Das Rezept

4,00 Stern(e) 3 Bewertungen

Aufschreiber

Mitglied
Lillian war gespannt. Würde Granny Bertha wirklich kommen? Sie hatten sich immerhin seit sieben Jahren nicht gesehen. Ihr letztes Treffen war nicht besonders friedvoll verlaufen. Das sollte heute unbedingt anders sein, hatte sich Lillian vorgenommen.

Die Klingel schellte. Das junge Mädchen band sich schnell die Schürze um und beeilte sich, die Großmutter herein zu lassen. Die alte Dame hatte sich auf jung herausgeputzt, wie sie es schon immer getan hatte. Lillian erinnerte sich noch genau daran, wie Mister Johanson, der Händler, sie einmal für ihre Mutter gehalten hatte. - Und man konnte ihm keinen Vorwurf machen. Nun war Granny Bertha siebenundsiebzig Jahre alt - und wer es nicht wußte, hätte sie problemlos Ende Fünfzig geschätzt. - Nur die Gesundheit war nicht mehr das, was sie einst war. Darüber durfte man nicht sprechen, es war genau das, was bei ihrer letzten Begegnung ...

Granny betrat die Wohnung und inspizierte zu allererst einmal ungeniert den Zustand der Behausung.
Sie machte keinen Hehl daraus, dass sie das Haupt der Restfamilie war und bleiben würde. Dad hatte sie schon kurz nach Lillians Geburt vergrault gehabt. Er war ein ehrlicher, aber einfacher Mann und der Großmutter nie gut genug gewesen.
"Wir brauchen den Kerl nicht!", hatte sie festgelegt und ihrer einzigen Tochter verboten, "dem Idioten" nachzuweinen.

Ja, natürlich, sie brauchten keinen Verdiener im Haus, denn Granny hatte Gramps Eugene beerbt. Die kleine aber feine Fabrik, die sie besessen hatten, hatte sie sehr gewinnbringend an ein etabliertes Unternehmen der Modebranche verhökert, was ihr Vermögen knapp verdoppelte.
Ihr Vermögen ... Genau das war es, was ihr die Macht sicherte, denn Mum und Lillian waren die Gefangenen des goldenen Käfigs gewesen, den Granny um ihre Tochter und ihre Enkelin gebaut hatte. Es fehlte ihnen an nichts, außer der Freiheit, auch nur irgendeine Entscheidung selbst zu treffen.

Und dann war da der Infarkt gewesen ...
Granny lag im Krankenhaus, first class, natürlich, mit Chefarztbetreuung, ihre Gefangenen aber begannen zu leben. Und sowas kann man sich angewöhnen, ganz schnell. Der Klinik folgte die Kur. Zwar begann das mit baldiger Rückkehr drohende Regime sehr bald damit, seine Schatten vorauszuwerfen, aber noch schien die Sonne.
Ja, Granny musste besucht werden und unterhalten. Und man musste selbstverständlich zum Ausdruck bringen, dass man sie dringend wieder zu Hause haben musste, wollte ... Es war gelogen, klar war es das.
Doch es war nicht das Schlimmste! Bei ihrer Rückkehr brachte Granny eine neue Waffe mit: ihren Gesundheitszustand.
Hatte es schon vorher kaum ein Aufbegehren gegeben, so wurde der Wunsch nach einem ... Molekül der erlebten Freiheit in schweren Anfällen von Unwohlsein, leichtem Herzdruck und einer kleinen Schwäche des Kreislaufs erstickt.

Und dann war Lillian ausgebrochen, kurz nach dem erfolgreichen Studienabschluss ... in Chemie. Nun bewohnte sie ihre eigene kleine Wohnung, traf gelegentlich Kollegen auf ein Bier und rief einmal wöchentlich bei Mum an, um sie zu trösten. Aber das bedeutete heute alles nichts, denn heute würde sie mit Granny Kekse backen. Ein Friedensangebot, so hatte sie klar gemacht, bei der Einladung.

Als die Großmutter ihre Runde durch Lillians Reich beendet hatte, kam sie in die Küche gestürmt, band sich die zweite Schürze um, die die Enkelin bereitgelegt hatte und begann ... mit der Auswertung.
"Das Bild über dem Fernsehgerät hing nicht ganz gerade und es war auch nicht sehr ordentlich abgestaubt. Wer hat dir eigentlich eingeredet, dass Weinrot und Dunkelblau zwei kompatible Farben seien? - Das geht so gar nicht. Ich habe die blauen Kissen auf den Sessel in der Ecke gebracht und gegen die roten ausgetauscht."

Lillian nickte schweigend und knetete den Teig. Sie wusste, dass das nur die Einleitung sein konnte.
"Wieso steht eigentlich der Sessel in dieser Ecke? Da kann sich doch kein Mensch wohlfühlen! Keine Sonne, kein Licht, kein Platz, ist der für unerwünschte Besucher gedacht? Außerdem passt er nicht zur Couch."

Lillian lächelte die Großmutter an. Sie ging an den Schrank und holte einen weißen Kaffeepott heraus.
"Möchtest du einen Kaffee? Ich erinnere mich, dass Du den Rüdesheimer nicht abgelehnt hast, als ich noch ..."
"... zu Hause gewohnt hast, wie sich das für ein unverheiratetes Mädchen gehört", beendete die Dame den Satz, nicht ohne ein kleines bisschen Säure hinein zu tropfen. "Lass nur, ich mache mir selbst einen! Rolle du nur ordentlich den Teig aus, damit die Kekse gleichmäßig werden!"

Sie nahm Lillian den Pott aus der Hand und ging zum Schrank hinüber.
"Wo ist der Kaffee? Mein Gott, ist das eine Unordnung hier! Da findet sich ja kein Mensch zurecht."
Lillian legte den Teigroller beiseite und reichte Granny Kaffee, Weinbrand und Sahne.
"Bitteschön!"
"Ich hätte das Zeug schon noch gefunden. Oder du hättest es mir einfach verraten, wo es war."
"Ja, sicher", gab Lillian zu, "Aber so ging es doch schneller."

Granny antwortete nicht. Mit beinahe maschineller Präzision maß sie das Pulver ab und bereitete das Getränk zu. Anschließend trat sie an den Küchentisch, auf dem die Backvorbereitungen wieder in vollem Gange waren.
"Hier gehört noch etwas Mehl hin!" Sie tippte auf den Tisch und wischte sich anschließend die Hand an der Schürze ab, als habe sie in etwas ganz widerliches gegriffen. Wieder legte die junge Frau die Rolle beiseite und wandte sich der Großmutter zu.
"Ich habe noch ein paar ganz leckere Kekse, die ich mit Freunden nach einem alten afrikanischen Rezept gebacken habe. Darf ich dir etwas davon anbieten, so zum Kaffee?"
"Meinetwegen. Aber nur, wenn da nicht irgendwelche Drogen drin sind. Man hat ja schon gehört, dass die da so Blätter kauen und alles in einen großen Topf ..." Offenbar war ihr die Vorstellung unangenehm. Sie schüttelte sich. "Brrrrr!"
"Nein nein!", beeilte sich Lillian zu beteuern, "In meine Kekse hat niemand gespuckt."
"Na gut, dann her damit! Ich stehe ja auf so exotische Sachen."
Lillian blinzelte eine Erwiderung hinweg und servierte zwei Gebäckstücke.

Nun herrschte für eine Weile himmlische Stille, nur unterbrochen von Grannys lautem Kauen und den Schluckgeräuschen, wenn sie vom Rüdesheimer trank. Das gab der Enkelin Gelegenheit, den Teig fertig auszurollen und die Kekse auszustechen. Sie verteilte sie auf dem Blech und vertraute dieses der vorgeheizten Backröhre an.
Dann bereitete sie sich einen Tee.

"Trinkst du keinen Kaffee?", ließ sich Granny vernehmen, "Um diese Tageszeit kann man sich doch keinen Tee antun!"
Lillian nickte und trank heißen Sud, - einer Spezialmischung.
Als die Tasse geleert war, bat sie die Großmutter um eine Kostprobe von ihrem Rüdesheimer:
"Darf ich einmal von deinem Kaffee kosten? Du bringst den immer so toll hin ..." Gleichzeitig griff sie sich einen der afrikanischen Kekse und biss mit Genuss hinein.
"Hier, bitte!" Granny Bertha reichte ihr die Tasse, aus der Lillian einen großen Schluck nahm, sobald sie den Mund von Krümeln geleert hatte.

Der Kurzzeitwecker am Backofen gab Signal. Lillian wechselte die Bleche und schüttete das fertige Gebäck zum Abkühlen in eine Keramikschüssel.
Granny schien unzufrieden zu werden. Sie stierte mit blassem Gesicht vor sich hin und schwieg. Kleine Schweißperlchen traten ihr auf die Stirn.
Lillian war zu beschäftigt, um etwas zu bemerken. Sie belegte das nächste Blech.
"Es ist schön", brachte die Großmutter mit leicht krächzender Stimme heraus, "dass wir endlich wieder mal zusammen ..."

Plötzlich fiel der leere Kaffeepott zu Boden, gefolgt von einem schweren, dumpfen Plumpsen. Granny lag auf dem Fliesenboden der Küche und versuchte wohl, etwas zu sagen.
Lillian legte die Teigrolle beiseite und kniete sich neben die Großmutter.
"Was ist denn los, Granny? Geht es dir nicht gut?"
"Chrrrrrchrrtz!"
Ein Zittern bemächtigte sich der Frau. Es lief wie eine große Welle über den Körper, dann verebbte es und sie schien sich zu entspannen.
Lillian griff zu Grannys Hals und tastete nach dem Puls. Es gab ihn nicht mehr. Der scharfe Blick der Großmutter war erloschen.

Die junge Frau erhob sich und griff nach dem Behälter mit dem Kaffeepulver. Sie ging hinaus und kam wenig später mit einem anderen Gefäß in der Hand zurück, das sie öffnete und aus dem sie etwas Pulver entnahm. Sie bereitete frischen Kaffee zu und räumte die Keksdose mit dem schwarzen Gebäck weg.
Dann ging sie ins Bad und erbrach sich.

Wieder in der Küche griff sie sich ihr Telefon und rief die Notrufnummer an.
"Hallo! Meine Großmutter hatte wohl einen Herzanfall. Bitte kommen Sie schnell, sie hatte bereits einen Infarkt!
Dreizehn Fünfundvierzig, Middleton Road!"
Sie gab Weinbrand und Sahne in den Kaffee. Den konnte sie jetzt gebrauchen. 


Als die Sanitäter die Leiche nach unten gebracht hatten, rief Lillian Mum an.
"Granny ist tot. - Sicher ihr schwaches Herz..."
 
Zuletzt bearbeitet:
G

Gelöschtes Mitglied 13736

Gast
Ja Steffen,
so Damen kenne ich.
Gut ins Bild gesetzt!
LG
Os
 

Zoepfer

Mitglied
Treffende Situationsbeschreibung. Meine Adoptivhexe war genauso genordet. Leider ist sie zu spät gestorben - ich habe mich nie getraut, nachzuhelfen (dergleichen entspricht in realo nun einmal nicht meinem Naturell).
 

Aufschreiber

Mitglied
@Oscarchen

danke Dir. Ja, diese Damen kenne ich gut, nur dass die, welche ich erleben durfte, einen anderen Ansatz verfolgte:
"Also, was Ihr hier macht, ist ja sehr ungeschickt. Das muss man doch so ... machen. Ich habe mich da schon mal gekümmert, das wird nächste Woche in Ordnung gebracht."
Das führte dazu, dass die Dame, die nur unser Baby sitten sollte, sich die Leite schnappte und in allen Zimmern die Gardinen abnahm, um sie zu waschen (was meine Frau drei Tage zuvor getan hatte).

@Zoepfer

Oh ja. Leider - oder zum Glück für die Betreffenden - tut man das letztendlich eben nicht. Da kommt einem die Möglichkeit der literarischen "Verarbeitung" schon gelegen.

Beste Grüße,

Steffen.
 

ahorn

Mitglied
Hallo Aufschreiber,

wie deine anderen Texte, die ich mit Genuss lese, ist auch dieser handwerklich sauber und kurzweilige.
Leider fehlt mir, dies ist meine subjektive Meinung, eins:
Spannung oder zumindest ein gewisses ‚Aha-Momment‘. Der Text ist zwar nicht im Zeitungsstil geschrieben, einem solchen jedoch ebenbürtig.

Ab
Und dann war da der Infarkt gewesen ...
Steht im Groben alles fest. Die Alte stirbt. Wer richtet sie? Klar. Die Enkeltochter. Sonst ist niemand da.
Die einzige Frage, die offenbleibt, ist wie. Eine Frage, die sich kurz danach bereits eingrenzt. Giftmord. Kaffee oder Tee.

Dieses meine Anmerkung schmälert nicht den Wert der Geschichte, deines Textes, sondern, ich war hin- und hergerissen, ein Stern.:rolleyes:

Das junge Mädchen band sich schnell die Schürze um und eilte, die Großmutter hereinzulassen.
Ich weiß nicht mehr wie oft ich den Satz gelesen habe, aber mein Unterbewusstsein schmiss mir andauernd ein ‚um‘ vor ‚die Großmutter‘.

... und wer es nicht wusste ...

... , seine Schatten voraus zu werfen, ...
‚voraus zu werfen‘ oder ‚vorauszuwerfen‘ das ist hier die Frage?
Da es sich um eine Metapher handelt, in der es weniger um das Werfen, als mehr um das Zukünftige geht, würde ich die zweite Variante präferieren. ;)

Gruß
Ahorn
 

Aufschreiber

Mitglied
Hallo @ahorn,

vielen lieben Dank für Dein Feedback.
Du hast völlig Recht. Ich hatte die Geschichte auch nicht als Krimi geschrieben, sondern eigentlich eher als "Rachestory" mit leicht kriminellem Einschlag (siehe R. Dahl: Die Lammkeule). Aber als ich die dann hier posten wollte, war ich mir nicht im Klaren, wo sie besser passen würde.
Das ist der Grund, aus dem sie nun hier steht, aber den Anforderungen nicht vollkommen gerecht wird.

"Vorauszuwerfen":
Ich bin mir da nicht ganz sicher, aber Dein Gedanke erscheint mir schlüssig. Wurde geändert.

"um ...":
Auch so eine Stelle, an der ich Deine Aussage nachvollziehen kann.
Hier tendiere ich aber dennoch dazu, es wegzulassen. Ich kann es leider nicht erklären, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass man es auch in meiner Weise schreiben kann. Nur das Regularium ist mir unklar.
Ich habe die Wendung ein wenig geändert, damit meine Intention klarer wird. Vielleicht passt das auch Dir besser?

Ich freue mich, dass Du mir Deine Gedanken mitgeteilt hast und hoffe auch bei anderen Texten darauf.

Beste Grüße,

Steffen.
 

ahorn

Mitglied
Hallo Aufschreibe,

die Leselupe und ihre Schubladen. Schubladen, welche ich bis heute nie verstanden habe.
Es gibt Kurzprosa, Kurzgeschichten sowie Erzählungen, parallel dazu Humor, Liebe sowie Krimi. o_O
Du glaubst gar nicht wie oft ich mir meinen Schädel darüber zermarterte, in welche Schublade meine Werke passen. Ich könnte auch Liebesroman drüber schreiben. Und mein SF, den ich angefangen habe, ist gleichsam ein Krimi. :rolleyes:

Zum 'um' lasse es wie es ist. Der, der wie ich ein 'um' liest, tut es, die andern lassen es.

Gruß
Ahorn
 



 
Oben Unten