Das zweite Gesicht

3,00 Stern(e) 1 Stimme

Anders Tell

Mitglied
Das zweite Gesicht

Ein Mann geht durch die dunklen Straßen der Vorstadt. Er ist ein großer dürrer Mann. Seine zerschlissene Kleidung schlackert um seine knochigen Glieder wie bei einer Vogelscheuche. Den Gürtel für die viel zu weite Hose hat er durch eine Kordel ersetzt. Die Schuhe, aus denen die Zehen heraus schauen, sind mit Wäscheleine an der Sohle festgebunden. Der nahende Frühling hat die Kälte des langen harten Winters noch nicht vertreiben können. Seine Schritte sind ohne Kraft. Nur der feste Blick zeugt von Entschlossenheit. Dieser feste Wille hat ihn bis hierher gebracht.
Das dunklen Haare sind streng nach hinten gekämmt. Links von der Mitte läuft eine fingerdicke, eisgraue Strähne bis zum Nacken. Er geht über die große Kreuzung auf die Straße zu, die zu seiner Wohnung führt. Vorbei an den vertrauten Geschäften. der Wäscheladen, der Bäcker und der Zeitschriftenkiosk auf der anderen Seite. Ja, er ist ein Heimkehrer. Jetzt wo er das hohe Eckhaus schon vor sich sieht, beschleunigt sich sein schleppender Gang. Das Haus steht noch, welches Glück. Noch befindet er sich auf der anderen Straßenseite. Er hält inne. An der Bushaltestelle setzt er sich und zündet die Zigarette an, die er für diesen Augenblick aufgespart hat. Der kräftige Tabak lässt kurz seine Sinne schwinden. Und er glaubt, dass ihm diese nur vorgaukeln, es geschafft zu haben. Er ist zurück. Noch nicht angekommen und daheim.
Erst jetzt hebt er seinen Blick zum ersten Stock. Im Erkerfenster brennt kein Licht. Die Mädchen werden schon schlafen, denkt er. Wecken möchte er sie nicht. Wo seine Frau sein wird, ahnt er. Und so lenkt er seine Schritte nach links in die Seitenstraße zur Wohnung seiner Schwägerin. Sie ist schwer herzkrank und wenn sie einen Anfall hat, wachen ihre Geschwister abwechselnd bei ihr durch die Nacht.
Einer ist nach langer Flucht aus russischer Gefangenschaft heimgekehrt. Eine Szene, wie sich überall und fast täglich in diesen Jahren ereignet haben wird. Ungewöhnlich an der Geschichte dieses Heimkehrers ist die herzkranke Schwägerin, die diese Ankunft exakt so vorhergesehen hat. “Der Lutz kommt wieder zurück aus dem Krieg,” sagte vor Wochen zu ihrer Schwester. “Aber er geht nicht zuerst zu Dir, sondern zu einer anderen Frau.” Setta, so nannten alle die Hellsichtige, hatte mit ihren Voraussagen oft richtig gelegen. So auch mit dieser Prophezeiung. Tatsächlich war Lutz erst zu seiner Schwägerin gegangen.
Diese kleine Erzählung von der wahrsagenden Setta wurde immer wieder vorgetragen, wenn das Gespräch auf solche Themen kam. Peter, Ludwigs und Luises achtjähriger Enkel hörte sie bereits zum zweiten mal. Und wieder hängte die Oma die Bemerkung an: “Ja unser Setta, die hatte das zweite Gesicht.” Die Oma sprach Zuhause meist Platt und hatte für die verschiedensten Dinge ungewöhnliche Namen. Aber bei diesem zweiten Gesicht wurde Peter ganz mulmig. Er hatte die Großtante nicht mehr kennengelernt und hatte auch nie ein Foto von ihr gesehen. Das erste Gesicht war ihm nicht vertraut. Dass sie nun neben diesem eigentlichen Gesicht ein zweites hervorbringen konnte, mit dem sie Ereignisse in der Zukunft sehen konnte, fühlte sich für ihn sehr unbehaglich an. Auch das mit dem Krieg und der Heimkehr des Opas blieb ihm zunächst unverständlich. Was war ein Krieg und wo war der Opa in der Zeit gewesen?
Als er älter wurde, verstand er etwas mehr, was geschehen sein könnte. Der Opa erzählte einmal die Geschichte seiner Flucht. Er hatte das Gefangenenlager unter Gefahr für Leib und Leben verlassen. Dort wäre er sonst verhungert. Sehr schnell hatte er sich von der verhassten Uniform getrennt, weil besonders seine mit den verräterischen Runen zur erneuten Gefangennahme oder womöglich zur Erschießung geführt hätte. Von einer Wäscheleine hatte er Zivilkleidung gestohlen und mit weißer Farbe “PW” auf die Jacke gemalt. Dann war er über hunderte Kilometer nach Hause gelaufen. Von allem, was davor - im Krieg - geschehen war, sprach er nie. Peter fragte nicht. Er kannte den Opa gut genug, um zu wissen, wann dieser nicht antworten würde.
Die Oma erzählte auch sehr wenig vom Krieg. Nur dass sie bei Fliegeralarm im Bunker immer entsetzliche Angst gehabt hätte und dass sie im Luftschutzbunker die erste Zigarette geraucht hätte. Viel häufiger sprach sie von der “schlechten Zeit”. Wie sie auf Hamsterfahrt gegangen war und Seife und andere begehrte Sachen gegen Speck und Kartoffeln getauscht hatte. Von den Luftangriffen und deren Folgen redete sie nicht. Auch nicht davon, dass eine ihrer Nichten bei einem Volltreffer auf den Bahnhof in Stücke gerissen wurde. Peter fand nicht heraus, ob sie ihn und seine Brüder vor den schrecklichen Erlebnissen bewahren wollten oder ob sie selbst dieses Grauen einfach vergessen wollten. Seine Mutter, die im Krieg noch ein Kind gewesen war, hielt mit ihren Erinnerungen weniger zurück. So sagte sie, dass der Opa sich niemals zu den Waffen gemeldet hatte. Als die Oma und die Kinder im Hessischen evakuiert waren, hatte der Opa sie dort besucht. Er sollte sich beim Landratsamt melden und war sofort mit der Uniform der Waffen SS eingekleidet und an die Front geschickt worden. Der Opa war gegen das Regime und hatte sogar den Deutschen Gruß verweigert. Besondere Greuel oder traumatische Erlebnisse hatte sie nicht in Erinnerung
Als Peter die Schule verließ, war die Erinnerung an den Krieg und an die Schlimme Zeit bei den Großeltern fast verblasst. Vielleicht hätte er fragen sollen. Doch sie schienen mit ihrem Vergessen glücklicher zu sein.
Immer, wenn das Gespräch sich mit Hellsehen und Wahrsagerei beschäftigte, holte Peter Tante Settas Geschichte hervor. Er freute sich, das Unbehagen von damals im Blick seiner Zuhörer wieder zu entdecken. Tante Setta grüßte aus der
Vergangenheit als hätte sie einen Streifen der Ewigkeit erworben.
 



 
Oben Unten