Das Schachspiel Teil 1

Fastrada

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Prolog​

Da war der Schmerz in seinem Inneren wieder - dieser vertraute Schmerz der in ihm aufstieg und wie ein wildes Hungergefühl in seinen Eingeweiden fraß. Er hatte ihn lange nicht gefühlt, aber das war ohne Bedeutung. Nur eine kurze Atempause, nichts weiter. Das kannte er schon. Was er dagegen nicht kannte war dieses Andere, Finstere, das jetzt mit dem Schmerz in ihm anschwoll.
Flüchtig sah er zur Seite, wo sein Freund, Amurat ibn Ascher Halewi neben ihm her ritt.
„ Amurat--“, begann er.
„ Ja?“, fragte Amurat. „Ja, Gandar?“
Aber Gandar schwieg. Was er fühlte, ließ sich nicht so leicht in Worte fassen, wie er gedacht hatte. Es war wie etwas Dunkles, das vor ihm herging und sich zwischen ihn und das Licht schob. Ich muss es endlich zu Ende bringen, dachte er. Ich muss…
Er griff seiner Stute in die Zügel, bis sie langsamer wurde. Der feuchte Atem der Pferde hinterließ weiße Wölkchen in der klaren Luft. Nebeneinander lenkten die Männer ihre Rösser ein Stück weit den Hang hinab, bis sie sich nicht mehr als Silhouetten gegen den Himmel abzeichneten und blieben dann stehen. Beide Männer saßen müde auf ihren Sätteln. Von ihren sonnengebräunten Gesichtern, über die Schwerter, bis hin zum Schnitt ihrer Mäntel waren sie an allem, was sie bei sich trugen, als Südländer zu erkennen. Das Fell ihrer Pferde war vom Staub der Wege bedeckt,über die sie monatelang gezogen waren.
Gandars Sattel ächzte, als er sich schwerfällig in den Bügeln hob, um eine bequemere Sitzposition zu finden. Seine Finger fühlten sich taub an. Er vergrub die Hände im dichten Fell seiner Stute in dem Versuch sie zu wärmen, aber er wusste, dass es genauso wenig helfen würde, wie die gefütterten Handschuhe die er trug.
Wie der Schmerz kam auch die Kälte tief aus seinem Inneren. Aus seiner Seele. Für einen kurzen, schmerzlichen, gramerfüllten Moment gestattete er sich an Gwenfrewi zu denken. Mein Engel. Der einzig wahrhaft gute, unverdorbene, makellos reine Mensch, der mir je begegnet ist. Sie kennt keinen Hass. Sie hasst nicht einmal mich, der ich…
Und mit einem Mal konnte er sehr klar formulieren, was dieses Dunkle in ihm zu bedeuten hatte. Reduziert auf ein Wort klang es hässlich: Rache. Der Wunsch seine Hände um den Hals seines Feindes zu legen und so lange zuzudrücken, bis der Körper nicht mehr zuckte… Hässlich, fürwahr.
Ein bitteres Lächeln huschte über sein Gesicht. Inzwischen ist mir das gleichgültig, dachte er …mein ganzes bisheriges Leben --- so fern wie der Himmel...
„Ich bin betroffen”, sagte Amurat leise.
Gandar sah seinen Freund an. „ Dafür gibt es keinen Grund.“
„ Doch, den gibt es. Du und ich waren immer eng miteinander verbunden“, sagte Amurat. „Wie Brüder. Mehr noch. Enger als die meisten Brüder es je sind. Das hast du doch genauso empfunden.“
„ Ja, Amurat“, antwortete Gandar. Aber seine Gedanken waren schon längst wieder vorausgeeilt, zu Gwenfrewi.
„Auf einmal bist du so - fern“, fuhr Amurat fort.„Unnahbar. Verschlossen wie eine Auster. Irgendwo auf dieser Reise habe ich meinen Bruder verloren… Ich möchte den Grund begreifen – aber ich finde ihn nicht. Weil du, außer deinem Essen, nichts mehr mit mir teilst…“
Gandar seufzte. „ Du und ich, wir haben doch oft tagelang miteinander geschwiegen. Ein Blick, eine Geste genügte. Jetzt verlangst du - Worte? Ich wusste nicht, dass du es neuerdings liebst, deine Zeit mit nutzlosem Gerede zu vertun…“
Amurats Blick wurde düster. „ Denkst du, ich hätte nicht bemerkt, zu welchem von Allah verfluchten Ort wir unterwegs sind? Denkst du das?
Gandar strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. „ Ich habe dich nicht gebeten, mitzukommen… “
Als er das Gesicht seines Freundes sah, merkte er, was für eine Lästerung er ausgesprochen hatte.
Amurat schwieg beinahe zehn Minuten lang. Er traute sich nicht den Mund aufzumachen, aus Angst vor Tränen.
„ Verdammte Sache, so etwas zu sagen, Gandar“, brummte er endlich. „ Nachdem was wir zusammen durch gemacht haben…“
„ Tut mir leid. Ich bin wohl immer noch – verärgert, dass du mir gefolgt bist. Genau dass hättest du nämlich nicht tun sollen…“
„Bist du sicher, dass du mich nicht dabei haben wolltest?“, fragte Amurat. „Ich glaube nämlich, dass du im Stillen froh bist, mich an deiner Seite zu wissen…“
Gandar wandte seinen Blick von ihm ab. Dann wieder zu ihm zurück.
„ Doch“, sagte er ruhig. „ Kann sein, vielleicht – ja…“ Er streckte die Hand aus und streichelte den Hals seines Pferdes. „ Trotzdem ist es nicht recht, dass du jetzt hier bist … Um die Wahrheit zu sagen, Amurat, es tut verteufelt weh, nur daran zu denken, dass du vielleicht bei dieser Sache draufgehen könntest. Um mich hingegen ist es nicht schade…“
„In Gottes Namen, Gandar“, flüsterte Amurat. „ Sag so etwas nie mehr …“
Warum nicht, dachte Gandar. Wenn es doch, verdammt noch mal, die Wahrheit ist…
„Sehen wir zu, dass wir weiterkommen“, sagte er stattdessen. „Es ist einfach zu kalt, um lange müßig herumzustehen…“
Vom Pferderücken aus hatten sie einen weiten Blick über die östliche Wetterau. Umgeben von abgeernteten Feldern schliefen kleine Dörfer im Schutz schweigend zusammen gesunkener Eichen. Es war die Zeit des Sonnenaufgangs; aber noch zeigte sich nichts, noch lagen Himmel und Erde nah aneinander gerückt in der Dämmerung.
Die Stuten fielen wieder in ihren weit ausholenden Trab. Hohes, von Reif gebeugtes Gras wischte an den Beinen der Pferde entlang. Dort, wo die Bäume bis an den Rand der Wiese standen, hielt sich in ihrem Schatten noch der Schnee, Überbleibsel des ersten, frühen Wintersturmes dieses Jahres. Mit einem Ruck seiner Handgelenke dirigierte Gandar seine Stute nach links, auf den Waldrand zu. Amurats Blick wanderte unruhig am Horizont entlang, in Erwartung des Sonnenaufgangs, doch nichts geschah.
„ Was für ein Zauber ist das hier?” Mit einer Hand wies er auf den Himmel. „ Die Sonne geht nicht auf, ist aber überall da; nichts wirft Schatten, doch die Farben leben.”
Gandar sah sich um. Alles wirkte mit einem Mal milchig - es gab keine Wolken und keinen Himmel, auch keinen Nebel und keine Sicht. Er trieb seine Stute an. „ Ein Sturm kommt auf.”
Amurat zögerte. „ Dann möchte ich hier schon beten.”
Wortlos stieg Gandar aus dem Sattel und warf seiner Stute die Zügel über den Kopf, was sie als Zeichen kannte, am Ort zu bleiben. Er kniete hinter Amurat nieder und versuchte ebenfalls zu beten. Aber die Worte wollten sich nicht einstellen. Also stand er wieder auf und verschwand unter den Bäumen.
Im Wald empfing Gandar ein schwacher Geruch nach Erde und faulenden Blättern, nach Moos und Feuchtigkeit. Es schien noch kälter zu sein als draußen auf dem freien Feld. Tiefe Stille umfing ihn. Um ihn herum standen uralte Eichen und er fühlte sich plötzlich winzig zwischen ihren Stämmen, von denen manche so mächtig waren, dass drei Männer sie mit ausgestreckten Armen nicht hätten umfassen können. Hoch über seinem Kopf vereinigten sich ihre mächtigen Kronen zu einem Dach, dessen herbstliche Lücken nur wenig Tageslicht einließen. Normalerweise liebte er die ewige Dämmerung und die Stille im Wald, weil sie ihm vorgaukelte, dass seine Dämonen ihm dorthin nicht zu folgen vermochten.
Aber hier...
Es war nur ein Gefühl, ein schwer zu greifendes Unbehagen, wie die Berührung einer fremden Hand, die unangenehm war, ohne das man sagen konnte warum.
Verdammt, dachte er, es sind diese Gebetspausen, die mich noch wahnsinnig machen. Er wusste, dass er ungerecht war, aber die regelmäßigen Unterbrechungen ihrer Reise ließen ihm zuviel Zeit düstere Erinnerungen heraufzubeschwören. Ein tief hängender Zweig hieb nach seinem Kopf und er duckte sich erst in letzter Sekunde. Seltsam, er hatte seit langem nicht mehr an diese Zeiten gedacht, erkannte Gandar jetzt. Sie gehörten in ein anderes Leben. Der Himmel, die Luft und die Farben Palermos hatten ihn dazu gebracht, Erinnerungen zu verwischen. Seine Hand suchte nach dem zusammengerollten Stück Pergament in seiner Gürteltasche. Mit diesem Pergament erst war sie zurückgekehrt - die Erinnerung an so viele, deren Schicksal er nicht kannte.
Einen Moment lang hatte er nicht darauf geachtet, wohin er trat. Er stolperte über einen von Laub verdeckten Zweig, der mit lautem Knacken zerbrach. Ein Vogel flatterte auf und schrie seinen Warnruf. Der Wald verstummte, hielt mitten in der Bewegung inne. Zumindest erschien es Gandar so. Starr standen die Eichen, schweigend das Holz, eingetaucht in schwarze Schatten lauerte… ja, was? Gandars Hand zuckte in einem automatischen Reflex zum Schwertgriff. Sein Herz schlug bis zum Hals. Die Stille erinnerte ihn an die Kathedrale von Rodi. Aber dies hier war kein andächtiger Ort. Kein Platz des Gebetes,sondern ein Reich der Finsternis
und--.
Sein Blick fuhr rundum. Die Stämme der Bäume schienen mit einem Mal näher heranzurücken, stetig, unaufhörlich, näher und näher, ein finsterer Kreis aus bedrohlichen Schatten. Er konnte förmlich spüren, wie sie gierig ihre Äste nach ihm ausstreckten, um ihn zu umschlingen – seine Arme, seinen Hals, seine Brust bis ihm selbst die Möglichkeit zu atmen genommen war. Er musste hier weg. Aber es war zu spät. Seine Füße waren schwer wie von Ketten. Keinen Schritt konnte er tun, nichts, keine Bewegung. Das Dunkel griff nach ihm, zog ihn unaufhörlich dem Grund entgegen. Er fiel auf die Knie.
„ Gandar!“
Zwischen den Bäumen hervor stürzte Amurat auf den Knienden zu und begann, ihn kräftig zu schütteln.
„Bruder! Komm zu dir.“
Gandar blinzelte und starrte Amurat verwirrt an. „Gott, Amurat! Hör auf mich zu schütteln!“
„Mein Löwe verzeihe!“ Amurat streckte die Hand aus und Gandar kam leicht schwankend auf die Füße.
„ Aber du hast geschrieen, wie ein Ochse, den der Schlachter verfehlt hat. Hast du dich wieder - erinnert?“
Gandars Oberkörper sackte in sich zusammen. „Ich möchte jetzt nicht darüber sprechen”, sagte er matt.
Amurat sah ihn einen Moment lang nachdenklich an, unterließ es aber, eine Frage zu stellen. Zum ersten Mal bin ich ausgeschlossen von allem, dachte er. Gandars stille Traurigkeit zerreißt mir das Herz – doch wie soll ich helfen, wenn er nicht mit mir spricht?
Gandar griff nach den Zügeln seiner Stute und schwang sich in den Sattel.
Hintereinander drangen sie in den Wald ein. Die Bresche, die Menschenhand einmal in den Forst geschlagen hatte, hatte auch der Leben spendenden Kraft der Sonne den Weg geebnet, so dass Unkraut und Dornen links und rechts des Weges wuchern konnten. Wilde Brombeeren ragten wie Fallstricke in die Spur hinein und griffen mit dornigen Ranken nach den Beinen der Pferde, was die Männer zwang, fast ununterbrochen mit gesenktem Haupt zu reiten.
Irgendwo jenseits des Waldes begann eine Glocke zu läuten. Gandar lauschte.
„ Das muss die Glocke von Glouburg sein.”
Er merkte nicht, dass er seinen Gedanken laut ausgesprochen hatte.
Amurat riss heftig am Zügel seiner Stute. „Glouburg! Sind wir schon so nahe! Das ahnte ich nicht.”
„ Ja“, sagte Gandar. „ Wir sind fast da. Willst du immer noch mitkommen?“
” Ein Bruder verlässt seinen Bruder nicht.”
„ Ich habe befürchtet, dass du das sagst…“, murmelte Gandar. „ Glaub mir, Freund - diese Worte bedeuten mir viel, andererseits... vermag ich sie kaum zu ertragen... Daher möchte ich, dass du gehst. Jetzt.“
Amurat konnte ihn nur ansehen. Sehr lange. Und sehr nachdenklich. „ Bin ich denn so verächtlich geworden“, flüsterte er, „ dass du mich fortschickst wie einen Hund?“
„ Bitte“, sagte Gandar. „Ich möchte, dass du...…“
„ Sprich nicht weiter“, unterbrach Amurat. „ Ich weiß schon, was du sagen willst. Aber ich will es nicht hören. Es schmerzt schon genug, nur daran zu denken, dass du versucht hast mich fort zu schicken. Ich hoffe, du hast einen verdammt guten Grund überhaupt hier zu sein…“ Gandar saß sehr gerade auf seinem Pferd. Er griff in seine Gürteltasche und zog ein zerknittertes Stück Pergament hervor. Amurat sah erschrocken, wie sich sein Gesicht dabei veränderte; sein Mund wurde hart, seine Augen eisig – grün; die Knöchel am Handrücken traten weiß aus den geballten Fäusten heraus.
„ Den habe ich”, sagte Gandar leise. „ Lies selbst…“
 



 
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