Das Schachspiel Teil 2

Fastrada

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Gandar saß sehr gerade auf seinem Pferd. Er griff in seine Gürteltasche und zog ein zerknittertes Stück Pergament hervor. Amurat sah erschrocken, wie sich sein Gesicht dabei veränderte; sein Mund wurde hart, seine Augen eisig – grün; die Knöchel am Handrücken traten weiß aus den geballten Fäusten heraus.
„ Den habe ich”, sagte Gandar leise. „ Lies selbst…“
Amurat nahm das Pergament und rollte es auf.
-------------- WENN DU WOLFRAM VON MILANES TREFEN WILLST
SO KOMM AN SIMON JUDAE ZUR GLOUBURG _____________​
„Bismillah!“,sagte Amurat. „Wann ist das gekommen?“
„Vor drei Monaten, zwei Wochen und nunmehr vier Tagen“,sagte Gandar.
Amurat öffnete den Mund. Aber er sagte nichts. Weil es nichts gab, was er hätte sagen können.
Seine Stute senkte den Kopf und begann wählerisch die letzten saftigen Grashalme auszurupfen. Amurat nahm die Zügel wieder auf und trieb sie an. „ Das – das kann nicht gut enden, Gandar.”
„Ich weiß“, sagte Gandar.
Die Männer drangen immer tiefer in den Wald ein. Gandar hatte die Zügel in die linke Hand genommen. Die Rechte lag locker auf seinem Oberschenkel, bereit bei jedem Zittern des Unterholzes den Schwertgriff zu umklammern. Er dachte an das Läuten. Für ihn war es kein willkommenes Geräusch. Es beschwor nicht das Bild einer erleuchteten Kirche herauf, die gläubigen Menschen ein Versammlungsort war, sondern andere, ungute Dinge; Gefühle, die sich nicht in Bilder fassen ließen, und Empfindungen, die fremd und verwirrend und gleichzeitig auf beunruhigende Weise vertraut waren.
Langsam wich das Unterholz zurück und die Bäume standen weiter auseinander. Amurats Stute schlug mit dem Kopf und wollte schneller werden. Er fasste die Zügel kurz und folgte Gandar nach links, wo der Wald sich öffnete und einen Blick weit über das Land freigab.
Gandar sah sich um. Von Osten her, über der Ebene, hätte man die Türme der Glouburg erkennen müssen, im Süden die Eichenwälder der Mark, ihr entgegeneilend; nichts davon zeigte sich. Man unterschied kaum die Nähe.
„Es ist so verdammt still hier“, sagte Gandar und stieg aus dem Sattel. „Etwas stimmt nicht… Ich werde besser einmal nachsehen…“
Er ging. Eine Weile blickte Amurat ihm nach, unschlüssig was er tun sollte. Er trat zu den Pferden, prüfte das Gepäck, die Hufe der Stuten, jede Schnalle, jeden Riemen des Zaumzeuges. Immer wieder hob er lauschend den Kopf, versuchte zwischen den Geräuschen des Waldes Gandars Schritte auszumachen. Seine Stute stellte gelangweilt ein Bein auf die Hufspitze und begann zu dösen. Amurat sah sich um. Für einen Erkundungsgang dauerte das jetzt schon entschieden zu lange... Gandars Spur war gut erkennbar und Amurat lief neben ihr her bis zum Waldrand.
Und da entdeckte er seinen Freund. Gandar stand mitten auf der Wiese, steif und bewegungslos wie eine Statue. Amurat lief zu ihm hin und legte ihm die Hand auf den Arm.
„ Himmel, Gandar, was ist jetzt mit dir los?“
Gandar spürte, wie etwas in ihm hoch kroch. Kalt und grausam. Er versuchte zu sprechen, doch er konnte es nicht. Seine Lippen bewegten sich, formten Worte. Doch kein Laut drang hervor. Amurat starrte ihn an - dann sah er seine Augen. Sie waren schrecklich.
„Da...”, flüsterte Gandar endlich, „schau hin… schau genau hin… siehst du es?”
„Ich sehe gar nichts“, sagte Amurat.
„ Das“, sagte Gandar mit ausdrucksloser Stimme, „ ist es ja gerade. Du siehst nichts. Weil da nichts mehr ist. Aber es müsste etwas dort sein. Nämlich die Mauern der Glouburg. Man konnte sie immer von hier aus sehen…“
Und dann begriff auch Amurat, was Gandar meinte. Auf der Kuppe des Hügels über ihnen erhob sich eine Ruine, ein Haufen geborstener Steine, aus dem noch die Reste des Wachturms, die schlanken Säulen halb eingestürzter Fensterarkaden, die Trümmer des Wehrganges herausragten, als seien sie der Faust des Riesen, der hier gewütet hatte, entgangen. Das war alles, was von der Glouburg übrig geblieben war.
Der krächzende Schrei eines im blassen Himmel kreisenden Raben riss Amurat aus der Betäubung in die ihn der Anblick versetzt hatte. Er sah Gandar wie einen Schlafwandler auf die Ruine zugehen. Hastig rannte er zu den Pferden zurück, packte deren Zügel und zog sie mit sich fort.
Gandar lief sehr schnell. Oft stolperte er über Unebenheiten, riss sich die Hände an wilden Dornenranken blutig, kletterte über Mauerreste und Treppenstufen, die er unter normalen Umständen nicht zu betreten gewagt hätte. All das bemerkte er nicht.
Überall züngelten schwarze Russ-Spuren am Mauerwerk empor, Zeichen eines Brandes wie die zum Himmel starrenden verkohlten Balken.
Mit einem rauen Klagelaut sank Gandar zu Boden.
Als er seine Umgebung wieder bewusst wahrzunehmen begann, sah er, dass er in der ehemaligen Kapelle vor dem Altar niedergefallen war. Das Dach des kleinen Kirchenraumes war verschwunden und durch die leeren Fensterhöhlen streckten Bäume ihre froststarren Äste herein. Er hob den Kopf, stützte sich mit den Händen auf, zog langsam die Knie nach.
Unter der Laubschicht ertastete er dürre Grasbüschel und vertrocknete Stängel. Was mochte nur geschehen sein, dass die Glouburg gefallen war? Bei dem Ausmaß der Zerstörung waren wahrscheinlich alle, die er einmal gekannt hatte, nicht mehr am Leben. Und sie?
Verdammt, und du Tor hast dir Hoffnungen gemacht, unterbrach er fluchend diesen Gedanken. Nur ich bin übrig - nur ich.
Für eine kleine Weile.
Er kniete nieder, versuchte ein Gebet zu sprechen. Er konnte es nicht. Dies alles hier ließ keinen Raum für Gebete.
Als Amurat ihn fand, stand er an einem der halben Fenster des großen Saales und starrte reglos auf das Bild der Verwüstung. Amurat räusperte sich, doch Gandar schien ihn weder zu sehen noch zu hören. Nichts rührte sich in seinem bleichen Gesicht. Leise zog Amurat sich zurück. Er hatte erkannt, dass er jetzt nichts Anderes zu tun vermochte, als über ihre Sicherheit zu wachen.
Müde strich sich Gandar eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn. Seine Gedanken gingen weit zurück in die ferne Vergangenheit, die, wie er gedacht hatte, für immer verschwunden war aus seinem Leben. Spurlos. Sie war also doch nicht verschwunden diese Vergangenheit. Seine Finger pressten sich um den Griff seines Schwertes. Diesmal nehme ich sie alle mit, erkannte er - egal, wer auch immer kommen mochte, er war nicht unvorbereitet wenn man versuchte ihm eine Falle zu stellen.
Unerwartet fiel ein eisiger Wind über die Burg her, heulte angriffslustig durch die Ruine, hob Laub und Zweige vom Boden auf und jagte sie in einem wilden Tanz vor sich her. Irgendwo klapperte etwas. Einen Augenblick später war alles vorüber und helles Licht strahlte in den Saal. Sträucher die sich in der Halle angesiedelt hatte, warfen mit ihren blattlosen Ästen bizarre Schatten an die Wände. Gandar starrte wie gebannt darauf, bis der Wind zurückkam und das Licht erlosch. Eine Bö zerrte an seinen Haaren, doch Gandar merkte es kaum. Tiefer und tiefer versinke ich in Erinnerungen, dachte er. Ein heißer Sommertag fiel ihm wieder ein - der Johannestag des Jahres 1246... …


Erstes Buch​
Gwenfrewi​
Von dort, wo die drei Männer mit ihren Pferden standen, hatten sie einen guten Blick auf die Burg. Die Sonne stand schräg über dem Bergfried und ließ die Steine des Turmes graugelb aufleuchten, während Kernburg und Mauern noch im Schatten lagen.
„So sieht sie also aus“, sagte Gandar, Graf von Rodéna, nüchtern. „Unsere letzte Hoffnung...“
Sein Blick wanderte rundum, während er versuchte so viele Einzelheiten wie möglich in sich aufzunehmen.
„ Dieses Brenneberg habe ich mir anders vorgestellt“, sagte Gareth von Cashel, indem er sein rotes Haar anhob und sich umständlich den Schweiß von Gesicht und Hals tupfte. „Himmel, Gandar, wohin hast du uns nur geführt? Hier gibt es ja nichts, außer Kaninchen und Bussarden.“
„Beklagst du dich?“
„ Aye, das tue ich.“ Gareth warf seinem Freund einen aufgebrachten Blick zu. „ Ich habe das Herumirren in dieser Wildnis gründlich satt. Ich möchte einmal wieder eine Nacht ohne Dornen und Ameisen unter dem Hintern verbringen. In einem bequemen Bett.“
„ Dir balak, Gareth!“ bemerkte der dritte Reiter, der Sarazene Amurat ibn Ascher Halewi beiläufig, „es ist nicht höflich, seine Freunde zu beleidigen…“
„Himmel, Amurat, fängst du schon wieder an, mit deinen Moralpredigten? Das reicht mir jetzt --“
„ Was?“ fragte Gandar scharf. " Was reicht dir? Willst du umkehren? Dann tu´s. “
„Was für Gedanken, Gandar! Sieh mich doch nicht so flammend an, so kenne ich dich gar nicht. Das kann doch nicht nur diese Reise sein, die dir so aufs Gemüt schlägt. Was bedrückt dich?"
" Kram, Gareth“
„Jesus Maria, Gandar! Glaub nicht, ich hätte nicht bemerkt, wie wenig du neuerdings schläfst. Denkst du an Judith?“
Gandar schüttelte nur stumm den Kopf.
„ Nein? Was ist es dann? Träumst du wieder?“
„ Lass Gandar zufrieden“, sagte Amurat.
„Amurat, bitte! Man wird doch wohl noch fragen dürfen!“
Ungeduldig wandte Gareth sich im Sattel um und bemerkte, dass Gandar Amurat ansah. Er runzelte die Stirn. Diesen Austausch von Blicken hatte er schon öfter gesehen. Zwei verschworene Brüder, zwischen denen es etwas gab, wovon er nichts wusste.
Nicht zum ersten Mal fühlte er sich ausgeschlossen und er erkannte, wie sehr ihn das störte. Aber er wusste nicht, was er dagegen tun konnte. Zumindest jetzt noch nicht. Aber er würde darüber nachdenken. Ja, dass würde er.
Schweigend beobachteten die Männer die Burg. Über den menschenleeren Weinbergen flimmerte die Luft. Hoch oben am kornblumenblauen Himmel segelte lautlos ein Bussard. Das an- und abschwellende Summen der Fliegen und das Zischen der Luft, wenn der Schlag eines Pferdeschweifes sie teilte, waren die einzigen Laute im Schweigen dieser Mittagsstunde. Selbst das Lärmen der Kinder - sonst konnte man es schon von weitem hören - war verstummt. Unterhalb der Burg glitzerte ein Flusslauf in der Sonne, der Rhein, der träge zwischen smaragdgrünen Weinbergen dahin floss.
„Wer da als Angreifer kommt“, sagte Gareth in die Stille hinein „der ist übel dran.“
Gandar nahm den Blick nicht von der Festung. „Ja“, sagte er tiefsinnig. „Diese Anlage lässt sich besser verteidigen als Richarts Glouburg. So ein Debakel, wie jenes vor fünf Jahren, wäre hier nicht passiert.“
„ Mein Bruder Löwe verzeihe“, warf Amurat ein. „ Auch auf der Glouburg wäre nichts geschehen, wenn du die Männer geführt hättest. Richart ist zu leichtsinnig.“
Gandar fuhr im Sattel herum. Starrte Amurat sprachlos an. Öffnete den Mund um etwas zu sagen und schloss ihn dann doch wieder, ohne ein Wort.
„ Hör mal, mein Freund“, mischte Gareth sich ein, „ich habe ja nichts dagegen, wenn du die Dinge beim Namen nennst – aber war es nötig, gerade jetzt davon anzufangen? Gandar macht sich doch ohnehin genug Sorgen um seinen Bruder – und du gießt noch Öl ins Feuer?“
„ Schon gut, schon gut“, brummte Amurat „ Ich habe die Predigt begriffen. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass Richart seine Aufgabe nicht ernst nimmt…“
„Jafki!“, sagte Gandar streng. „ Ich wünsche nicht, das hier schlecht von meinem Herrn Bruder gesprochen wird.“
Für einen flüchtigen Moment wirkten Gandars katzengrüne Augen lebendig und voller Feuer, aber als Amurat überrascht hinsah, hatte sein Blick schon wieder jenen vorsichtigen und distanzierten Ausdruck, der es jedem verbot, sich zu nahe an ihn heranzuwagen.
„ Dein Bruder, Allah jijasi al kufar, weiß nicht zu würdigen, was du für ihn opferst.“
Gandar starrte gedankenverloren vor sich hin. „ Zugegeben“, sagte er endlich, „ es ist nicht immer leicht mit Richart. Aber er ist alles, was noch übrig ist von meiner Familie, nachdem...“
„ Du vergisst Judith.“
Ja, Judith, dachte er wehmütig, zärtlich. Seine schöne Schwester, die beinahe unter seinen Händen gestorben war, nach einer Fehlgeburt. Es war, als ob auf allen, die ihm nahe standen ein grausamer Fluch lastete. Nicht darüber nachdenken… nicht jetzt, nicht hier.Gandar wendete seinen schwarzen Hengst.
Amurat und Gareth warteten, bis ihr Freund und Anführer ihnen einige Schritte voraus war, bevor auch sie ihre Pferde antrieben. Instinktiv ahnten sie, dass es besser war, Gandar im Augenblick seinen eigenen Gedanken zu überlassen.
Der Rappe trottete mit weit ausholenden Schritten über den staubigen Pfad. Unwillig über das langsame Tempo kaute das Pferd an seinem Gebiss-Stück. Der Weg begann ein wenig anzusteigen und der Rappe fiel von selber in leichten Galopp. Gandars langes Schwert klirrte an den eisernen Beinschienen. Sofort parierte er seinen Rappen wieder zum Schritt durch.
Gandar war ein großer Mann von schlanker, geschmeidiger Gestalt mit festen Muskeln. Er saß ganz entspannt auf dem Pferd, doch jede Bewegung des Tieres wurde durch die Zügel und die starken Muskeln unter dem Sattel auf ihn übertragen. Hinter der lässigen Haltung lag gespannte Wachsamkeit. Die Kapuze seines Panzerhemdes war zurückgeschlagen; leicht zerzaustes, graues Haar fiel auf seine breiten Schultern und bildete einen auffälligen Kontrast zu dem sauber gestutzten, pechschwarzen Kinnbart. Stunden in der Sonne hatten Falten in seine bronzefarbene Haut gegraben, die von den Augen ausstrahlten.
Staub überzog als feine braunrote Schicht seine Sporen und die sorgfältig verarbeiteten Stiefel. Das Metall der Schienen, die seine muskulösen Beine schützten, war im Laufe der Zeit stumpf geworden. Schmutz und Staub langer Tage im Sattel bedeckte auch die dunklen Beinlinge und den verblichenen Wappenrock mit dem schwarzen Hengstkopf von Rodéna. Das bis zu seinen Knien herabhängende Kettenhemd dagegen war sehr sauber und zeigte nicht den geringsten Anflug von Rost, ein Umstand, der die Schäbigkeit seiner Bewaffnung umso deutlicher hervorhob. Die Schwertscheide an seiner Seite wirkte schmutzig und brüchig, wie nach zu langem Gebrauch. Parierstange und Griff seiner Waffe waren mit schweißfleckigem Band umwickelt.
Das ihm eigene, grashalmfeine Lächeln erschien auf Gandars Gesicht, als er den vertrauten Druck des Schwertgriffes an seiner Hüfte spürte. Er war sich selbst nicht ganz über die Gründe im Klaren, warum er seine Waffe auf diese Weise versteckte. Vielleicht, weil er eine Art morbider Freude an dem Schrecken seiner Gegner empfand, sobald sie erkannten, was sich unter der unansehnlichen Hülle verbarg: Eine Damaszener Klinge von der kostbaren Art, die nur als Geschenk oder Erbstück den Besitzer wechselte. Vielleicht aber auch, weil ihn die Waffe ständig an Dinge erinnerte, an die er nicht mehr denken wollte...
Der Weg führte jetzt steil bergab. Stampfende Pferdehufe ließen immer neue Wolken von braunem Staub aufwirbeln. Vor den Sätteln wippten die Wasserschläuche, an den Gürteln der Männer gluckerten verstöpselte Kürbisse. Immer weiter schlängelte sich die Straße ins Tal hinab, vorbei an Wiesen und Hecken, über eine Brücke und unter einer römischen Wasserleitung hindurch.
„Amurat” begann Gareth nach langer Stille, „ was wissen wir eigentlich über den Herrn von Brenneberg? ”
„Da musst du Gandar fragen.“
„ Das ist jetzt wohl kaum der geeignete Augenblick dafür. Also? Was weißt du?“
„Nicht mehr als du, Freund. Gunther von Brenneberg ist ein angesehener Herr, mit Verbindungen bis in die höchsten Kreise bei Hofe. Er könnte der Mann sein, den wir suchen.“
„ Ja, könnte! Aber - was, wenn auch dieser Herr den Code nicht erkennt? Wenn haben wir noch auf der Liste?“
„Es gibt keine Liste mehr, Gareth. Brenneberg ist der letzte Name, von dem wir wissen. Danach bleibt uns kaum etwas Anderes übrig, als der erhabenen Majestät unser Versagen einzugestehen.“
„ Eine Aufgabe, die so reizvoll ist, wie eine Schiffspassage auf dem Nordmeer”, murmelte Gareth kaum hörbar vor sich hin. Amurat, dessen Blicke in denen des Freundes waren, äußerte sich nicht.
Die Pferde trotteten im Schatten einiger Kastanien langsam dahin. Lichtgold und Dämmerungsgrün spielte auf ihrem Fell und den Gesichtern der Männer. Nach einer Wegbiegung glitzerte ihnen die breite Wasserfläche des Rheins entgegen und Gandar lenkte nach rechts, dem Ufer zu. Bedächtig stieg er aus dem Sattel, warf seinem Rappen die Zügel über den Kopf hinweg zu Boden, was das Tier als Zeichen kannte, am Ort zu bleiben, nahm den Schild von der Schulter und lehnte ihn an den Stamm eines Baumes. Während Gareth sich daran machte ihre Kürbissflaschen mit frischem Wasser zu füllen, führte Amurat die Pferde nacheinander in den Fluss, um sie vor dem Aufstieg zur Burg noch einmal trinken zu lassen.
„ Mir ist da einiges noch nicht ganz klar“, begann Gareth, nach einem vorsichtig abschätzenden Seitenblick in Gandars Richtung.
Der Graf massierte seine verspannten Nackenmuskeln. „ Mir auch nicht, Gareth. Das kannst du mir glauben. In Federicos Haut möchte ich im Moment nicht stecken Und auch nicht in der seines Sohnes Konrad.“
„ So hoch dachte ich gar nicht. Was mich beschäftig, ist die Frage, wessen Suppe wir hier eigentlich auslöffeln. Wir reisen den Rhein hinauf und hinab, buchstäblich auf der Suche nach der Nadel im Heu – und alles , was wir haben, ist ein geheimer Code, auf den niemand reagiert, wie er sollte. Wie viel Dummheit ist nötig, ein straff organisiertes, wunderbar effektives Netzwerk aus Informanten, Mittelsmännern, Zuträgern, Kurieren und Helfern einfach - aus den Augen zu verlieren?“
„ Du weißt, welche Umstände dazu geführt haben. Niemand konnte voraussehen, dass Peter von Bergheim eines Morgens einfach nicht mehr aufwachen würde…Er wusste als Einziger, wer sein Kontaktmann war.“
„Gab es keine Aufzeichnungen?“
„ Nein“, sagte Gandar. „ Deshalb war die Gruppe ja so erfolgreich…“
Amurat reichte ihm die Zügel seines Pferdes und Gandar schwang sich in den Sattel. „ Falls du dich jetzt fragst, mein lieber Gareth, warum man ausgerechnet mir diese Sache aufgebürdet hat – Federico hielt es für eine ausgezeichnete Gelegenheit nach der geheimnisvollen Schrift zu forschen.“
Gareth fluchte leise. „ Diese verdammte Schrift hatte ich vergessen. Aber…“ Sein Blick ging aufmerksam zwischen Gandar und Amurat hin und her. „ Warum nur werde ich das Gefühl nicht los, dass ihr mir etwas verschweigt?“
„ Du hast Recht“. Gandar sah Gareth an und wandte dann das Gesicht ab.
„ Man hat Kardinal Valo zum neuen päpstlichen Legaten für Deutschland berufen“, sagte Amurat ernst.
„Ich muss verhindern, dass dieser Teufel Richart zu Gesicht bekommt“, flüsterte Gandar, „ selbst wenn das bedeuten würde meine Seele in Gefahr zu bringen, indem ich ihn töte… Jetzt schweigst du, nicht wahr? Das hast du von mir nicht erwartet. Aber das hast du erwarten müssen. Du kennst Valo, du kennst die Lage, du kennst mich."
„Gandar“, sagte Gareth unglücklich, „ um Gottes Willen…“
„ Wir sollten jetzt wirklich weiter reiten“, sagte Gandar und setzte sein Pferd in Bewegung.
Jenseits des Waldes begann der Anstieg zur Burg. Zwischen dichten Weinreben und Stützmauern schlängelte sich die Straße um den Berg herum.
Vor dem Burgtor ließ man die Männer warten. Ein wenig unsicher sah Gandar zu den dicken Buckelquadern auf. Die Burg lag wie verlassen in der Mittagshitze. Bienen summten über Wolken von blühendem Thymian der überall aus den Mauerritzen quoll. Eine leichte Brise trug den Duft nach frisch gemähtem Gras heran. Gandars Rappe schüttelte die Mähne und stellte dösend einen Hinterhuf auf die Spitze. Endlich begann über den Köpfen der Männer das Rumpeln und Quietschen einer Winde; man öffnete ihnen einen schmalen Durchgang neben dem Haupttor. Kaum hatten die Männer ihre Pferde über die Schwelle gehen lassen, fiel das eisernes Fallgitter hinter ihnen - die Tore zur Kernburg öffneten sich jedoch nicht und die Ritter sahen sich in einer dunklen Steinkammer gefangen. Gandar sog vorsichtig Luft in seine Lungen und fühlte beinahe im gleichen Moment einen eisigen Schauer über seinen Rücken jagen. Zorn stieg in ihm auf. Er hatte geglaubt, endlich darüber hinweg zu sein. Aber hier war er nun, und der bloße Geruch nach modrigem Stein reichte aus, jene fürchterlichen Erinnerungen heraufzubeschwören. Das alles verdanke ich Valo, dachte er bitter. Diesem Ungeheuer an Grausamkeit – diesem wahren Sohn des Übels, an dem Satan, sein Vater, nichts als Wohlgefallen hat. Eines nicht zu fernen Tages werde ich…
Aus einer Schießscharte kam die knappe Frage nach dem Begehr. Gandar bewahrte bei allem Zorn die Ruhe und wies sich als der aus, der er war.
„ Bote der kaiserlichen Majestät Friedrich, an den Herrn von Brenneberg.“
Der Pförtner trat vor und verbeugte sich „ Wenn die edlen Herren mir folgen wollen Herr Gunther erwartet Euch im Innenhof.“
Rasselnd wurde das innere Gitter hochgewunden, das Tor schwang auf und entließ die Reiter aus ihrem Gefängnis in einen schmalen Gang zwischen hohen Mauern. „ Nicht umsehen“, murmelte Gandar mit unbewegten Lippen, „ die Wehrgänge sind mit Bogenschützen gespickt.“
Tor nach Tor wurde geöffnet und hinter ihnen sofort wieder zugeschlagen. Gandars schwarzer Hengst tänzelte nervös. Endlich erreichten sie den inneren Burghof, wo Gunther von Brenneberg sie erwartete.
Gandar sah den Mann, aber es war die Frau an seiner Seite, die seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie wirkte groß und langbeinig, obwohl sie ein paar Zentimeter kleiner war als der Mann, neben dem sie stand. Ihr Haar hatte die Farbe von poliertem Kupfer, vermischt mit den dunkleren Tönen von Kastanien und Erde. Sie war ein faszinierendes Geschöpf - jung, und doch mit einem Ausdruck von Reife. Sein Blut pulsierte plötzlich schneller durch seine Adern. Sein Blick wanderte zu dem Mann. Etwas Vornehmes ging von ihm aus, sehr vage nur, etwas das durch die silbernen Stellen in seinem dunklen Haar noch verstärkt wurde.
Brenneberg beugte sich zu der Frau herunter und sagte ihr leise einige Worte. Die Frau nickte, raffte ihren Rock und eilte mit langen, graziösen Schritten zum Wohntrakt der Burg zurück.
Gandar ließ sich aus dem Sattel gleiten. Der Mann mit dem dunklen Haar kam ihm entgegen. Seine Stimme war laut, doch nicht unangenehm. „Ich bin Gunther von Brenneberg. Seid willkommen in meinem Heim, edle Ritter.“
Sein Latein ist ganz passabel, dachte Gandar überrascht. Weitaus besser, als das, was außerhalb der Geistlichkeit üblich war…
„ Ich danke Euch, Herr Gunther“, sagte er in derselben Sprache. „Wie Ihr sehen könnt, sind wir müde und bedürfen einer Rast.“
„ Mein Haus steht zur Verfügung“, sagte Brenneberg. Aber Gandar bemerkte, wie er einen misstrauischen Blick auf Amurat mit Turban und Krummsäbel warf. Das gefiel ihm nicht. Eingrimmiger Zug erschien um seinen Mund.
Amurat legte seine Hand auf Gandars Schulter„ Bezähme dein Herz, mein Bruder“, sagte leise in seiner heimatlichen Sprache. „ Mein aufbrausendes Blut duldet nicht, dass du beleidigt wirst meinetwegen. Ich werde im Stall übernachten.“
Pferdeknechte kamen gelaufen, um die Tiere wegzubringen, aber Amurat hatte die Zügel ergriffen und bedeutete den Knechten mit einer stummen Geste, ihm den Weg zu den Stallungen zu zeigen.
Brenneberg wirkte erleichtert, war aber höflich genug, dies mit seiner Einladung zum Abendessen zu überspielen.
Gandar nahm an.
„ Fein“, sagte Brenneberg. „ Wenn die Herren mir dann in den Saal folgen wollen?
Während er den Männern durch das Stiegenhaus vorausging schüttelte er bei sich immer wieder den Kopf. Nichts an seinem seltsamen Gast stimmte mit seinen Vorstellungen von einem Boten des Kaisers überein. Das beinahe zierliche Pferd wollte er ja noch gelten lassen, weil ihm zu Ohren gekommen war, dass Kaiser Friedrich selbst diese arabische Rasse bevorzugte. Was dagegen die Bewaffnung betraf - dazu fiel ihm nur das Wort „ unwürdig“ ein. Andererseits, schoss es Brenneberg durch den Kopf, wäre ich kaum in der Lage, den Gegenwert von drei Schlachtrössern für ein Kettenhemd auszugeben...
Brenneberg erklomm die letzte Stufe und öffnete eine mit Eisenbeschlägen verzierte Tür für Gandar und Gareth. Im Saal war es dämmrig. Diener waren damit beschäftigt, Wachsreste aus den Armleuchtern an den Wänden zu entfernen und neue Kerzen aufzustecken. Als der Burgherr hereinkam, verschwanden sie durch eine unauffällige Tür an der Rückseite des Saales.
Auf dem Boden ausgestreute Binsen verbreiteten einen angenehmen Duft. Gandars Sporen klirrten leise, als er zum Kamin hinüber ging. Zwischen zwei lederbespannten Faltstühlen war ein Schachspiel aufgebaut. Interessiert betrachtete Gandar die Stellung der Figuren auf dem Brett, erwog in Gedanken die Möglichkeiten der beiden Spieler für den nächsten Zug.
„ Ich sehe, die Regeln sind Euch geläufig, Herr...?”
„ Ja.” Gandar überging die unausgesprochene Frage nach seinem Namen. „Schach ist auch am kaiserlichen Hof in Palermo ein beliebter Zeitvertreib. Eine sehr interessante Strategie übrigens, die Ihr da verfolgt, mein Herr. Euer Gegner sitzt in der Falle.“
„ Ich muss gestehen, dass Ihr Euch irrt”, sagte Brenneberg, während er Gandars Schild mit dem Hengstkopf zu den anderen an einen Steinpfeiler des Saales hängte. „ Ich bin es, der hier in der Falle sitzt.”
In diesem Moment öffnete sich die Tür und die Frau aus dem Hof kam herein. Sie hielt drei Becher in den Händen und eine Magd trug den schweren Weinkrug hinter ihr her. Die Frau setzte die Trinkgefäße auf dem Rand des Spieltisches ab und nahm den Krug von der Magd entgegen. Mit anmutigen Bewegungen füllte sie die Becher mit Wein. Brenneberg nickte ihr freundlich zu. „ Dies ist meine älteste Tochter Gwenfrewi. Sie ist es, deren Geschick Ihr gelobt habt.”
Gandars Bewegung verriet seine Überraschung. Eine Frau, die das Denken in derart komplizierten Windungen beherrscht? Waren wir zu verblendet, indem wir einfach voraussetzten, es sei ein Mann, den wir suchen?
„Aus einer Laune heraus brachte ich ihr das Spiel bei”, erklärte Brenneberg mit einem leicht resignierten Achselzucken, „ wie Ihr am Ausgang dieser Partie sehen könnt, habe ich seitdem kaum noch etwas zu lachen….”
„Dieses Spiel ist noch nicht verloren”, sagte Gandar, der die Figuren auf dem Brett aufmerksam betrachtete.
Gwenfrewi hob den Kopf und sah Gandar an. Noch nie hatte sie ein männliches Gesicht gesehen wie das Seine. Faszinierend war ein Wort. Erschreckend ein anderes. Nichts in diesen Gesichtszügen deutete auf Weichheit hin. Die harten Linien um seine Augen und den Mund straften das Lächeln Lügen, das seine Lippen umspielte. Die Augen, deren intensives Grün an eine Raubkatze erinnerte, waren eingerahmt von langen, dunklen Wimpern und kräftigen dunklen Augenbrauen. Das Kinn war eckig, widerspenstig und hätte äußerst einschüchternd gewirkt, wäre da nicht der schmale Kinnbart gewesen, der ihm ein verwegenes Aussehen verlieh. Und sein Mund war die pure Versuchung, wie geschaffen ein Mädchen um den Verstand zu küssen…
Nein, nein, nein, dachte sie, dies ist schlecht von mir. Diese Gedanken sind verworfen. Ich darf nicht, ich darf nicht…
„ Mein Herr“ sagte sie mit unnatürlich hoher Stimme, während sie Weinbecher herumreichte. „ seht Ihr tatsächlich eine Möglichkeit, dieses Spiel noch – zu gewinnen?“
„ Ich bin sogar sicher, dass ich es kann.” Ein schmales Lächeln umspielte seine Lippen, aber seine grünen Augen waren unergründlich – und kalt. Gwenfrewi schwieg überrascht. Sein Blick war nicht so, wie sie es von anderen Männern gewohnt war. Es war kein Lächeln in diesen Augen, keine Wärme, kein Willkommen. Aber vielleicht war kalt nicht der richtige Ausdruck. Es schien, als verhüllte ein undurchsichtiger Schleier seine Augen. Gwenfrewi fröstelte leicht, während sie sich fragte, was dahinter wohl verborgen lag.
Gandar, der ihr Interesse bemerkt hatte, ließ ihre Augen nicht los, während er seinen Becher Brenneberg entgegen hob. „ Einen Trinkspruch?“ fragte er träge. „ Auf Ihre Majestät Friedrich? Oder trinkt Ihr lieber nicht mehr auf das Wohl des Kaisers, Herr von Brenneberg?”
Instinktiv spürte Gwenfrewi etwas von der unheilvollen Drohung, die in der scheinbar achtlos hingeworfenen Frage verborgen war. Gespannt ließ sie ihren Blick über das Profil des Fremden schweifen. Er war groß und schlank wie ein Wolf und ihr schoss der Gedanke durch den Kopf, das es nicht klug wäre, diesem Mann in die Quere zu kommen. Er würde einen gefährlichen Feind abgeben - stark, mächtig und seiner selbst sicher.
„ Mir gefällt Euer Ton nicht, mein Herr„ sagte Brenneberg. „ Das muss ich mir nicht bieten lassen…“
Unbeirrt hob Gandar den Becher. „ Auf den Kaiser! Möge er ewig leben!“
Brenneberg schüttelte ungläubig den Kopf, griff aber nach seinem Trinkgefäß. „Auf Friedrich aus dem Hause Hohenstaufen!“.
„ Gut“, sagte Gandar. „ Euren Mangel an Begeisterung will ich Euch für diesmal noch nachsehen…“
Gwenfrewi starrte in ungläubig an. Sie hoffte nicht, dass ausgerechnet dieser dunkle, gefährliche Ritter ihr Kontaktmann war, auf den sie schon so lange vergeblich gewartet hatte.
„ Damit seid Ihr wahrhaftig zu weit gegangen, mein Herr“, sagte Brenneberg. „ Ich öffnete Euch mein Haus, im Vertrauen auf Euer Wort – aber jetzt verlange ich Beweise, dass Ihr tatsächlich seid, was Ihr behauptet zu sein.“
„ Könnt Ihr lesen?“
„ Ja.“
„ Wie wunderbar“, sagte Gandar spöttisch. „So bleibt mir wenigstens erspart, Euch die Sachen vorlesen zu müssen…“ Er zog seinen Dolch aus der Scheide und öffnete mit wenigen Schnitten eine Naht an seinem Gürtel. Aus der entstandenen Öffnung entnahm er einige mehrfach gefaltete Pergamente, deren Oberstes er Brenneberg reichte. „Lest!“
„ Was ist das? Ein Brief?“
„ Dokumente, die meine Stellung als Beauftragter des Kaisers bestätigen. Gewiss erkennt Ihr das Siegel Ihrer Majestät?“ Er reichte das nächste Blatt. „ Dieselbe Urkunde aus der Kanzlei des Königs. Unterschrieben und gesiegelt zu Hagenau von Konrad persönlich. Und hier…“, ein weiterer Stapel Pergamente wurde Brenneberg entgegen gestreckt, „ ein Rundschreiben des Kaiser an seine deutschen Fürsten. Ergänzt durch persönliche Notizen, die ich während der Reise niedergeschrieben habe. Sie dürften Euch besonders interessieren.“
Schriftliche Notizen? , dachte Brenneberg überrascht.
Er setzte sich kopfschüttelnd, blätterte die Pergamente durch, zog schließlich ein eng beschriebenes Palimpsest aus dem Stapel und überflog das Blatt. Viele der größten Herren im Lande konnten nicht einmal ihren Namen schreiben oder lesen… und dieser hier schrieb eigene Berichte, obendrein in einer sauberen, gestochenen klaren Schrift, wie sie üblicherweise nur Kleriker beherrschten?
Zögernd schob er Gandars Bericht wieder in den Stapel zurück, nahm sich stattdessen den Brief des Kaisers vor und studierte ihn schweigend.
Mein Gott, dachte Gandar, wieder nichts…
 



 
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