Das unbesiegbare Lächeln

Als ich zum ersten Mal in meinem Leben Nordlichter sah, war ich gerade sechs Jahre alt geworden. Mein Freund - fast vier Jahrzehnte älter als ich und seit meiner Geburt Teil meines Lebens - nahm mich mit in den Garten, hob mich auf einen der Heuballen neben dem Kuhstall und breitete eine Decke über uns aus. Wie gebannt starrten wir hoch in den Himmel, wo sich ein breites Band aus grün und gelb in sanften Wellen über das Firmament schlängelte. Ich war ein Winterkind, und jene Nacht so kalt wie die dunkle Seite des Mondes.
Während er mir erzählte, dass die Nordlichter Spiegelungen auf den Schildern der Walküren seien, die den gefallenen Kriegern den Weg nach Walhall wiesen, schmiegte ich mich an ihn und lauschte gebannt seinen Worten. Die Stimme, mit der er seine Märchen in diese Winternacht schickte, klang anders als sonst – so, wie ich sie in meinen allerersten Erinnerungen wiederfand: Rau und grob wie ein spitzer Stein, der eben erst an einem Flussbett zu liegen gekommen war. Im Lauf der Jahre war sie immer voller und runder geworden, als ob die Kraft des Wassers den kantigen Kiesel glattpoliert hatte. Bald fand ich den Grund dafür: Er, der sich selten aus der Ruhe bringen ließ, verlor an diesem Tag jedes Mal den Faden, wenn er einen Blick zu der Silhouette warf, die in einem der schwach erleuchteten Fenster des Hauses stand.
Selbst als die Nordlichter erloschen waren und obwohl mir entsetzlich fror, saß ich noch regungslos neben ihm und tat nichts, als seinen Atemzügen zu lauschen. Ich wusste, dass dieser Moment ein besonderer war. Einer, den er genauso genoss wie ich. Solange ich ihn atmen hörte, war die Welt in Ordnung und wir frei von der Gestalt im Fenster, die auch meinen Geist mit Abscheu füllte.
Aus dem inständigen Wunsch hinaus, eben jene Silhouette für immer hinter uns zu lassen, flüsterte ich mit klappernden Zähnen jenen Satz, von dem ich wusste, dass er ihn mindestens so sehr fürchtete wie ich: „Lass uns von hier fortgehen.“
Er stellte den Kragen seiner Jacke auf, die er um mich gelegt hatte und zog mich zu sich, um mich aufzuwärmen. Der Duft nach Seife, warmer Erde und würzigem Heu stieg mir in die Nase.
„Wohin?"
„Irgendwohin."
„Das geht nicht. Das weißt du."
Ach, ich wusste gar nichts! Ich verstand nicht, warum es nicht möglich sein sollte, unser Zuhause zu verlassen, das wir beide so fürchteten, wenn es im Himmel sogar Walküren gab, die tapfere Kämpfer dem Paradies zuführten. Und mein bester – und einziger – Freund auf der weiten Welt war selbstverständlich einer jener Krieger, also warum konnten sie ihm nicht auch den Weg an einen anderen Ort weisen? Ich würde ihm folgen, wie ich es mein gesamtes bisheriges Leben lang getan hatte.
Er schüttelte den Kopf. In seinen Zügen lag eine solche Endgültigkeit, dass mir schlagartig eine Tatsache klar wurde: Wir würden niemals woanders sein als hier. Ich würde mein Leben lang in dem Zimmer mit der Blümchentapete und den weißen Gardinen mit den roten Seitenteilen aufwachen und er in einem mit gekalkter Wand, brüchigem Putz und einem nackten, zugigen Fenster.
Aber wenigstens würden wir für immer zusammen sein.
„Du würdest es doch versuchen?", flüsterte ich. "Wenn du könntest. Du würdest doch einen Weg finden? Für mich?"
Er sah mich an, als hätte ich ihm ins Gesicht gespuckt. „Wie kannst du daran zweifeln?", murmelte er so leise, dass ich ihn kaum verstand. Er stand mit einem müden Seufzen auf, faltete die Decke zusammen und reichte mir das Bündel. „Hat er dir diesen Floh ins Ohr gesetzt?", er nickte zum Haus hinüber.
Mein Blick folgte seiner Geste und blieb am erleuchteten Fenster hängen. Ich zögerte, zuckte mit den Schultern. „Nein. Ich dachte nur ..."
„Dann ist ja gut."
Er lehnte sich auf seinen Stock, wippte auf dem linken Bein vor und zurück, wie er es immer tat, wenn er lange gesessen war und bedeutete mir, ihm zu folgen. Es war zwecklos, ihn zu bitten, noch länger hier draußen zu bleiben. Wir beide wussten, wie spät es war. Wir beide kannten die Regeln, nach denen wir lebten, die Uhrzeiten, die Etikette. Weder er noch ich wollten riskieren, dass sich die Silhouette hinter dem Fenster bemüßigt fühlte, sich nach draußen zu bewegen, weil wir fünf Minuten zu spät kamen. Solange diese Gestalt aussah wie ein Scherenschritt, war sie kaum real. Mehr wie ein Fabelwesen, über dessen Existenz man mutmaßte und weniger wie ein echter Mensch. Weniger wie mein Vater.
Mein Blick huschte zum Fenster, in dem allmählich der Schirm der Öllampe zu erkennen war, die auf dem Fensterbrett stand.
„Sei mir nicht böse", flüsterte ich, während ich darauf achtete, meine Schritte groß genug zu machen, um im selben Rhythmus zu gehen wie er. Das war einfach, denn er ging schlecht.
Er drückte meine Hand, aber er lächelte nicht. „Du machst dir zu viele Gedanken, mein Junge."
Als sich die Gestalt im Fenster erhob, blieb er abrupt stehen. Er, der nicht ein einziges Mal von der Kälte gezittert hatte, erbebte. Wartete auf weiß Gott was.
Ich klammerte mich an seinen Unterarm. „Lass uns ausnahmsweise gemeinsam gehen." Ich sprach es aus, obwohl wir abends nie gemeinsam die Küche betraten. Immer bestand er darauf, der erste zu sein. In den allermeisten Fällen sah ich ihn wenig später beim Abendessen an seinem Stammplatz an unserem schäbigen Holztisch wieder, direkt neben der Haushälterin, die Schalen mit Pastinakenpürree für uns drei befüllte, während Vater ein paar Meter den Gang hinunter mit Hirschragout, Rotwein und Trüffeln tafelte. Aber manchmal – und das war es, das ich mehr fürchtete als die Summe meiner Alpträume, Monster und Schlangen – manchmal verschwand er für Tage oder Wochen. Und wenn er dann zurückkehrte von diesem Ort, von dem ich weder wusste, wo er sich befand, noch es wissen wollte, war ihm immer ein Stück von sich selbst abhandengekommen. Das sah und hörte ich ihm an, denn dann hielt mich sein Blick kaum fest, er wechselte kein Wort mit mir und starrte Stunden am Stück auf eine Zeitung aus dem Vormonat, ohne sie zu lesen.
Wenn er sich dann nach einer Weile erfangen hatte, tat er stets so, als wären diese Dinge niemals und als könnten sie auch nicht geschehen. Er war so überzeugend darin geworden, dass ich das, was ich Zuhause sah und hörte, oft genug für schreckliche Blüten meiner Fantasie hielt. Für Hirngespinste eines kleinen Jungen, der mit einer abstrusen Geschichte von einer Fehde zwischen seinem Vater und dessen Hausdiener Abenteuer in sein langweiliges Leben brachte. Vater war doch ein rechtschaffener, pflichtbewusster Mann, der die Angestellten seiner Firma und sein Personal ordentlich entlohnte und behandelte. Vater war ein guter Mensch. Ich als sein Sohn war es doch auch. Warum also stellte er jemanden als Diener an, für den er, so raunte eine heisere Stimme in der Tiefe meines Kopfes jede Nacht an der Schwelle zum Schlaf, nichts weniger als blanken Hass empfand?
Mein Freund schmetterte meine Bedenken auch heute ab, indem er behutsam meinen eiskalten Griff von seinem Arm löst und das Kinn reckte: „Was wäre der tapferste Krieger ohne seinen Gegner?"
Ich stellte mir die Fältchen in seinen Augenwinkeln um die warmen braunen Augen vor, die die Nacht längst verschluckt hatte, und dass er mir zuzwinkerte, bevor er erhobenen Hauptes über die Schwelle schritt. An jedem anderen Abend hätte ich mir Sorgen um ihn gemacht. Heute aber lag ein unbesiegbares Lächeln in seinen Worten.
 



 
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