Das Sonntagsfrühstück

Michael Kempa

Mitglied
Das Sonntagsfrühstück



„Sex and Drugs and Rock’n Roll!“
“Die Bässe sind zu stark”, dachte Chris.
„Außerdem ist es zu laut. Es ist fünf Uhr, das kann ich nicht bringen!“
Chris schaltete das Autoradio aus und fuhr fast lautlos mit seinem neuen Hybrid-Kombi vom Parkplatz und verließ den Wohnpark.
Kaum hatte er den Zubringer zur Autobahn erreicht, schaltete er das Radio wieder ein.
„SWR3 Verkehrsmeldungen: Guten Morgen Kinder! Das Wetter wird schön, bleibt zu Hause!
Ab Mittag werden wieder Ozon-Spitzenwerte um 450 µg pro m³ Luft erwartet. In Baden-Württemberg und...“
„Schöner Sonntag!“ Chris schob eine neue CD in das Autoradio, genoß den Sound und schaltete den Dieselantrieb zu.
Morgens um fünf konnte niemand von ihm erwarten, mit 60 über den leeren Zubringer zu schleichen.
Die rote Lampe links im Display hatte Chris völlig übersehen.
Der Hybridmotor ruckelte verdächtig, die CD flog aus dem Radioschacht und der Hybridkombi rollte auf dem langen Seitenstreifen aus.
Chris wurde es heiß und kalt.
„So, wie soll ich jetzt noch pünktlich zum Dienst kommen? Mist verfluchter!“
Wie aus dem Nichts erschien hinter den Leitplanken des Zubringers ein Mann, der zu Chris in’s Auto schaute.
„Hallo!“ Der Mann winkte freundlich und kam näher. „“Halten wird ja doch niemand! Wollen Sie nicht herkommen? Sie sehen recht hilflos aus!“
„Bin ich auch!“ Chris war den Tränen der Wut nahe. Er stieg aus seinem Kombi aus und ging auf den Mann zu, der hinter den Leitplanken auf ihn wartete.
„Na, was ist?“ Der Mann schaute Chris seltsam direkt in die Augen.
„Mein Hybrid ist im Eimer!“ Chris fand die Situation plötzlich komisch und begann zu lachen. Er musterte den Mann hinter den Leitplanken.
„Was tun Sie hier?“ fragte Chris.
„Ich bin auf der Reise, auf dem Weg zum Mittelmeer.“
„Selbstverständlich.“ Chris versuchte cool zu bleiben.
„Auto futsch, Irrer im Busch, Sonntag im Eimer, zu spät zum Dienst“, dachte Chris.
„Scheiß auf den Dienst,Chris!“, sagte der Mann. „Keine Sorge...“.
„Moment...“ Chris war geschockt. „Ein Telepath!“
„Keine Angst!“ sagte der Mann.
„Komm her! Ich habe einen guten Roten, Käse und Brot, laß uns diesen Sonntag mit einem guten Frühstück feiern!“
Chris kannte die Geschichte vom Jesus auf der Landstraße und wurde nun vorsichtshalber freundlicher.
„Nun, verlieren kann ich heute nichts mehr.“
Ein paar Meter weiter saßen sie im feuchten Gras, tranken Wein, aßen den Käse und redeten über Gott und die Welt.
Kurz darauf kugelte sich Chris lachend im Gras, mit sich überschlagender Stimme rief er:
„Du heißt Müller, Müller! Ha! Müller. Müller von der Landstraße! Das ist gut, das gefällt mir!“
Er wischte sich die Tränen lachend aus dem Gesicht.
Müller grunzte: „Arschloch!“ rülpste und ließ sich auf den Rücken in das Gras fallen.
„Burning Time over“, eine freundliche Stimme an Chris Handgelenk ermahnte, das Freie zu verlassen oder einen guten Sunblocker zu verwenden.
Chris nahm seine Uhr; im hohen Bogen verschwand sie im Gras und warnte von nun an stündlich, die Igel und Feldhasen, vor den tödlichen Strahlen der Sonne.
Chris und Müller wanderten seit Stunden.
„Warum lebst Du so?“ wollte Chris wissen.
„Ich habe meine Chipkarte abgeben müssen.“
„Du hattest kein Geld für eine private Versicherung?“
„Nein, keine Lust mehr!“
Den Rest des Tages redete Müller kein Wort.
An der Grenze konnten sie sich sowieso nicht mehr unterhalten, ständig flogen Jäger über ihre Köpfe und trugen ihre Bombenlast nach Südosten.
Chris dachte an die stillen Jahre der Konversion, als Militärflughäfen brach lagen.
Müller sprach kein Wort.
Beide begannen zu schwitzen und zu husten, die roten Augen brannten.
In der Schweiz tranken sie klares Quellwasser, schliefen in verlassenen Scheunen und verbrachten die schönsten Sommertage, die Chris je erlebt hatte.
In einer sternenklaren Nacht erzählte Müller von seinem Traum, Afrika zu durchqueren und über den Osten bis nach Japan zu gelangen.
Müller weinte in dieser Nacht, bis er eingeschlafen war.
Chris badete Tage später seine Füße im Wasser der Adria, dachte an Müller, der in der Schweiz gestorben war.
Im nächsten Augenblick vergaß er den Wunsch, seiner Frau eine Postkarte zu schicken und nahm seine Sachen, stand auf und suchte im Hafen ein Boot, daß ihn weiter nach Süden bringen würde...
 



 
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