts soll niemand auf den Gassen
Sich ohne Leuchte sehen lassen.
Es liefre seine Waffen aus
Ein jeder in dem Gildenhaus;
Auch Munition von jeder Sorte
Wird deponiert am selben Orte.
Wer auf der Straße räsoniert,
Wird unverzüglich füsiliert;
Das Räsonieren durch Gebärden
Soll gleichfalls hart bestrafet werden.
Vertrauet Eurem Magistrat,
Der fromm und liebend schützt den Staat
Durch huldreich hochwohlweises Walten;
Euch ziemt es, stets das Maul zu halten.
(law and order, Schäubles Fantasien, und mit "Waffen" sind natürlich auch die geistigen, die intellektuellen Waffen gemeint, die abzuliefern sind)
Bertolt Brecht: Legende vom toten Soldaten
(einer meiner Lieblingstexte seit Jugendzeiten)
Und als der Krieg im fünften Lenz
Keinen Ausblick auf Frieden bot,
Da zog der Soldat seine Konsequenz
Und starb den Heldentod.
Der Krieg war aber noch nicht gar,
Drum tat es dem Kaiser leid,
Daß sein Soldat gestorben war:
Es schien ihm noch vor der Zeit.
Der Sommer zog über die Gräber her,
Und der Soldat schlief schon.
Da kam eines Nachts militär-
ische Ärztliche Kommission.
Es zog die Ärztliche Kommission
Zum Gottesacker hinaus.
Und grub mit geweihtem Spaten den
Gefallnen Soldaten aus.
Der Doktor besah den Soldaten genau,
Oder was von ihm noch da war.
Und der Doktor fand, der Soldat war k.v.
Und er drückte sich vor der Gefahr.
Und sie nahmen gleich den Soldaten mit,
Die Nacht war blau und schön.
Man konnte, wenn man keinen Helm aufhatte,
Die Sterne der Heimat sehn.
Sie schütteten ihm einen feurigen Schnaps
In den verwesten Leib
Und hängten zwei Schwestern in seinen Arm
Und ein halbentblößtes Weib.
Und weil der Soldat nach Verwesung stinkt,
Drum hinkt der Pfaffe voran,
Der über ihn ein Weihrauchfaß schwingt,
Daß er nicht stinken kann.
Voran die Musik mit Tschindara
Spielt einen flotten Marsch.
Und der Soldat, so wie er's gelernt,
Schmeißt seine Beine vom Arsch.
Und brüderlich den Arm um ihn
Zwei Sanitäter gehn.
Sonst flög er noch in den Dreck ihnen hin,
Und das darf nicht geschehn.
Sie malten auf sein Leichenhemd
Die Farben Schwarz-Weiß-Rot
Und trugen's vor ihm her; man sah
Vor Farben nicht mehr den Kot.
Ein Herr im Frack schritt auch voran
Mit einer gestärkten Brust,
Der war sich als ein deutscher Mann
Seiner Pflicht genau bewußt.
So zogen sie mit Tschindara
Hinab in die dunkle Chaussee,
Und der Soldat zog taumelnd mit,
Wie im Sturm die Flocke Schnee.
Die Katzen und die Hunde schrein,
Die Ratzen im Feld pfeifen wüst:
Sie wollen nicht französisch sein,
Weil das eine Schande ist.
Und wenn sie durch die Dörfer ziehn,
Waren alle Weiber da.
Die Bäume verneigten sich, der Vollmond schien,
Und alles schrie hurra.
Mit Tschindara und Wiedersehn.
Und Weib und Hund und Pfaff!
Und mittendrin der tote Soldat
Wie ein besoffner Aff.
Und wenn sie durch die Dörfer ziehn,
Kommt's, daß ihn keiner sah,
So viele waren herum um ihn
Mit Tschindra und Hurra.
So viele tanzten und johlten um ihn,
Daß ihn keiner sah.
Man konnte ihn einzig von oben noch sehn,
Und da sind nur Sterne da.
Die Sterne sind nicht immer da,
Es kommt ein Morgenrot.
Doch der Soldat, wie er's gelernt,
Zieht in den Heldentod.