Das Tempelgefängnis

Peethulhu

Mitglied
Das Tempelgefängnis


Der Tempel, in dem wir das Gefängnis vermuteten, war von einem andauernden Grollen erfüllt – ein tiefes, vibrierendes Dröhnen, das nicht nur den Boden unter unseren Stiefeln erzittern ließ, sondern sich wie eine unsichtbare Hand um unsere Eingeweide legte. Wir waren zu viert, ein Team von Forschern, getrieben von der Gier nach Wissen und dem Wahnsinn, der uns seit jenem Tag in den Archiven der Universität ergriffen hatte, als wir die Schrift fanden. Es war ein zerfleddertes Manuskript, gebunden in eine Haut, die kein Tier dieser Erde je getragen haben konnte, die Seiten vergilbt und fleckig, als hätte die Zeit selbst versucht, sie zu verschlingen. Darin stand von einem Gott namens Ynorr – kein Name, den die Alten verehrten, sondern einer, den sie fürchteten, ein Wesen, das in einem Tempel tief im Dschungel gefangen war, ein Gefängnis, errichtet von Händen, die längst zu Staub zerfallen waren.

Ich, Dr. Elias Hartwig, führte unsere Expedition – neben mir Dr. Margaret Kline, deren Augen seit der Entdeckung der Schrift einen fiebrigen Glanz trugen; Thomas Reed, unser Geologe, dessen Hände ständig zitterten; und Clara Voss, die Linguistin, die Ynorrs Namen als erste entziffert hatte. Wir hatten die Karte in der Schrift entschlüsselt, ein Gewirr aus Linien und Symbolen, das uns durch den dampfenden Dschungel Südamerikas führte, bis wir diesen Ort fanden – einen Tempel, dessen Wände aus schwarzem Basalt bestanden, überzogen mit Moos und Ranken, die wie Adern pulsierten. Die Luft war schwer, ein fauliger Gestank, der nach altem Blut und Salz roch, als hätten hier vor Äonen Opfer dargebracht werden.

Das Grollen begann, als wir den Eingang passierten – eine Öffnung, die kein Tor bewachte, nur ein gähnendes Maul, das in die Erde führte. Unsere Taschenlampen warfen zitternde Lichtkegel über die Wände, die mit Schriftzeichen bedeckt waren – dieselben wirren Glyphen, die wir im Manuskript gesehen hatten. Clara murmelte vor sich hin, ihre Stimme ein leises Echo gegen das Dröhnen: „Ynorr… Ynorr… Gefangener der Tiefen…“ Ich wollte sie zum Schweigen bringen, doch meine Kehle war trocken, als hätte der Tempel selbst die Worte aus mir gesaugt.

Wir stiegen hinab, die Stufen glitschig unter unseren Füßen, als wären sie mit etwas Lebendigem überzogen. Das Grollen wurde lauter, tiefer, und Thomas hielt sich die Ohren zu, seine Augen weit aufgerissen. „Das ist kein Erdbeben“, flüsterte er, „das ist… etwas anderes.“ Ich wollte ihn beruhigen, doch die Wahrheit nagte an mir – dies war kein natürlicher Laut, sondern ein Puls, ein Atem, der aus den Eingeweiden des Tempels kam. Margaret ging voraus, ihre Taschenlampe tanzte über die Wände, und dann sahen wir es: eine Kammer, riesig und kreisrund, deren Boden mit einem Muster aus konzentrischen Ringen bedeckt war, in deren Mitte ein schwarzes Loch klaffte – ein Schacht, der in eine Dunkelheit führte, die kein Licht zu durchdringen vermochte.

„Das Gefängnis“, hauchte Clara, und ihre Stimme brach. Die Schrift hatte es beschrieben: Ynorr, der Gefangene, ein Gott, der nicht verehrt, sondern verbannt worden war, eingeschlossen von jenen, die seine Macht fürchteten – eine Macht, die Welten zermalmen konnte, die Sterne verdunkeln, die Zeit selbst zerreißen. Doch die Schrift warnte auch: Das Gefängnis war schwach, die Ketten brüchig, und die, die es wagten, es zu betreten, würden seine Wärter werden – oder seine Beute.

Das Grollen schwoll an, ein Ton, der unsere Schädel zum Vibrieren brachte, und dann sah ich es – ein Flimmern in der Dunkelheit des Schachtes, ein grünschwarzes Leuchten, das sich bewegte, als wären es Tentakeln aus Licht und Schatten. Margaret trat näher, ihre Hände zitterten, als sie das Manuskript hervorholte und Worte murmelte, die sie aus den Glyphen entziffert hatte: „Kth’nar… Vhul’gresh… Ynorr erwache…“ Ich schrie sie an, aufzuhören, doch meine Stimme ging im Dröhnen unter, und Thomas fiel auf die Knie, Blut tropfte aus seiner Nase, als hätte der Klang seine Adern gesprengt.

Die Luft wurde schwerer, ein Druck, der uns niederdrückte, und aus dem Schacht erhob sich etwas – kein Körper, sondern eine Präsenz, eine wabernde Masse aus Dunkelheit, durchzogen von Augen, die wie Sonnen brannten, und Mündern, die gurgelten und zischten. Es war kein Gott im menschlichen Sinne, sondern etwas Älteres, etwas, das vor den Göttern war, ein Ding aus der Leere zwischen den Sternen. Ynorr. Die Tentakel schossen hervor, nicht aus Fleisch, sondern aus Rauch und Licht, und wickelten sich um Margaret, die nicht schrie, sondern lachte – ein Lachen, das zu menschlich war, um echt zu sein, ein Echo dessen, was sie einst gewesen war.

Clara taumelte zurück, ihre Hände griffen nach mir, doch ich konnte nicht bewegen, gefangen in einem Bann, den ich nicht verstand. Thomas lag reglos, sein Körper ein Häuflein Elend, während die Tentakel sich weiter ausbreiteten, die Wände hinaufkrochen, die Glyphen zum Leuchten brachten. „Wir hätten nicht kommen sollen“, flüsterte Clara, doch ihre Worte waren leer, verschluckt von einem Chor aus unheiligen Stimmen, die nun aus dem Schacht drangen: „Ynorr… Ynorr… Frei…“

Ich fühlte, wie mein Verstand bröckelte, wie Bilder in mich eindrangen – sterbende Welten, Meere aus schwarzem Feuer, und Ynorr, der über allem thronte, ein Gott, kein Gefangener mehr, sondern ein Jäger. Die Schrift hatte gelogen – oder wir hatten sie missverstanden. Das Gefängnis war kein Käfig, sondern ein Tor, und wir waren die Schlüssel, die es geöffnet hatten. Die Tentakel griffen nach mir, kalt und glitschig, und ich spürte, wie sie in mich eindrangen – nicht in meinen Körper, sondern in meinen Geist, meine Seele, und mich aushöhlten.

„Lauft!“ schrie ich, doch meine Stimme war nicht mehr meine, sie war ein Gurgeln, ein Zischen, und Clara fiel, ihr Körper zuckte, als die Dunkelheit sie verschlang. Das Grollen wurde zum Triumphgeheul, der Tempel erbebte, und die Wände begannen zu reißen, als würde die Erde selbst sich gegen Ynorrs Freiheit wehren. Ich drehte mich um, stolperte die Stufen hinauf, doch die Tentakel folgten, und das Leuchten brannte sich in meine Augen. Ich fiel, kroch, und als ich den Eingang erreichte, sah ich den Dschungel – doch er war nicht mehr grün, sondern schwarz, verdorrt, als hätte Ynorr bereits begonnen, diese Welt zu verschlingen.

Ich weiß nicht, wie ich entkam – die Stunden danach sind ein Nebel aus Schmerz und Wahnsinn. Doch als ich zurückblickte, war der Tempel verschwunden, verschluckt von der Erde, und das Grollen war verstummt. Aber ich höre es noch – in meinen Träumen, in der Stille, ein Flüstern, das mich ruft: „Ynorr… Wirt… Komm zurück…“ Und ich weiß, dass ich nicht entkommen bin. Ich trage ihn in mir.
 



 
Oben Unten