Das zweite Gesicht

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Tenebros

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Das zweite Gesicht - Prolog

Das 19. Jahrhundert, es war gezeichnet vom Rauch der Schornsteine industrieller Herrschaftsstaaten.
Von einem erneuten Entflammen der kolonialistischen Regime um die Macht nach den letzten verbliebenen Flecken auf der Welt, welche noch keine Berührung mit dem materiellen Zeitgeist der herrschenden Rasse hatten.
Und einer unsagbaren Massenarmut der kleinen Leute, welche zu Tausenden in den Feuern der Werke der reichen Obrigkeit verbrannt wurden.
Neben all diesen Leiden, welche uns allen heutzutage bekannt sind, über welche offen geredet wird.
Gab es schicksalshafte Leiden, welche einige Seelen dieser Zeit erdulden mussten. Menschen, die damals nicht als solche bezeichnet wurden und ärmer gehandelt wurden, als Tiere.
Ich spreche an, dass Dasein der sogenannten „Freaks“. Die meisten unter ihnen verarmt und ausgestellt in gleichnamigen „Freakshows“, gezeichnet von Deformitäten, Behinderungen und eben diesen … Schicksalen.
Es wäre ein Leichtes, diese Menschen erneut vorzuführen, Ihre Namen in diese Zeilen zu tragen und die „Freakshow“ fortleben zu lassen. Aber was unterscheidet uns dann von den Menschen, den Tieren jener Zeit?
Stattdessen wenden wir uns ab, von den gänzlich historischen Tagen und blicken auf eine schemenhafte Legende selbigen Zeitalters. Oft umgedichtet, niemals bewiesen.

Das zweite Gesicht

Ein junger Mann, entsprungen aus guten englischen Hause, sitzt bei dem letzten chirurgischen Arzt des Landes, welchem er sich noch anvertrauen kann.
Aus jedem Ärztehaus und Spital wurde er verbannt, denn er trägt ein Geheimnis in seinem Kopf, welches dem menschlichen Geist zu schrecklich erscheint.

,,… Und Sie sind der festen Meinung, dass der Leibhaftige in Ihrem Geiste innewohnt, dies grenzt an reine Idiotie?!“
,,Wenn ich nur der Meinung wäre, dann wäre die nächstgelegene psychiatrische Klinik meine erste Wahl gewesen. Schließlich sind Sie nicht der erste Doktor, welchem ich mein Geburtsleiden berichte. Was mich allerdings noch mehr verfolgt als die Stimmen aus meinem Kopf, sind die Heilkundler, welche mich von vornherein bei meiner bloßen Vorstellung des Wahnsinns bezichtigen."
,,Schon gut, ich möchte Ihnen nicht Ihre Mündigkeit absprechen.“ Zeigen Sie mir die Quelle Ihres Spaltungsirreseins. „Sollte sie tatsächlich physischer Natur unterliegen, so sollte diese doch zu entfernen sein.“

Der junge Mann dreht sich langsam um und erbittet die Durchsicht des Chirurgen, welcher die schulterlangen, dunkelbraunen Haare beiseite legt.
Seine Hände werden starr, die Haare in der Hand, der Blick nicht möglich abzuwenden, von dem Hinterkopf des jungen Mannes. Erst nach einigen Sekunden und dem Erstarren seiner Gefühlswelt, bricht dieser sein Schweigen und wird hektisch.
„Bitte drehen Sie sich um, ich bringe Ihnen Ihren Mantel.“ „Wir können leider nichts für Sie tun. Der Einzige, der Ihnen helfen kann, ist Gott persönlich.
Es tut mir so leid.“ „Möge der Herr Sie schützen.“

Auf die Straße gesetzt, so geht die Reise des Mannes weiter, genauso wie sie begonnen hat. Doch scheint jegliche Hoffnung nun endgültig dahin.
Die Haare gerichtet, den Zylinder auf dem Kopf platziert, so geht er auf dem Kopfsteinpflaster durch die Straßen von London und auf zu seinem Heim.
Spürend die Hitze in seinem Nacken durch die Wärme eines englischen Sommertages, gut gekleidet, doch viel zu warm in seinem schweren Mantel und dem Zylinder.
Trägt er dies doch nur, um zu verstecken seine Schmach.
Die Straßen, gefüllt von Menschen und Pferden, welche sich ihren Weg durch eine viel zu schnelllebige Stadt bahnen.
Eine Kehrigkeit, ein Drengeln und ein ständiger Lärm begleiten seinen Kummer.
Eine Situation, welche er sonst meiden würde, in einem Sturm aus Verzweiflung aber gleichgültig schien.
So musste es an diesem Tag auch noch geschehen, dass eine Schar hektischer Menschen an ihm vorbei eilt, ungeachtet dessen, dass die Straßen viel zu überfüllt sind und den jungen Mann mit einer ungeahnten Wucht zu Boden wirft.
Alle Beteiligten liegen auf den heißen Steinen, den Zylinder vom Kopf gerissen und einige Meter weit weg geschleudert.
Voll Entsetzen bemerkt er dies, springt auf und drängt sich unter den Rufen einiger Passanten schnellstens zu seiner Kopfbedeckung.
Diese erreicht, beginnen zwei Frauen hinter ihm histerisch aufzuschreien.
,,Was bist du, Dämon? ,Du abartige Kreatur!“

So gleich bildet sich eine Scharr von Schaulustigen herum, um den jungen Mann, der nichts tun kann, als aufzustehen, zwei Personen beiseite zu stoßen und halb rennend, halb stürzend seinen Weg in Richtung des Heimes zu bahnen.
Sobald er sich umschaut, sieht er nichts als Menschen; eine Masse, die ihm hinterherblickt und schreit, sowie vier Männern, welche ihm dicht nachrennen.
Das Haus erreicht, bittet er um zügigen Einlass, welcher ihm gewehrt wird.
Die letzte Bedienstete, welche dem Mann neue Treue schwört.
In schwarzen Kleidern und weißer Kittelschürze gekleidet, öffnet hastig die Tür, zieht den jungen Mann am Arm und tritt hinaus vor die Tür. Sie schreit den beiden Männern entgegengerichtet; „Elendes Gesindel verschwindet, ist es euch nicht zu wieder, die Ehre meines Lords zu beschmutzen.“ „Zieht von Dannen, oder die Garde wird Unterrichtung ereilen.“
So ziehen die Verfolger beschämt ab und allmählich wird es still vor dem Haus.

Der junge Mann stützt sich noch auf seine Oberschenkel ab, nach Luft schnappend und sich bedankend bei seiner Bediensteten. Einer Frau im betagten Alter, mit einem durchweg grimmigen Blick, aber dem Herz am rechten Fleck.
Sie möchte wissen, was über den Tag geschehen ist und ob der Chirurg eine bessere Prognose stellen kann als jeder andere Arzt des Landes.
Seine Antwort fällt dürftig aus; „Es gibt keine Heilung, es scheint, als sei ich allein auf die Gnade Gottes angewiesen, wobei ich glaube in ewige Ungnade gefallen zu sein.“ „Bitte seht es mir nach.“ „Allein sein ist, wonach mir an diesem restlichen Tage zu Mute ist.“ „Ihr seid freigestellt und ich wünsche mir, euch am frühen Morgen wieder zu blicken.“
Sie nickt und macht sich zum Aufbruch bereit.
Der junge Mann geht durch den Eingangsbereich seines Hauses, welches er vor einigen Jahren durch den plötzlichen Tod beider Elternteile erbte.
Ein Anwesen, welches eines Lords würdig ist; Außen der Altbau, angelehnt an die Ästhetik des Barok und modernisiert im Inneren mit imperialistischer Architektur. Blaue, mit goldenen Ornamenten verziehrte Tapeten ziehren die Wände des Heimes, die Möbel aus feinstem Holz kunstvoll gefertigt.
Und doch geht er durch keinen Palast, er geht durch einen Gang in seinem eigenen Gefängnis. Das Heim, das er nur selten wagt zu verlassen. Bestenfalls im Schutze der Nacht um einen vertrauten Pfarrer zu erreichen.
Vorbei am Esszimmer, denn Hunger verspürt er heute keinen mehr, vorbei am Musikzimmer, denn an Klängen erfreut er sich schon längst nicht mehr.
Die breite Treppe herauf zu seinem Gemach. Auf welcher er seine Ahnen kunstvoll als Ölgemälde dargestellt erblickt.
Er hält kurz inne, als er das Bild seines Vaters sieht. In adretter Uniform, mit gezwirbeltem Bart und kurzen geflegtem Haar.
Der übliche Gedanke überfällt ihn in jenem Moment; Eine Schande muss ich doch sein, ein Stück Dreck, welches dieses Haus mit seiner Anwesenheit beschmutzt.
Einige Stunden mussten es sein, in welchen er katatonisch vor dem Bild des Vaters stand. Erst jetzt beginnt er, sich zu regen, und geht hinein in sein Gemach, heran an das Fenster mit direktem Blick auf die Kirche.
7 p.m., und wieder neigt sich ein Tag im Leben des jungen Mannes dem Ende zu, welcher jetzt erst realisiert, wie endgültig er sich seinem Schicksal ergeben muss.
Er hält dem angestauten Druck nicht mehr stand.
Erste Tränen laufen über seine Wange, während er beginnt, Zylinder und Mantel auf die Garderobe zu hängen.
Die Tränen laufen weiter, herab an Hals, hinab zu Boden. Bevor er in einem Schwall aus diesem zusammenbricht.

Gleichzeitig beginnt ein leises Raunen an seinem Kopf, welches langsam zu einem krazenden Lachen mutiert.
Ein Lachen aus vollster Kehle, verbunden mit den Schluchzen und Wehen des jungen Mannes. Ein unwillkürliches Schauspiel, dem Mann nicht unbekannt.
Er blickt in einen großen verzierten Spiegel, nimmt sich den Handspiegel zur Rechten und positioniert ihn so, dass er seinen Hinterkopf erblickt.
Er schreit lauthals auf, als er wieder das Gesicht auf seinem Haupt erblickt. Es lacht ihn lauthals aus, so laut, dass der junge Mann sich die Ohren zuhalten muss.
In seiner Verzweiflung greift er nach dem Gesicht an seinem Hinterkopf und drückt ihm mit der Hand den Mund zu. Worauf dieses erst einmal verstummt. Große, herausstehende Augen blicken ihn durch den Spiegel an.
Sie blinzeln ihm hämisch entgegen, bis er einen Schmerz an der Hand spürt und diese wegzieht.
Eine tiefe Bisswunde ziert diese nun und das herunterlaufende Blut lässt ihn erneut verzweifeln. Er legt sich auf das Bett und drückt ein Kissen auf das zweite Gesicht, bis dieses endlich verstummt.
Doch weiß er genau; Tot ist es nicht, hat er es doch schon zu oft versucht.
Es regeneriert sich stets von Neuem und wird wohl erst gehen, wenn der Wirt selbst gegangen ist. So zumindest vermuteten es die zahlreichen Chirurgen.
Den Spiegel nimmt er sich nun erneut zur Hand, stellt sich wieder vor den Spiegel und schaut den Schädling noch einmal genau an, so wie er es fast täglich tut.
Es wirkt auf ihn grausam und skurril. Wie gut kann er dann jeden verstehen, welcher über ihn urteilt und als Monster versteht.
Ist ihm doch selbst das zweite Gesicht zu leid, welches ihm angeboren.
Er berührt es mit seiner Hand, es fühlt sich glatt an wie das seine, jedoch komplett haarlos. Auch ist es etwas schmaler und wirkt eingefallen.
Seid er denken kann, beeinflusst es seinen Alltag. Nicht nur durch dessen Optik, auch hegt es eigene, gegensätzliche Emotionen; Es weint, wenn er lacht, es spricht, wenn er schweigt, es singt, wenn er schläft.
Der Pfarrer glaubt an einen Dämon, welcher in den Leib seiner Mutter eindrang, während diese mit ihm trächtig war.
Allein das Leiden des jungen Mannes ist laut diesem das, was dem Dämon Freude schenkt.
Zu viel... es ist einfach zu viel...
Die letzten Gedanken, bevor er die Ruhe ausnutzen möchte und sich schlafen legt.

Die Dunkelheit ist bereits in jede Spalte des Zimmers gekrochen, als der junge Mann aufwacht.
Er vernimmt das schmatzende und wimmernde Geräusch seines parasitären Zwillings, welches ihm nun in gewohnt vulgärer Manier entgegenflüstert; „Aufwachen, aufwachen, du dumme Drecksau.“ Ist es nicht schön, wir werden bis zum Ende deines verdammten Lebens zusammen sein. „Ich werde jede einzelne Sekunde mit dir genießen, mein Liebling.“
Eine Kälte umschließt den Wirt, er beginnt unaufhörlich im Bett zu zittern und beschließt aufzustehen.
Nimmt sich einen Kerzenhalter vom Tisch und wandelt durch den Raum.
Währenddessen spricht ihm das Gesicht undenkbare Abartigkeiten zu und es scheint, als wäre es nun bereit, das Leben des jungen Mannes entgültig zu dominieren.
„Dein Leben soll in Scherben liegen. Ich werde dein Gott sein, du hast lang genug als ausführende Kraft über unseren Körper geherrscht.“ „Ich werde dich führen!“

Der Mann stürzt panisch aus dem Gemach, geht die Treppe herab, bis er das Gleichgewicht verliert und die Stufen herabstürzt.
Von Schmerz gepeinigt kommt er wieder auf die Beine, begleitet vom Lachen des Gesichtes. Hass steigt in den Mann auf, und so schleift er sich den Speißeraum, nimmt sich ein Messer und schneidet in das invasive Gesicht. „Du dämlicher Bastard“, beginnt es zu schreien, was die Schnitte nur tiefer werden lässt.
Der Mann verspürt denselben Schmerz wie der Schädling und bricht die Prozedur ab.
Bis dieses erneut beginnt, sich über sein Vorhaben zu echoffieren. ,,Töte mich doch, du Schwein! „Aber du weißt, ich komme wieder!“
Er stürmt in das Musikzimmer, reißt die Tür auf, nimmt sich den Colt von der Wand und hält diesen an die Stirn seines korrumpierten Zwillings. „Drück doch ab, zu Feige bist du, du pathetische Geißel …“

Blut ziert die blaue Tapete, als die Bedienstete am nächsten Tag zu ihrem Dienst erscheint; Ein Chaos im gesamten Haus, das sie erblickt. Und im Musikzimmer der leblose Körper des verstorbenen jungen Mannes.
Kein Gesicht, welches mehr erkenntlich. Endlich befreit von der Plage seines zweiten Gesichtes, endlich im Frieden mit sich selbst.
Der junge Mann wurde noch am nächsten Tag in Begleitung seiner Vertrauten an der heimischen Kirche beerdigt.
Namenlos und ohne Gesicht.
 

Eulengeloet

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Eine gute Idee! Und auch gut umgesetzt. Historische Geschichten verlangen immer nach einer Art Recherche, deshalb finde ich den Prolog hilfreich.
 



 
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