Das Serum

Das Serum

bin ich.
Zu meinem Leidwesen und meinem bestimmten Schicksal, dem Tod, zum Wohle der Menschheit, deren Existenz auf dem Spiel steht.
Ich mache den Unterschied, weil von Geburt an Antikörper in meinem Kreislauf „schwimmen“, die die Grundlage für einen Impfstoff liefern können, der die seit Monaten wütende Pandemie eindämmen, vielleicht sogar zum Stillstand bringen kann.
Ich wäre ein Held, womöglich über Jahre, Jahrzehnte oder vielleicht sogar Jahrhunderte hinaus besungen. Der, der mit seinen Körpereigenen Impfstoffen das Massensterben aufgehalten hat, dem seit Beginn der unheilvollen Seuche mehr als eine Milliarde Menschen zum Opfer gefallen sind.
Es besteht eine seltene, weil uneingeschränkte Einigkeit bei den Experten verschiedenster Ressorts- ein düsteres Band, das alle eint- der Mensch, einst als Krone der Schöpfung gestartet, steht vor seiner Auslöschung. Komplett und unwiderruflich.
Fieberhaftes Forschen, auch dies mit vereinten Kräften, lief alles ins Leere, jetzt stehen sie alle mit hängenden Köpfen da und suchen nach Worten für das Unsagbare. Betretene Gesichter allenthalben.
Wie sagt man dem Globus, dass er- also nicht der Planet an sich, sondern seine Intelligenzia- quasi am Rande des Großen Schwarzen Loches steht und nach und nach hineinfallen wird? Das macht keinem Spaß. Selbst dem dauergrinsenden Idioten in dem großen weißen Gebäude mit der Hausnummer 1600 nicht.
Alle sind sie in New York versammelt, im Gebäude der UNO, eine Tagung, an die man sich erinnern würde, existierte man denn noch lange genug.
Geteilte Trauer ist halbe Trauer- ein Quatsch vor dem Herren, weil es die goldene Zutat Trost nicht gibt.
Ich weiß nicht, in wie vielen Sprachen der Untergang besungen, beklagt, betrauert, verflucht wurde. Endlich ist man vereint, in allen Belangen (mit wenigen Ausnahmen, aber die gibt es immer, einige wollen oder können etwas nicht einsehen, vielleicht glauben diese Individuen, sie verlören ihr Gesicht oder etwas in der Art, nur weil sie von ihrer Linie abweichen, aber denen habe ich jetzt schon zu viel Aufmerksamkeit...)
Man ist also auf ganzer Front vereint, so kurz vor dem globalen Absprung hat es doch noch geklappt.
Man fällt sich allgemein um den Hals, weint aneinander, in den Medien, in den Straßen, Häusern, egal wo, es geschieht, wenigstens besteht jetzt der Trost, dass man in letzter Sekunde alle Unterschiede überwunden hat und gut dasteht...dastünde, interessierte sich denn irgendeine, wahrscheinlich sowieso nichtexistente außerirdische Intelligenz für uns.
Da kommt ein Bediensteter vor laufender Kamera wild gestikulierend in den Raum mit all diesen Vollversammelten in New York, brüllt etwas, das entweder die Mikrophone nicht aufnehmen oder mein Gerät nicht wiedergibt, und die Stimmung ändert sich schlagartig.
Der kleine Angestellte steht jetzt im Mittelpunkt, umringt ist er, wie von einer Meute sprungbereiter Tiger, er fühlt sich wohl auch so, ich finde, er sieht in der Kameranahaufnahme erschrocken aus, eben als befinde er sich in akuter Gefahr.
Die Hände zittern bei der Übergabe an den UNO Oberfuzzi- die UNO Oberfuzzi- Helen (wieder mal so ein Nachname, den kein normaler Europäer richtig aussprechen kann, jedenfalls stammt sie gebürtig von den Salomonen). Sie liest, stumm, die Mimik ein Wechsel verschiedenster Gemütszustände, am Ende schlägt sie die Hände vor dem Munde zusammen und sagt was, kein Ton kommt bei mir an, aber da in dem Raum bricht ein Freudentaumel los, als hätte sie verkündet, dass die Menschheit doch nicht – Verzeihung- im Arsch sei.
Aha, denke ich. Und warte gespannt, ob man denn der Weltbevölkerung verkündigen wolle, was die Delegierten dermaßen in Verzückung versetzt hat.
Aber da von Ordnung dort in diesem Saal keine Rede ist und keiner auch nur annähernd vernünftiges aus irgendjemanden heraus bekommt, scheint sich die Wartezeit hinzuziehen.
Das Telefon klingelt, auf der Anzeige seht die Nummer meines Hausarztes.
Drei Minuten später brauche ich niemanden mehr, der mich über die bizarren Geschehnisse in New York aufklärt.

Das Zerschlagen von Träumen

Vage sind die Aussichten zunächst, in den Labors müssten Tests zuende gebracht werden, ich könnte mich entspannt zurücklehnen, es sind nur meine Gene, die arbeiten müssen, ich selbst kann mir jetzt schon überlegen, was ich ins Goldene Buch der Weltgemeinschaft schreiben werde. Das sagt mein Hausarzt, klopft mir sozusagen durchs Telefon auf die Schultern, legt auf.
„Jo, also, so ein paar Milliarden Dollar, Euro, was auch immer, das empfände ich dann als echte Dankbarkeit der Weltgemeinschaft“.
Das denke ich nur, ich möchte ja gut dastehen, da fällt man nicht mit der Tür ins Haus. Die Dankbarkeit lässt man sich so auszahlen, dass man in der Öffentlichkeit wie der selbstlose strahlende Held dasteht.
Wie würde der werte Herr Fönfrisur wohl reagieren, wenn ich zur Bedingung machte, dass er keine Tweets mehr absetzen dürfe? Nie wieder, und wie die Herren Gewaltherrscher, wenn sie sofort abzudanken hätten?
Ich fühle eine ungeheure Macht, sie strömt durch mich hindurch, wie warmes Licht- ein sehr passender Vergleich, denn ich sehe mich als den Neosonnenkönig; da die Welt mir zu Füßen liegen wird, dürfte Versailles mir zufallen wie einem fleißigen Bienenstock Waben voller Honig.
Am nächsten Tag dann die Neuigkeit, dass zwei andere Personen besser geeignet sind, Humanus bla bla bla vorm Auslöschen zu bewahren.
Also doch kein Sonnenkönig, kein Diktat, wie sich manch Länderlenker fortan zu verhalten habe.
Bin ich enttäuscht? Aber ja, das ist doch, als hätte man, also ich, ein Drei-Gänge-Menü in Aussicht gehabt und als sei das in letzter Sekunde fortgerissen und durch einen lauwarmen Leberkäse ersetzt worden.
Am nächsten Tag sind die zwei in aller Munde und in allen Medien- eine Dame aus Indien, selbstredend mit einem elend langen Namen versehen, ein Herr aus Burkina Faso, Joseph Mbasi, wenigstens lässt der sich leicht aussprechen.
Sie scheinen sich einen Wettkampf zu liefern, wer denn bitte schön breiter in die Kamera grinsen könne. Nein, streichen Sie die letzte Bemerkung! Die war meinem Neid geschuldet. Er grinst breit, auch sympathisch, finde ich. Sie sieht aus wie ein scheues Reh im Volllicht eines herannahenden Vehikels.
Gegensätzlicher kann eine Gefühlswelt wohl nicht sein!
Ich könnte jetzt auch überall präsent sein, denke ich, wie bereits zugegeben, neidzerfressen.
Man errichtet den beiden schon Denkmäler- in Zeiten von Bildbearbeitung und Computergrafiken geht so was rasend schnell, selbst Laien können sich darin einen Wettstreit liefern. Und das tun sie auch.
Kein Monument, in das sie nicht eingearbeitet werden, kein Tier, keine Pflanze, das nicht mit ihnen in Verbindung gebracht wird- plötzlich ist jeder ein Künstler und es scheint eine Art unausgeschriebenen Wettbewerb der Lächerlichkeiten zu existieren- kein Grund zur Eifersucht also. Nicht in diesem Aspekt. Man muss ja auch mal für etwas dankbar sein können!
Die Forderungen, was ihnen an Gutem widerfahren solle, überschlagen sich. Materielle Güter sind noch das Geringste. Heiligsprechung, Weltpräsidentschaft, globale Ehrerbietung verstünden sich von selbst.
Ich dagegen, bin Rumpelstilzchen. Ohne das Feuer und ohne die Gefahr, mich in der Mitte entzweireißen zu wollen. Doch ich koche mein Neidsüppchen und fühle mich von aller Welt hinters Licht geführt.

Der Anti -
(Held)
(Christ)

(Retter)

Das Süppchen kocht lange und nahezu pausenlos. Ich wünschte, sie kämen angekrochen. Stünden vor meiner Türe, tränenüberströmt, die Angst und den Tod im Nacken, die Augen groß wie LKW Reifen, aus den Mündern tröpfeln die Hilferufe, während in ihrem Rücken die undankbaren Menschen wie die Fliegen dahinscheiden.
Der Fernseher bleibt aus, denn es besteht keine echte Programmwahl. Entweder die zwei Helden aus unterschiedlichen Erdteilen, immer noch strahlend (sie also inzwischen auch) und fröhlich, oder- unterste Kategorie, grenzdebiler Schwachsinn, der jemanden –mich- dazu bringt darüber nachzudenken, ob das Aussterben zumindest einiger Bevölkerungsgruppen nicht doch von Vorteil wäre.
Böse? Aber ja, und nicht vollkommen ernst gemeint. Wie käme ich denn dazu, so etwas wirklich...
Indien! Burkina Faso! UNO! Ach blast mir doch alle...
Draußen die Leute wälzen sich in einem einzigen Knäuel glückseligen Reigens, die Luft scheint erfüllt von Schmetterlingen, fröhlich zirpenden Vögeln, niedlichen Hunden, lieblichen Katzen, ein rosarotes Einerlei aus Liebe und Dankbarkeit, Zeichen der puren Erleichterung weil die allgemeine Apokalypse nun doch abgesagt ist.
Wie schnell die Leute auch außerhalb (also analog) des Computers Konterfei der beiden Helden gebastelt haben! Ganze Lieder werden über sie geträllert, Epen geschrieben, die ersten Kinder erhalten ihre Namen nach den edlen Spendern.
Für mich bedeutet Überleben- Kopfhörer auf, Musik laut aufgedreht, keine sozialen Kontakte und die Hoffnung, dass die Zeit schnell voranschreiten möge, so dass die Verehrungen abebben und ich nicht länger vom Neid regelrecht zerfressen werde.
Drei Tage dumpfes Brüten, dann eine Zäsur, die ich der globalen Bedeutung wegen nicht anders als mit dem Zusatz „Der Hölle“ zusammen verwenden kann.
Der Morgen des dritten Tages, er wirkt, als sei der Globus in ein Netz geraten, das ihn aus der guten Zone in die schlechte zurückkatapultiert hat, so muss das benannt werden.
Das Stichwort heißt „Hepatitis C“. Beide hatten es sich irgendwann eingefangen und das macht sie als Spender unbrauchbar. Da fällt man doch vom Glauben ab.
Nur Sekunden nach der Nachricht ruft der Hausarzt an. „Du bist die allerletzte Hoffnung“, flötet er mir ins Ohr und nachdem die Bedeutung klar eingesunken ist, schwellt mein Brustkorb ins Unermessliche.
Die Feierlichkeiten bleiben aber aus. Ich solle das verstehen, sagt man mir. Man wolle die Welt kein zweites Mal in Ekstase versetzen und dann in die Hölle hinab fahren lassen. Daher soll alles erst einmal im Stillen ablaufen.
Schöner Bockmist!
Im Labor bin ich der Star, aber nur vor einer sehr überschaubaren Menge. Die sich dazu noch einheitlich dick vermummt eingekleidet hat, damit nur ja kein Keim auf mich überspringen kann und ich auch noch als Spender ausfiele. Ich bin nun wirklich die allerletzte Chance für die Menschheit, sie müssen mich noch vorsichtiger behandeln als ein rohes Ei.
Das hat bekanntlich nicht sehr viel Spaß, denn es hockt da in seiner Schutzschachtel und schaut, dass es nicht zerdeppert wird. Ich liege bei angenehmer Musik- ob sie die Laborratten mögen weiß ich nicht- Alternative Rock, Progrock, Heavy Metal ist nicht jedermanns Geschmack, aber das geht mir am Allerwertesten vorbei- und versuche, die ganzen Nadeln und Schläuche und was weiß ich noch alles irgendwie zu ignorieren.
Das funktioniert nur deshalb so fantastisch, weil ich die Zukunft plastisch vor Augen habe. Kaiser der Welt, umgarnt von den Milliarden, Schutzpatron neuester Garde, der ewig besungene Held- all das, weil die zwei vormaligen, unglückseligen Heilsbringer wegen einer Kleinigkeit leider den Thron an mich abtreten müssen.
Nach Ablauf der ersten Testphase weiß ich, wie mir die Weltgemeinschaft danken kann. Eine Hymne, gesungen bei allen möglichen Ereignissen, ein Privatjet, eine Privatjacht, eine Insel- nein, mehrere, an verschiedenen Orten- Statuen in allen Hauptstädten, nun ja, die Frauen werden mir auch ohne Anweisung zufliegen. Selbstredend werde ich keine Steuern mehr zahlen und bis ans Lebensende Gast sein, versteht sich nur in den besten Restaurants. Ich bin, nach wie vor, ein sehr bescheidener Mensch.
Wie sie alle strahlen, nachdem das Resultat nur das Eine offenbart- die Rettung ist da, ich, ja ich, ich, ich, und noch einmal ich kralle mich in die Flut und reiße die Menschheit fort vom Abgrund.
Am nächsten Tag dann lassen sie mich den mir gebührenden Thron besteigen. Zunächst nur per Bild und Text, fürs Erste, das Präludium, das bereits vorzüglich schmeckt. Die Schlagzeilen gehören mir alleine, genauso wie die kompletten Social Media, am Abend sehe ich meinen Heimatort und die dort lebenden Bürger, deren Brust sich so weit nach vorne schiebt, das der Eindruck entsteht, sie selbst seien die wunderbaren Retter. Alle besingen mich, als sei ich schon immer der strahlende Mittelpunkt des Ortes gewesen, ein völliger Quatsch, aber wen interessiert das, die Hauptsache ist ja, dass ich existiere und Lucys Nachkommen dem Thanatos entreiße.
Gleich am nächsten Morgen lese ich erstaunliches aus meinem Leben, Dinge, von denen ich selbst nicht wusste, dass ich sie getan hatte. Ich frage mich, wie das vonstatten gehen mag, aber auch das fließt ein in meine allgemeine Verzückung, denn nichts kann mich betrüben. Nicht an diesem Tag, meinem ersten öffentlichen Auftritt, abgeschirmt, nun ja, weil es immer noch Fanatiker gibt, die nicht vom Fanatischsein Abstand nehmen wollen und scheinbar die Interessen irgendwelcher Gottheiten vertreten, die, obwohl sie doch Philanthropen sein müssten, komischerweise nicht an einer Heilung der Menschheit interessiert sind. Ich frage mich, ob man solche Leute beim Impfen einfach übergehen könnte, sie wollen ja praktisch aussterben, also, wozu zwingen?
Der zweite Grund ist etwas profaner, es muss ja nicht immer alles hochkompliziert sein. Selbstredend soll ich mich nicht infizieren, das würde die ganze Rettungssache gehörig in den Sand setzen.
Ein Meer aus Gesichtern schaut mich an, ich fühle mich wie ein Weltstar, umgarnt von den Millionen- Milliarden- alle Facetten an Gesichtsaudrücken sind dabei. Frauen wirken, als wollten sie auf der Stelle Kinder zeugen (natürlich nur mit ihrem Retter), Männer wirken neidisch, wahlweise eifersüchtig, manch verzücktem Konterfei könnte man entnehmen, man hielte mich für den Messias. Ich bade in den Blicken, ein wahres Wohlfühlbad, während sich mein Ego aufbläht wie ein Heißluftballon, sekündlich beult er sich mehr auf, bis er am Ende der öffentlichen Huldigung wohl die gesamte Erde in sich aufnehmen könnte.
Das Bild der Massen an Gesichtern brennt sich tief in mir ein.
Ich fühle mich schlecht und es hilft kein bisschen, die vielen bösen Menschen aufzuzählen, die im Massenexitus untergegangen sind. Das ist ja nur ein Teil, der weitaus größere Teil hatte sich anständig verhalten und meines Wissens kein bisschen verdient, als dahinrottende Haufen überall herumzuliegen.
In den Städten sind sie nicht zu übersehen, auf dem Land ist es besser. Da schaffe ich es, sie zu ignorieren. Ich könnte jetzt jede Insel in Besitz nehmen, die mir gefällt, es gibt keinen mehr, der mir das verwehren könnte.
Königshäuser, Luxusvillen, alles ist mein, ich muss nur hineingehen, aber, ehrlich- sie sind zu weitläufig für meinen Geschmack, ich fürchte mich vor allzu großen Räumen, sie bieten Versteckmöglichkeiten ohne Ende, die Paranoia wächst mit der Dauer der Einsamkeit.
Jetzt suche ich nach Überlebenden, überall, aber auch das wird mit zunehmender Dauer immer unerträglicher. Die Leichenberge stinken zum Himmel und manchmal glaube ich, Bewegungen darin wahrzunehmen.
Mein Weg durch die Welt ist gepflastert mit den Erinnerungen an die vielen Zombiefilme, die ich geschaut hatte, jetzt treiben sie mich in den Wahnsinn.
Geräusche, überall. Sie lachen, sie schmatzen, sie kriechen heran. Wollen Kinder mit mir zeugen, ihrem Retter, ach nein, sie nennen mich ja Antiretter, Antichrist gar, alles mögliche, und es ist überall dasselbe.
Ich schreie sie an, halte mir die Ohren zu, handle, weine, lege einen Pathos an den Tag, dass mir abends speiübel ist.
Das Serum bin ich. Ach was für eine riesige Scheiße!
© 2020 Peter Albra Brenner
 



 
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